Stephan Anderson

Stadtflucht


Скачать книгу

ihn mitgebrachte exotische Mahl her. Während er das dritte Stück genüsslich verschlang, wurde er durstig und genau da streifte eine Dose Diät-Cola sein Blickfeld, die inmitten des Gerümpels auf seinem Tisch stand und als Begleitung zur Pizza diente. „Was soll das denn?“, dachte er sich. Aber wie der Hunger zuvor, machte nun der Durst, beim traditionellen Ulman, so gut wie alles möglich. Der Käse glitt über seine knöchrigen, dünnen Finger und immer wieder flogen Fleischteile auf den desorganisierten Arbeitsplatz. Biss um Biss genoss er das, ihm so befremdliche Essen und schlürfte dazu die Diät-Cola seine Kehle hinunter, immer die Milchglastüren, nur zwei Schreibtische vor seinem im Blick. Wenn er so ein Einzelbüro hätte, würde er sich hinter verschlossenen Türen schon zu Tode gesoffen haben, malte er sich oft seinen möglichen Arbeitsalltag dort aus. Seine ganze Spirituosensammlung würde er auf den dortigen eichenen Anrichten aufbahren und genüsslich einen nach dem anderen heben. Heraußen im Großraumbüro galt man als Alkoholiker, wenn man einen spirituösen Denkanstoß zu sich nahm, in einen der Einzelbüros nicht. Da hatte man was zu sagen und galt als Genießer, der seinen Hochprozentigen zelebrierte. Aber lieber trocken durch die Polizeischicht kommen, als aus einer Schreibstube heraus Dirigent für die wahren Helden, nämlich die, welche so wie er noch vor Ort auf der Straße waren, spielen. Jeder Dirigent würde ja auch lieber die erste Geige spielen und nicht in einer einsamen Stube, mit einem Stab bewaffnet, für das Publikum unsichtbar, herumfuchteln.

      Nein, es waren alles glückselige Unglückliche hinter diesen Milchglastüren. Und überhaupt wäre es ja in einem Einzelbüro viel zu leise. Könnte man nicht in eines dieser Einzelbüros und seine Tätigkeit weitermachen, quasi ohne Beförderung, die er schon einmal abgelehnt hatte?

      Und wie er Stück für Stück schmatzend, den Pizzakarton und schlürfend seine Diät-Cola leerte, ertönte es „Ring-Ring“ aus seiner Jackentasche. Der, rund um seinen Mund, mit Essensresten, besudelte Ulman suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit seine, von Fett und Tomatensauce triefende Hände, abzuputzen.

      „Servietten konntet ihr mir keine mitnehmen?“, polterte er mit lautem Gebrüll durch den ganzen Raum und verlor abermals Essensreste aus seinem Mund an seine Umwelt. Ein drittes Mal würde er sein gelb-braun-grün gestreiftes Hemd sowieso nicht anziehen und so wurde es kurzerhand als Serviette zweckentfremdet. Das Geläut seines unmodischen Nokia 105 störte bei dem dauerhaft, umtriebigen Großraumbürotönen niemanden und so ließ er sich nicht hetzen.

      „Hallo?“ murrte er in das mahlzeitunterbrechende Mobiltelefon.

      „Herr Ober-Kommissar, hier spricht Wachtmeister Körner.“

      „Nur Kommissar. Was ist denn, ich esse gerade?“

      „Ich bin mit elf Kollegen in der Müllverbrennungsanlage. Wir konnten drei LKWs den benannten Häuserblocks, rund um den Tatort zuordnen und aufhalten, bevor sie ihre Fracht entsorgten. Aber wo sollen die nun ihre stinkende Ware auskippen?“

      „Sie Frischfleisch, suchen Sie sich eine Lagerhalle. Keine Ahnung. Am Flughafen. Räumen Sie sie aus und kippen Sie dort den Müll hin. Die LKWs sind bis auf weiteres von der Stadt zu beschlagnahmen. Und um Himmels Willen rufen Sie sofort Doktor Weiss an. Er soll die Spurensicherung koordinieren.“

      „Sofort.“

      „Und Körner? Ich brauche Ergebnisse, schnell.“

      „Ich mache mich sofort ans Werk. Was denken Sie werden wir finden? Nach was sollen wir suchen?“

      „Sind Sie vollkommen verblödet? Was würden Sie nach so einem Mord entsorgen, wenn die Müllabfuhr am selben Tag kommt? Haben wir schon alles durchgekaut. Wenn Sie es nicht mehr wissen, dann fragen Sie Weiss. Er kümmert sich darum.“

      „Sie haben Recht Herr Kommissar. Bitte entschuldigen Sie.“

      „Noch eine Frage Körner. Die Frage konnten wir wegen Ihrer Tölpelhaftigkeit am Tatort nicht klären. Woher wussten wir, dass dort überhaupt jemand gemordet hat?“

      „Es ging ein unbekannter Anruf bei der Leitstelle ein. Die Nummer wurde gecheckt. Es war eine Prepaid-Nummer.“

      „Was?“

      „Jeder kann ein Mobiltelefon in einem Elektrofachgeschäft kaufen. Bei einem Prepaid-Mobiltelefon muss man sich nicht registrieren. Man kauft praktisch anonym das Telefon und verbraucht dann das Guthaben darauf. Ohne Anmeldung bei einem Mobilfunkbetreiber.“

      „Also wie eine gute alte Telefonzelle. Anonym, man wirft Geld ein und verbraucht das Guthaben. Keine Spuren.“

      „Exakt Herr Kommissar. Eine vermutlich verstellte männliche Stimme. Englischer Akzent. Sie meinte `endlich habe ich es getan` und gab die Adresse durch.“

      „Das heißt der Anrufer war jung. Jeder andere Mensch über vierzig hätte aus einer Telefonzelle aus angerufen und es war zu neunundneunzig Prozent der Täter.“

      „Wie kommen Sie darauf?“

      „Warum sollte jemand Unschuldiger ein Massaker mit einer anonymen Nummer melden. Körner, suchen Sie nach allem was Sie finden können und so schnell als möglich. Aber bitte nur in Begleitung von Doktor Weiss.“

      Sobald er seine Ansage beendet hatte legte er, ohne jegliche Verabschiedung, auf.

      Sein linker Mittelfinger klopfte auf die Schreibtischkante und vertieft in seinen Gedanken fixierte er die Regentropfen, welche nun wieder vom Himmel prasselten und sich an den großen Spiegelglasfensterscheiben herabschlängelten. „Ich suche nach einem jungen Mann, circa einen Meter fünfundsiebzig bis fünfundachtzig, Rechtshänder, der ortskundig ist und englischen Akzent hat“, grübelte der weiterschlemmende Ermittler.

      Mit einem Ruck wischte er den Pizzakarton von seinem Arbeitsplatz und öffnete die unterste Schublade des Schreibtisches. Daraus holte er einen weißen Notizblock, legte ihn vor sich und holte tief Luft, um mit seinem ganzen, geringen Lungenvolumen den Staub von seiner so lange unbenützten PC-Tastatur zu pusten. Blatt für Blatt verriet ihm der Notizblock, welche Schritte zu setzen waren, um in den elektronischen Akt seines mitgebrachten Zeugen einsehen zu können, welcher gerade einige Räume entfernt, sich eine Speichelprobe aus dem Mund wischen ließ.

      Seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren kämpfte der morbide Mittsechziger den Kampf Mensch gegen Maschine und sah sich durch seine Ignoranz, gegenüber seinem elektronisch-maschinellen Arbeitskollegen, bei gleichbleibend hoher Aufklärungsquote seiner Fälle in seinem Sieg bestätigt. Zwar wuchsen die Papierstöße rund um seinen Schreibtisch, doch ein Aufbau einer physischen, zusätzlich zu der bestehenden mentalen Grenze gegenüber seinen Kollegen, war stets in seinem Interesse. So stapelten sich Aktenordner, prall gefüllte Schnellhefter, Fotokuverts und Papierstöße wie eine Mauer, in dessen Inneren der Burgherr auf seinem zugemüllten Schreibtisch thronte, um dort seine Unterlagen zu studieren. Inmitten von gebrauchten Pappbechern, von Fettfilmen glänzenden Fleischwarenverpackungen, zerknüllten Servietten und Taschentüchern, eine Fülle an angeknabberten Bleistiften und Kugelschreibern sowie weiteren systemlos verstreutem Büromaterialen, lag nun der Notizblock, in welchen er sich vor einer halben Ewigkeit, bei der Einschulung seines elektronisch-maschinellen Arbeitskollegen, Schritt für Schritt notierte, wie er auch in Zeiten eines papierlosen Büros zu seinen Informationen kommen konnte. Und diese Zeiten waren mit Jahresbeginn angebrochen. Kein Aktenarchiv mehr. Keine ausgedruckten Fotos, die in Kuverts gesammelt und einem Tatort zugeordnet wurden. Keine endloslangen Berichte der Forensik, geheftet in Mappen und Ordnern. Nur noch vereinzelt fanden sich Papierblätter auf den Schreibtischen des Morddezernats. So musste es dazu kommen, dass Sebastian Ulman die erste Seite seiner Mitschrift aufschlug, um Schritt eins auszuführen: Auf die Taste, mit einem Kreis, der oben durch einen Strich unterbrochen ist, auf dem Elektrokasten, unterhalb des Tisches, drücken´. Viele weitere und mühsame Schritte folgten, bis er endlich die polizeiliche Historie seines Tatortmitbringsels einsehen konnte, der zur gleichen Zeit, seine geschwärzten Fingerinnenseiten gegen eine weiße Platte drückend, von links nach rechts und von rechts nach links, abrollen musste. Und nachdem es der alternde Ermittler, nach Schritt einundzwanzig, endlich geschafft hatte die gewünschten Informationen auf seinem Bildschirm aufleuchten zu sehen, wurde eben jener Aaron Röttgers, außerhalb seines konzentrierten Blickfelds, vorbei an seinem Schreibtisch,