Stephan Anderson

Stadtflucht


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      „Sie haben es nicht so mit Statussymbolen, oder?“, konnte sich Aaron, beim Anblick des 1988 himmelblauen Citroen AX mit schwarzen einfachen Stahlfelgen, angerosteter Stoßstange und dem, ihm noch immer nicht verständlichen Erscheinungsbild des Kommissars, eine freche Bemerkung nicht verkneifen.

      „Steigen Sie ein und reden Sie nur, wenn Sie gefragt werden“, skizzierte Ulman das weitere Prozedere auf.

      Er steckte sich einen Zahnstocher in den Mund und ließ ihn, mittels seiner Zunge, von der einen zahnunvollständigen Unterkieferseite zu anderen rollen. Diese eisbrechende Bemerkung, über das geliebte Fahrzeug des alternden Ermittlers, kam wohl zu früh und setzte an der komplett falschen Stelle an. Enttäuscht über sich selbst nahm der Zeuge am Beifahrersitz des, innen perfekt gepflegten und mit hellen Ledersitzen ausstaffierten Fahrzeugs, Platz. So konnte er sich dieses Gefährt, von außen betrachtet, nicht vorstellen. Wieder einmal hatte er zu schnell geurteilt. Vielleicht war auch der Kommissar äußerlich heruntergekommen und innerlich geordnet und seine Seele gut gepflegt. So gut, wie Aaron oft Schauspielern konnte, um sich seiner Umgebung anzupassen, so wenig war es ihm möglich Menschen richtig einzuschätzen, was bei ihm oft in falschen Vorverurteilungen mündete und eigentlich hasste er nach heißen Großstadt-Sommern und Warten nichts mehr als Vorverurteilungen. So wie Aaron zumeist versuchte sich seiner Umgebung anzupassen, um ja nirgendwo anzuecken und nicht seine liebe Ruhe und innerliche Eintracht zu gefährden, wusste er nun auch schnell wie es in dieser Situation um ihn bestellt war. Zwar reichten seine bisherigen Erkenntnisse der Sachlage noch immer nicht ganz aus, um zu begreifen, was wahrhaftig vorgefallen war, aber er konnte sich ausmalen, dass es sich um keine Lappalie im öffentlichen Interesse handelte. Anstatt sein Gegenüber, wie gewohnt, genau zu beobachten und gemeinsame weltanschaulich-thematische Nenner zu erfragen, versteifte er sich lieber darauf still und der Situation dienlich, am ledernen Beifahrersitz des altehrwürdigen, dieselfressenden Citroen AX zu sitzen. Ohnehin ahnte er schon, dass der Fahrer heute darüber entscheiden würde, ob er sich am Abend, mit einer Tüte Fast-Food vor seinem Fernseher, in seiner Wohnung, von den schlimmen Ereignissen des Tages wird verstecken können, oder ob er noch länger in dieser Notlage feststecken musste. Eine Situation, die ihm unangenehmer nicht sein konnte. Im Mittelpunkt stehend, mit Argusaugen beobachtet zu werden und jede seiner Gestiken, Mimik und Atemzüge einer Interpretation von Fremden ausgesetzt zu wissen. Der passionierte Nörgler konnte nur in Gesellschaft einer Handvoll Leute wirklich er selbst sein und neben seiner Freundin, die wohl nach dem gestrigen, gefühlt tausendsten, heftigen Streit das Weite gesucht hatte, zählten noch seine oberflächlichen Freunde aus dem Studium und sein engster Familienkreis dazu. Und wirklich befreit konnte er sich nur öffnen, wenn er das ein oder andere Bier zu viel gekippt hatte. Dabei waren auch Ausfälligkeiten keine Seltenheit. Zweckpessimismus verbreiten und über Gott und die Welt philosophieren. An jeder Ecke und an jedem Menschen das Schlechte zum Vorschein bringen. Dieses, sein wahres Gesicht, konnte er nun nicht zeigen.

      Auf keinen der vertraut wirkenden Personen, die ihn nahmen so wie er war, konnte er nun in dieser, für ihn so misslichen Lage, zählen, saß er doch am Beifahrersitz eines Autos, eines Kommissars der Mordkommission und tingelte mit diesem, im schleichenden Tempo, von einer roten Ampel zur nächsten.

      Nicht einmal als der wortlose Chauffeur die Fenster öffnete, um das von der voll aufgedrehten Heizung stark erwärmte Wageninnere zu kühlen, kam Aaron ein Ton aus. Kein Vortrag über Umweltsünden, keine Predigt über Ressourcensparen. Auch nicht, als sich Ulman genüsslich eine Zigarette anzündete und die Passivrauchschwaden dem Beifahrer ins Gesicht qualmten. Es brodelte in ihm, aber er sagte nichts. Es bedurfte keiner Dissertation in Menschenkenntnis, dass jegliche kritische Ansage vom Beifahrer- zum Fahrersitz, seiner Situation nicht dienlich war. Aaron war diesem cholerischen, ungebildeten, masochistischen und ignoranten Grobian ausgeliefert. Die schlimmste Bewandtnis, die er sich wohl ausmalen konnte. Nicht im Bilde, verdreckt, durchnässt und ausgeliefert. Selbst für einen notorischen Pessimisten wie ihn nicht vorstellbar. Er zog die Haube tief, bis an seine Augenbrauen, hinunter und versteckte sein Gesicht bis zur Nasenspitze in seinem Jackenkragen, blickte starrsinnig aus dem Beifahrerfenster, des nach Dieselabgasen und Zigarettenqualm stinkenden Oldtimers und versuchte sich mit der Beobachtung der vorbeirauschenden Straßenszenerie die Zeit zu vertreiben und irgendwie warm zu halten.

      Menschen, welche großgewachsene Hunde, mit Beißkorb und kurzer Leine, aus ihren kleinen Wohnungen heraus, durch die Massen von Fußgängern, für einen Ausgang über die Gehsteige zerrten. Nur, um dann in abgezäunte, graslose und trostlose Vierbeinerzonen zu gehen. Für Aaron Tierquälerei. Sein Ausweg: Hundesteuer in urbanen Räumen drastisch anheben. Gruppen von kopftuchtragenden Musliminnen, die mehrere Kinderwägen vor sich herschoben. Für Aaron der Untergang der freien Welt. „Wo waren die Männer?“, fragte er sich. In seinen Augen eine Unterdrückung der Frauen, keine Gleichberechtigung und bei gleichbleibend hoher Fertilitätsrate des Migrationsmilieus, eine Ausdehnung von bildungsfernen Schichten und Kriminalität. Sein Ausweg: Gesteigerte Zuwanderung aus aufgeklärten und christlichen Ländern. Jogger, die versuchten im Slalomlauf, den zuvor genannten Mitpassanten auszuweichen, um neben einer dreispurigen Straße, im Smoggewirr der Millionenmetropole, ihrem Sport nachzugehen. Aus Aarons Sicht Verrückte, die sich der naturfremden Umgebung des Betonlabyrinths Großstadt blind ergeben haben. Stadtneurotiker. Leute, die die Bindung zur ursprünglichen Koexistenz zwischen Mensch und Natur vollkommen verloren hatten. Aaron hatte hierzu keinen Ausweg parat.

      Er hatte die Hauptstadt einfach nur noch satt. Die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, die nervigen Mitmenschen, die unter, über und neben ihm wohnten und die hohe Kriminalität, an der er jetzt auch partizipieren musste. Gequält versuchte er es zwar, aber weiter konnte er seine Haube nicht hinunterziehen und so bleiben seine Augen weiterhin unbedeckt, um die, für ihn so schlimme Fahrt, mit allen Sinnen spüren zu müssen. Am liebsten wollte er nun über alles Gesehene seine Meinung abgeben. Aber er konnte nicht. Wie eingegipst in einem starren Korsett, auf einem Folterstuhl, bedingt durch die offenen Fenster vom Fahrtwind frierend, mit den Armen fest seinen blau-weiß-karierten Rucksack umarmend und im stinkenden Umfeld aus Zigaretten- und Abgasgestank sitzend, starrte er unaufhaltsam, wie hypnotisiert, auf das ihm dargebotene großstädtische Schauspiel. Menschen auf Smartphones glotzend, die sich dabei, in eine parallele Digitalwelt abdriftend, gegenseitig über den Haufen rannten. Frauen, die stolz Einkaufstüten von teuren Modelabels durch Einkaufspassagen trugen, ohne sich erkundigt zu haben, wieviel Flüsse in Südostasien dafür vergiftet wurden. Und Jugendliche, die an einem Arbeits- und Schultag, bereits kurz nach Mittag, mit Trainingsanzug adjustiert, von jeglichem Zwang auf Erwerbstätigkeit oder Bildung befreit, durch die Straßen schlenderten und dabei ihren hellen Spaß hatten. Tierquäler, Umweltsünder, unser lokales Wirtschaftssystem Ruinierende, Konsumverrückte, nur auf Oberflächlichkeiten bedachte, nichts zur Gesellschaft Beitragende. „Und ich muss mit all dieser Dummheit in einem Boot sitzen und kann nicht von Bord. Irgendwann explodiert dieser Planet und ich muss mitendrinnen sitzen“, multiplizierte sich die Negativität in Aarons Kopf und drohte seine Denkummantelung zu sprengen.

      Dem ungewollten Beifahrer wurde schlecht. Die traumatisierende Aufregung des Tages, der Gestank, das erneute Beziehungsende mit seiner Freundin. Es räkelte ihn. Kein Frühstück und ein gut gelehrter Darm, brachte er bis hierher mit. Nur Magensäuren, vermischt mit einigen unverdauten Nahrungskrümeln, quollen aus ihm heraus, indes er sich, bei weiterhin gemächlicher Fahrt, aus dem Beifahrerfenster des himmelblauen Citroens lehnte und übergab. Seinen Körper durchzog ein nicht enden wollenden kalter Schauer, unter der heruntergezogenen Haube standen Schweißperlen auf seiner Stirn und als wollte sein Sehorgan seinen gesellschaftskritischen Geist schützen, wurde ihm schwarz vor Augen.

      „Sind Sie völlig übergeschnappt?“, donnerte Ulman dem würgenden Beifahrer eine verbale Schelte an den schwindeligen Kopf.

      Beim Autofahren konnte sich der großstädtische Kommissar immerwährend entspannen, aber nun musste er feststellen, dass die Außenseite seiner himmelblauen Beifahrertüre mit Erbrochenem besudelt war und dass der, wenn auch gemächliche Fahrtwind, die ekelhafte Flüssigkeit auch noch längsseitig am altehrwürdigen Fahrtzeug verschmierte.

      Ungewohnt aber doch, trat der vollkommen ausrastende und schreiende Ulman das Gaspedal nun voll durch und bewältigte die letzten drei Häuserblocks bis zum Hauptgebäude der Metropolpolizei Distrikte