Stephan Anderson

Stadtflucht


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Rundherum war die Haut, von den austretenden Gasen der Pistolenmündung stark verbrannt worden. Auch hier waren weder Hülse noch Projektil zu sichern. Der unsportliche Mittsechziger kroch unter den Schreibtisch und musterte die kauernde Leiche. Die zu Tode Gekommene hockte in ihrer letzten Pose, mit dem Gesäß zu den Fersen und der Brust zu den Knien gefaltet, in ihrem offenkundigen Versteck.

      „Kataleptische Totenstarre, Herr Kommissar“, berichtete eine der beiden Spurensucherinnen.

      Ulman begann zu lachen. Oft lachte er nicht, aber dann zu den ungünstigsten Zeitpunkten.

      „Was ist?“, fragte er, mit seiner kratzig-tiefen Stimme, die ihn skeptisch anblickenden drei Forensiker, „schaut mal her. Weil sich die Muskeln versteift und zusammengezogen haben, konnte der Täter sie nicht am ganzen Körper anschneiden. Sie hat noch einen Bleistift, wie als Verteidigungsinstrument, in der Faust. Bleistift gegen 9mm!“

      „Einschuss in das untere Stirnbein, nahe dem Keilbein. Austritt, glatt auf der anderen Seite gegen den Heizkörper“, analysierte die Spurensucherin, mit der großen Spiegelreflexkamera in den Händen, das Gesehene.

      Unter schwierigsten Windungen krabbelte der sehnenverkürzte Mittsechziger an der kauernden Leiche vorbei und musterte die dahinterliegende Wand samt Heizkörper. „Keine Knochensplitter. Kein Projektil. Also ein aufgesetzter Schuss. Die Kugel hat die Schädeldecke mit eingedrückt, da kann auf der anderen Seite nichts Menschliches herauskommen. Also der Täter erschießt den ersten Mann an der Eingangstüre, geht dann schnell weiter in den Warteraum, erschießt den zweiten Mann und dann hierher. Sieht die Frau unter dem Tisch und bumm!“

      „Sehr gut, Herr Kommissar. Fällt Ihnen noch etwas auf?“, spornte Weiss den wild Kombinierenden weiter an.

      „Durch die Größe der unverbrannten Schießpulverpartikel und der Größe des Abstreifrings kann ich die Entfernung der Tatwaffe auf sehr, sehr kurz schätzen. Hier gibt es nicht viel Blut. Weil die Schusswunde an der obersten Stelle des Körpers ist und die Leiche nicht bewegt wurde. Sehen Sie? Er hat auch nur die Kleidung aufgeschnitten und das entfernt, wo er gut dazu kam. Wieviel Gewebeentnahmen gab es hier?“

      „Wir haben nun insgesamt vierunddreißig gesichtet“, zählte die zweite Spurensucherin, ohne Kamera, aber mit Notizblock, nochmals aus den Mitschriften ab.

      „Und dann hatte er genug Haut? Oder war die Zeit zu knapp?“, war sich, der schwerfällig wieder aufrichtende Ulman, nicht sicher. Eindeutig hatte er es hier mit einem gefühlskalten, unberechenbaren und narzisstischen Menschen zu tun der, so tippte der routinierte Kommissar, nicht das erste Mal gemordet hat.

      „Gut, ich habe alles gesehen. Bitte senden Sie mir den Bericht so schnell als möglich zu. Ausgedruckt! Sie wissen, ich will immer alles auf Papier stehen haben!“, bat der multimedial Zurückgebliebene den grinsenden Weiss um Nachsicht.

      Als er über den Warteraum und durch den Eingangsflur, wieder in das Treppenhaus zurückkehren wollte, blieb der, abermals über Sohlenabdrücke und Markierschilder steigende Ulman, noch für einen Moment stehen und betrachtete das erste Opfer.

      „Was für ein kranker Mistkerl! Wir haben hier vier Schreibtische und drei Opfer. Bei dieser Tat muss sich jemand mit den Gegebenheiten hier ausgekannt haben. Er muss gewusst haben, dass er hier keine Zeugen und Ruhe vorfindet und er muss gewusst haben wo er welche Opfer auffinden wird. Sonst hätte er nicht noch extra die Frau unter dem Schreibtisch liquidiert“, replizierte der aufgebrachte Ermittler, „was ist das für ein Raum?“

      „Nach der Spurensicherung haben wir die Türe wieder zugemacht“, attestierte Weiss, dem dahinter zu Erwartenden wenig Amüsement.

      „Mich schockt nichts mehr“, gab sich der alternde Ermittler unantastbar, stieg über die Leiche und öffnete die Türe.

      Ein lauter Aufschrei war die Folge. Ein Schwall von bestialischem Fäkalgestank sprang ihm entgegen. Zwar war er schon öffentliche Großstadttoiletten und Müllplätze gewohnt, aber was sich da, in diesem kleinen Raum, trotz offenem Fenster, angestaut hatte, war einfach nur ekelerregend. Nur durch seine Wissbegierde und Lüsternheit auch diesen Fall so schnell als möglich zu lösen motiviert, trat er ein. Der weißgeflieste Raum hatte über dem Spülkasten ein circa einen Meter mal vierzig Zentimeter kleines Fenster, welches offen stand. Doch trotzdem konnte der geringe Luftzug, die üblen Ausdünstungen nicht aus dem Sanitärraum beseitigen. Obwohl Ulmans kleine Garconniere weit davon entfernt war eine Parfümerie zu sein, aber so einen Saustall hatte er nicht mal in seinem Klo mit roter Brille, welches er sich mit zwei anderen Nachbarn auf der Etage teilte, erlebt. Der unsportliche Mittsechziger wollte den Spülkasten erklimmen und aus dem schmalen Fenster blicken, welches in einen freiliegenden Schacht führte und alle Toilettenfenster auf dieser Seite des Zinshauses damit entlüftete. Da fiel ihm auf, dass der Gestank in der Keramikmuschel seine Quelle hatte. Der letzte Benutzer hatte einen längeren Toilettengang hinter sich gebracht und nicht gespült. Die feuchte Erleichterung spritze bis auf die Umrandung und färbte die weiße Schüssel in ein miefiges hellbraun.

      „Hat unser Täter nach diesem Wahnsinn großzügig das Klo verschissen und nicht gespült? Nicht einmal die Klobrille hat er heruntergeklappt das Schwein!“, wunderte sich der angewiderte Kommissar und grübelte was er mit dieser Situation anfangen und wo er sie einreihen konnte. Dann dachte er daran, dass das erste Opfer womöglich bei seinem großen Geschäft unterbrochen und dann, beim Öffnen der Eingangstüre, erschossen wurde.

      „Okay, Doktor Weiss, ich habe genug gesehen. Ich erwarte Ihren Bericht. Ausgedruckt! Bis wann?“, appellierte er um schnelle Abhandlung der forensischen Untersuchungen und stieg über die Leiche im Eingangsflur, um im Treppenhaus nach Luft zu schnappen.

      „Herr Kommissar, wir arbeiten mit allem was wir haben. Der Druck aus dem Dezernat ist enorm. Auch auf Sie. Ich hoffe, dass ich bis heute Abend schon mehr weiß“, gab sich der Chef der Spurensuchung beschwichtigend.

      „Gut“, murrte Ulman und ließ Weiss bei seinen beiden Kolleginnen am Tatort zurück. Es war nicht das erste schwierige Treffen der beiden, aber heute hatte der alternde Ermittler seinen Ruf als cholerischer Kollegenschreck wieder alle Ehre gemacht. Bei den Stiegen, die wieder hinunter in das Vestibül führten, angekommen, riss er sich den weißen Overall, die Überziehschuhe und die schwarzen Plastikhandschuhe vom Leib und ließ die gebrauchte Adjustierung einfach an Ort und Stelle liegen. Noch bevor er die erste Terrazzotreppe des hallenden Stiegenhauses betrat, genoss er schon einen tiefen Zug von einer, in seinem Mundwinkel eingepressten, Zigarette. Der Abgang sollte nicht so beschwerlich werden wie der Aufgang und für einen kurzen Moment konnte Kommissar Sebastian Ulman entspannen.

      Kapitel 4 Tagwerk Leiden

      „Wollen Sie eine warme Suppe, um sich aufzuwärmen?“, bot der Rettungssanitäter Aaron Röttgers fürsorglich eine Schale der heißen Brühe an, indessen dieser, in eine dicke Baumwolldecke gehüllt, im Inneren des Notarztwagens, auf einer Pritsche Platz nahm. Sein Blick war versteinert und eingefroren nach vorne gerichtet. Ins Nichts. Es war, als ob er sich aus seinem Tunnel der geistigeren Leere und traumatisierter Einigelung, welche seine Panikattacken und Angstschübe unterdrückten, nie mehr werde befreien können. Wohl nahm er die Sanftmut der Sanitäter wahr, doch presste seine Augen eine innere Macht an die weiße Innenwand des Sanitätsbusses und versetzte seinen gesamten Körper zugleich in ein Wechselspiel aus Zittern und Starrheit. Im vermindert Positiven war dadurch das Schwindelgefühl zurückgegangen, welches durch den Blutstau in seinem Kopf ausgelöst wurde.

      „Der Mann steht unter Schock, lassen Sie ihn“, merkte der zweite Sanitäter, gegenüber seinem Kollegen an, „warten wir, bis der Interventionspsychologe kommt.“

      Psychologe, Rettungswagen, Kamerateams, Menschenmassen hinter Polizeiabsperrungen. Der am liebsten heimelig-verschanzte Aaron wollte einfach nur in seine saubere Wohnung und es sich, statt einer Suppe hier, dort mit Junkfood vor dem Fernseher gemütlich machen.

      „Wann kann ich nach Hause?“, stammelte er, den Blick weiterhin nach vorne gerichtet, um mit der leidlichen Darstellung seiner Konsterniertheit, eine Freigabe zu erbetteln.

      „Sie