Stephan Anderson

Stadtflucht


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„Hier, ich Herr Kommissar!“

      Es war der weitbekannte Chef der hauptstädtischen Spurensicherung Dr. Peter Weiß, der es sich nicht nehmen ließ diesen Tatort, in seinem Wohndistrikt, selbst zu sichern. Zu Ulmans Glück ein Mann der seine Sprache und seine Art der Ermittlung respektierte und dem auch seine privaten Lebensgewohnheiten keine Sorge bereiteten, konnte die Reputation des langjährigen Mordermittlers doch von seinen investigativen Erfolgen der Vergangenheit, bis zu seiner baldigen Pensionierung leicht zehren. Daher war es dem am Boden knienden Mittsechziger auch eine willkommene Abwechslung einen alten Großstadtfuchs, wie er es war, freundlich entgegenzutreten. Der oberste Spurensicherer der Kapitale war es gewohnt, mit vielen unterschiedlichen Charakteren bei den jeweiligen ermittelnden Abteilungen zusammenzuarbeiten und in Ulmans Fall war die Sachlage einer fruchtbaren Zusammenarbeit klar, wenig fragen und dem Hauptermittler vertrauensvoll mit forensischen Fakten zuarbeiten.

      „Herr Doktor Weiss. König aller Klassen. Ich knie vor Ihnen und bitte um die Antwort wo das ausgetretene Projektil eingeschlagen ist?“

      „Auch Ihnen einen Guten Tag Kommissar Ulman. Dem Einschlag in der hinteren Wand des Raumes nach zu urteilen, da wo ich gerade stehe. Die Patronenhülse ist nicht auffindbar und das Projektil wurde aus der Wand entfernt.“

      „Also nach dem Austritt muss das Projektil noch gut sechs bis sieben Meter geflogen sein um dort einzuschlagen. Ich tippe auf eine 9mm Pistole. Wie groß ist das Opfer?“

      Dr. Weiss ging dem grübelnden Kommissar entgegen um ihm genau mitteilen zu können: „Ein Meter und dreiundachtzig Zentimeter.“

      „Und das Projektil ist glatt ausgetreten. Das heißt der Schütze war circa einen Meter fünfundsiebzig bis einen Meter achtzig groß. Die Einschusskerbe ist leicht links von hieraus gesehen, das heißt er ist Rechtshänder.“

      „Sehr gut gesehen, deshalb sind Sie der beste, Ulman. Und er hatte, den blutigen Sohlenabdrücken nach zu urteilen, Schuhgröße sechsundvierzig oder achtundvierzig.“

      „Die Schnittverletzungen wurden nach seinem Tod verübt?“

      „Ja, ´post mortem´.“

      „Bitte Weiss, sprechen Sie in einer Sprache, die ich verstehe! Also der Täter läutet hier an, schießt dem Mann in den Kopf, schneidet seine Kleidung auseinander und wendet ihn. Nur, um Gewebeteile aus ihm herauszuschneiden?“

      „Sieht so aus.“

      „Weiss, alles deutet auf einen Trophäenjäger hin, der das Opfer gekannt hat und die Gegebenheiten vor Ort ebenfalls.“

      „Kommen Sie mit, Herr Kommissar, ich zeige Ihnen die anderen Opfer.“

      „Andere?“, war der alternde Ermittler erstaunt aber nicht betrübt.

      „Ja, es gibt noch zwei weitere Leichen.“

      „Scheiße. Aber die Schuhgröße kann nicht ganz zu der Körpergröße des Schützen passen“, stellte der spitzfindige Mittsechziger fest, während er über gelbe Hütchen und rote Sohlenabdrücke, immer mit Bedacht keine Spuren zu verwischen, stieg, „sind nur Ihre Leute hier oder auch schon jemand vom Morddezernat?“

      „Bis jetzt nur Sie und auch reichlich spät, wenn ich das so sagen darf. Wir sind schon seit drei Stunden hier und mit allem schon fertig. Die Leichen werden nach unserem Rundgang gleich abgeholt.“

      „Nein, dürfen Sie nicht so sagen. Der Verkehr ist eben schlimm. So ist unsere Großstadt nun mal. Sein Sie froh, dass Sie hier und nicht in einem Kuhkaff leben, wo die Leichen schon von Wölfen angeknabbert wären.“

      „Mein Fehler“, entgegnete Weiss beschwichtigend und, zumindest nach außen hin, einsichtig.

      „Du“, pöbelte Ulman einen in der Nähe, der Eingangstüre befindlichen Spurensucher an, „geh so schnell als möglich hinunter und hole jemanden vom Morddezernat. Ich werde ja nicht der Einzige hier sein.“ Der über den harschen Ton Verwunderte sah Weiss verstört und fragend an und wartete auf eine Reaktion seines Vorgesetzten. Als dieser wohlwollend nickte, machte er sich unverzüglich die Stiegen abwärts auf, durch das noch die Verabschiedung des cholerischen Kommissars hallte: „Gib Stoff Pinguin, sonst kommst du zurück in den Zoo!“

      Nachdem er bereits unzählige Fälle und Ermittlungen gemeinsam mit seinem charakterfordernden Kollegen abgehandelt hatte, wusste Dr. Peter Weiss nur zu gut, wie man am besten dessen cholerische Ausbrüche wieder einfing und scherzte: „Bitte lassen Sie meine Daktyloskopen in Frieden. Darf ich Ihnen nun meine Einschätzung und den Rest des Sachverhaltes erklären?“

      „Dakti? Was? Sprechen Sie mit mir nicht in diesem Studiertenton! Ich sage nur das Nötigste, das wissen Sie. Ich bin ganz Ohr“, erwiderte ein neugieriger, aber keinesfalls, ob seines rauen Umgangs mit Kollegen peinlich berührter Ulman.

      Der oberste Spurensucher führte den altgedienten Ermittler den langen Eingangsflur, der zum Büro umfunktionierten Luxus-Wohnung, entlang zu einem Warteraum, der sich linkerhand über ungefähr fünf mal fünf Meter erstreckte und mit feinen Ledersesseln eingerichtet war. Obwohl der Kommissar den reichlich bestückten Kristallkronleuchter genauso mit beeindruckten Argusaugen betrachtete, wie die feine Kirschenholzvertäfelung an den Wänden, fiel ihm in diesem Raum nicht wirklich etwas Verdächtiges auf. Die blutverschmierten Sohlenabdrücke aus dem Flur, wurden hier immer weniger sichtbar und verschwanden vollends. Auf einem Garderobenständer hingen drei Winterjacken. Eine Schwarze, eine Weiße und eine Graue, darunter standen drei Paar Straßenschuhe in einer Plastikschale.

      In der Tat fand Weiss die richtige Wortwahl, war der in weiße Schutzkleidung gehüllte Ermittler nun sogar zu einem seiner seltenen Scherze aufgelegt und fragte seinem Wegweiser ob hinter eine der vier weiterführenden Türen ein Tiger lauern würde?

      Hinter der ersten Türe führte ein kleines Zwischenzimmer, parallel zum Eingangsflur verlaufend, zu einem kleinen Konferenzsaal und von diesem weiter in eine beschauliche Küche. Schon im Zwischenzimmer überfiel ihn ein Anblick, als ob tatsächlich ein Tiger gewütet und seine menschliche Beute dort tot zurückgelassen hatte. Ähnlich dem ersten Tatbild lag auch hier ein Mann, mit nur einem Schuss niedergestreckt, in einer riesigen, verschmierten Blutlache. Links und rechts der Leiche waren die raumhohen Aktenordnerregale mit Hautfetzen, Haar- und Gehirnteile sowie Blutspritzern übersät, welche das Projektil über die Austrittswunde am Hinterkopf mit sich riss und im ganzen Raum verteilte. Ein Auge des Mannes war offen, das andere geschlossen, was darauf schließen ließ, dass der Tod plötzlich und unvorhergesehen eintrat. Anders als bei der ersten Leiche war diese bis auf die Unterwäsche entblößt und wies, sofort ersichtlich, tiefe kleine Schnittwunden von den Beinen bis ins Gesicht auf, als hätten ihn Miniaturpiranhas angeknabbert. Seine Kleidung wurde ihm vom Leib geschnitten. Patronenhülsen waren auch hier nicht zu finden, was die Anzahl der leuchtgelben Markierungsschilder, für forensisch relevante Hinweise, ohnehin nicht reduziert hätte. Das totbringende Projektil steckte auch hier in der Wand hinter dem Opfer, gleich neben dem einzigen Kastenfenster in diesem Raum und wurde ebenfalls nach dem Einschlag entfernt.

      „Er ist für ihn überraschend getötet worden. Die Leute glauben ja immer, dass der Angeschossene, wie in Filmen, nach hinten fliegt, wenn er von vorne getroffen wird“, erläuterte Ulman die vorgefundene Szenerie.

      „Das dritte newtonsche Gesetz. Es beinhaltet die Wechselwirkung zwischen Kraft und Gegenkraft“, ergänzte Weiss.

      „Was?“, gab sich der alternde Ermittler verwundert und genervt, „die Opfer fallen einfach nach vorne oder direkt nach unten. Sie brechen zusammen. Das meinte ich.“

      „Ich doch auch, Herr Kommissar.“

      „Ihr Studierten seit alle gleich. Erfindet immer eine parallele Sprache, für alles. Dabei wissen einfache Typen wie ich das Gleiche. Aber so hochgestochen müssen wir nicht reden!“, streichelte sich Ulman über seinen Dreitagesbart und wies den Chefforensiker zurecht.

      „Sieht fast nach Auftragsmord aus, aber ich bin kein Ermittler, nur ein Spurensucher und Analytiker“, antwortete Weiss mit einem dezenten Grinser auf seinem fein rasierten Gesicht, während er sich die Haube des Schutzoveralls von seiner