Stephan Anderson

Stadtflucht


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ein bisschen Ruhe einkehrte.

      Kapitel 3 Tagwerk Tatort

      Die Anzahl an Tatorten die Kommissar Sebastian Ulman in den letzten neununddreißig Dienstjahren beim Morddezernat zu sehen bekam, hatten in ihm eine Abgestumpftheit gegenüber dem Anblick von verstümmelten Leichen, dem Empfinden von Mitgefühl für die Hinterbliebenen und der Nachsicht mit vermeintlichen Verdächtigen aufgebaut. Obwohl er zu Beginn seiner Karriere das traumatisierende Gesehene, oftmals abends nur mit einem Sechserpack Bier oder einem Besuch an seiner hauseigenen Spirituosenbar verdauen konnte, wich über die Jahre die Betroffenheit einem stetig wiederholenden Ritual nach Schichtende. Auch wenn seine größten und spektakulärsten Fälle schon einige Jahre zurücklagen, hatte er nie den Elan für seine Arbeit verloren. Was Ulman am meisten reizte war der Blick hinter die Fassade eines Tathergangs und des Täters. Dabei vermisste er die gute alte Zeit, in der Kommissare noch zuschlagen durften, bevor Fragen gestellt wurden. Doch diese Zeit war vorbei, der Mittsechziger in ihr aber moralisch und methodisch verblieben. Es ging ihm mehr um das Reinhalten seiner Stadt, um den Revierkampf gegen die Verbrecher, die ohne seine Erlaubnis sein Territorium aus dem Gleichgewicht brachten.

      Geistig und kulturell waren die Distrikte der vornehmen Viertel an der Westseite nie sein Gebiet, doch brachte es ihm heitere Freude, dass auch diese elitäre Gesellschaft nun die Hilfe von Kommissar Sebastian Ulman benötigte. Dem dünnen, hageren und schmalbrüstigen Kind aus dem Sozialbau, der sich im Leben alles hart erarbeiten musste und der am Liebsten in einer Zeitschleife festhängen würde, wo die Verbrechen noch selten, aber spektakulär waren und kein Kommissar ständig via Mobiltelefon erreichbar war. Zu seinem Leidwesen hatten sich die Zeiten geändert und so musste der großstädtische Kommissar verdutzt feststellen, dass der ihm zugewiesene, großräumig abgesperrte Tatort, nur so von Schaulustigen, Fernsehkameras und Einsatzfahrzeugen aller städtischen Blaulichtorganisationen wimmelte.

      Noch vor fünf Stunden humpelte diese Häuserblocklänge Aaron Röttgers mit zugekniffenen Pobacken entlang und nun war sie für die Öffentlichkeit abgeriegelt. Keine Autos konnten sich mehr auf der dreispurigen Prachtstraße entlang gen Westen stauen, keine Straßenbahn, welche überfüllte Mittelwaggons durch die Großstadt beförderte und keine konsumsüchtige Menge an einkaufswütigen Kunden in den Boutiquen, welche die Erdgeschosslokale der imposanten Gründerzeitbauten beherbergten, war zu sehen. Nur eine Traube von sensationssüchtigen Leuten, die sich mit kameraschulternden und berichterstattenden Journalisten, trotz wiedereinsetzendem Nieselregen, hinter Absperrgittern, um die besten Plätze rangen. Was für ein Anblick für den wortkargen Kommissar, der deshalb in einer schwach frequentierten Seitenstraße, quer über zwei Behindertenparkplätze, seinen rauchenden 1988er-Dieselspucker abstellte und vor dem Aussteigen noch seine Mordkommissionsparkplakette, die ihm zum Parken an jedem Ort der Hauptstadt bemächtigte, auf das Armaturenbrett legte, um sich unbemerkt in die abgesperrte Tatzone zu schleichen.

      „Kommissar Ulman?“, fragte ihn eine jugendliche Stimme aus seinem Rücken tretend, als er das Gebäude durch die altehrwürdige Massivholz-Eingangstüre, unter rufenden Fragestellungen der Journalisten, betreten wollte.

      „Ja?“, antwortete der alternde Ermittler und wandte sich dabei, mit seiner stetigen Überbetonung der Vokale, so dass sich jedes Wort wie ein Befehl anhörte, dem Fragesteller zu.

      Seine tiefliegenden rehbraunen Augen erblickten einen blondgelockten Polizisten, ein junger Wachtmeister Anfang zwanzig, mit freudigem Gesichtsausdruck, in perlnachtblauer Uniform. Als hätte Ulman den Hauseingang nicht schon selbst gefunden, wies ihm der junge Gesetzeshüter den Weg und begleitete ihn ins Vestibül. „Herr Hauptkommissar, ich möchte sagen, wie sehr ich Sie und Ihre Fallstudien bewundere“, umgarnte er den, fassungslos vor dem versiegelten Fahrstuhl stehenden Großstadtneurotiker.

      „Warum kann ich den Aufzug nicht benutzen?“, warf er dem Wachtmeister mit grobem Ton, in seiner gewohnt-einfachen, mundartigen Artikulation an den Kopf, ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen.

      „Von der Spurensicherung noch nicht freigegeben“, klärte ihm sein blondgelockter Verehrer auf.

      Nun mussten die teergetauchten Lungen des Mittsechzigers auch noch zu Fuß in den dritten Stock wandern. Seine Stirn wurde immer runzeliger und zog seine Augenbrauen über seine rehbraunen Augen. Erregt ob der kommenden körperlichen Anstrengung, schubste er seinen jungen Kollegen zur Seite und verabschiedete sich mit den Worten: „Wischen Sie sich das ekelhafte Grinsen aus dem Gesicht. Ich finde alleine hoch. Und übrigens, nur Kommissar! Keine Beförderung der Welt kann so reizend sein, um Frischfleischdilettanten wie Sie von einem Schreibtisch aus zu delegieren!“ Perplex blieb der junge Wachtmeister im Vestibül des Neo-Renaissance-Stil-Baus stehen und verfolgte voller Desillusion den schleppenden Aufstieg seines detektivischen Idols.

      Schnaufend und stöhnend zog sich Ulman, an den reichlich mit Verschnörkelungen verzierten, gusseisernen Stiegen-Geländer aufstützend, von Stockwerk zu Stockwerk, vorbei an prächtig verzierten und dekorierten Sicherheitstüren. Keuchende Laute begleiteten seinen Weg bis in den dritten Stock, wo es bereits von Mitarbeitern der Spurensicherung wimmelte. Mit Einweg-Overalls, Überziehschuhen und Plastikhandschuhen adjustiert, pinselten sie die elfenbeinfarbig-gestrichenen Wände und die weiß-schwarz-karierten Marmorfliesenmuster am Boden des Treppenhauses, in der Hoffnung einen tatrelevanten Finger- oder Schuhabdruck zu finden, mit Rußpulver ab. Als der teerlungengeschädigte Kommissar endlich wieder einer normalen Atmung nachgehen konnte, deutete er auf die Dienstmarke auf seinem Gürtel und signalisierte einem seiner pinselnden Kollegen, ihm bitte die gleiche beweismittelschonende Montur zu reichen. Während er sich hüftsteif in den weißen Overall quälte und nur mit Mühe und Not, in Ermangelung eines trainierten Gleichgewichtssinns, seine schnürsenkellosen Lederslipper, die das gleiche Baujahr wie sein Auto zu haben schienen, mit dem Schuhschoner überstreifte, steckte er sich eine Zigarette in den Mundwinkel. Profihaft genoss er, ohne Einsatz seiner Finger, die derweil mit dem Überstreifen von schwarzen Plastikhandschuhen beschäftigt waren, die ersten Züge seines Glimmstängels. Mit aufgeladenen Nikotintanks machte er sich nun auf den Weg Richtung Eingangstüre des Tatorts, welche, entgegen dem Eintreffen Aarons vor gut fünf Stunden, nicht mehr leicht, sondern sperrangelweit offenstand.

      So, wie bei der massiven Haupteingangstüre ins Vestibül des Zinshauses, waren auch bei dieser keine Spuren eines gewalttätigen Fremdeindringens zu erkennen. Beide Schlösser und Beschläge waren von zylinderschlitzsuchenden Schlüsseln zerkratzt, aber nicht beschädigt. Gleich einen Meter nach der Türschwelle offenbarte sich dem, von solchen Anblicken bereits abgestumpften großstädtischen Kommissar, ein grässliches Bild.

      Kleine leuchtgelbe Hinweistafeln mit schwarzer Nummerierung von eins bis sechs waren im gut fünf Meter langen und drei Meter breiten Flur verteilt. Inmitten der akribischen Beschilderung lag ein fünfundvierzig- bis fünfzigjähriger, molliger Mann, in einer riesigen Blutlache. Weder seine Augen noch seine Gesichtszüge oder die Farbe seines schütteren Haares waren zu erkennen, war doch eine Pistolenkugel, vermutlich aus kurzer Distanz, in seinen Nasenansatz ein- und am Hinterkopf wieder ausgetreten, was zu einer grauenhaften Entstellung seines Minenspiels führte und den alten Holzboden und die weißen Wände neben ihm mit kleinen Teilen seines Gehirns sowie seiner Haut bespritzte. An den Hautteilen waren noch teilweise die Haare zu sehen. Eingebettet in das schauerliche Bild von Blutspritzern und umherliegenden Gewebefetzen, waren schlecht erkennbare Sohlenabdrücke am Holzboden. Seine Brille lag genau am Steg zerteilt links und rechts neben ihm. Sein weitgeöffnetes, hellbeiges Hemd war in ein dunkles Rot gefärbt, als hätte man seinen Oberkörper in ein Fass voll Blut getunkt.

      Der erfahrene Kommissar beugte sich über die Leiche, ließ seinen Blick auf die früher weißen Flurwände streifen und musterte genau die Verteilung und Intensität der darauf verteilten roten Sprenkel. Es roch wie in einer Schlachthalle, welche gerade desinfiziert und ausgeräuchert wurde. Der abgestandenen Kupferausdünstungen des Todes. Als würde man eine Fleischerei betreten und kein Büro. Intuitiv gewann seine vollste Aufmerksamkeit aber schnell die Suche nach dem Einschussloch, des am Hinterkopf des Opfers ausgetreten Projektils.

      „Wer hat hier von euch das Sagen?“, rief der aufgekratzte Ulman den Ruß pinselnden Spurensuchern in das Stiegenhaus entgegen. Bevor die