Stephan Anderson

Stadtflucht


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Feind umso mehr. Die Aufstauung kaum noch haltend und das Versagen über seine Schließmuskeln kommen spürend, konnte er weder die erfrischende Morgenluft im Vergleich zur stickigen Subatmosphäre der Tram genießen, noch den abklingenden Nieselregen wahrnehmen, der wie eine zweite Taufe seine Qualen der fünfunddreißig minütigen Fahrt von ihm abwusch.

      Auf Zehenspitzen humpelnd und seine Pobacken zusammengekniffen, schleppte er sich, wie am rechten Oberschenkel angeschossen, den täglichen Weg zwischen Haltestation und seiner Arbeitsstätte entlang. Es war immer die gleiche Häuserblocklänge, aber heute kam es dem vollgestopften Fast-Food-Liebhaber vor, als ob er in seinem prekären Zustand einen Marathon hinkte.

      Doch noch hatte er den Kampf gegen seinen, ihm am nächstgelegenen Feind, nicht verloren. Trotz lediglich drei Grad Plus perlte der Schweiß von seiner hohen Stirn und nur mit Mühe und Not konnte er seinen Schlüssel aus der Hosentasche ziehen, um das Schloss der altehrwürdigen Massivholz-Eingangstüre des Gründerzeitgebäudes zu öffnen. In einer stockwerkweisen Schichtung von Luxuswohnungen kämpfte sich Aaron mittels Lift in den vierten Stock, wo sein Arbeitsplatz inmitten von Immobilien lag, welche er sich niemals hätte leisten können und dessen Bewohnermehrzahl das einfache Geld mit der Vermietung von überteuertem Wohnraum an Mittelschichtszugehörige wie ihn machten, vor. Nicht einmal zum Eintreiben von Mietrückständen würden sie sich in sein Viertel verirren. Aber bis auf einen älteren Herrn, den er gelegentlich, mit Golftasche geschultert, im Vestibül begegnete, musste er noch keine Bekanntschaft mit einem Ansässigen machen. Fürwahr hätte er in dieser Situation kein „Gutes Spiel“, für den alten Mann übrig gehabt. Zu dringlich bahnte sich eine unfreiwillige Entleerung seines Hintereinganges an.

      Den Schlüsselbund noch in Händen haltend, humpelte er verkrampft wie man in solch einer Lage nur sein kann, zur Eingangstüre seiner Arbeitsstätte. Zu Aarons Glück war diese einen Spalt geöffnet, was ihm kostbare Zeit einbrachte. Trotz dieser glücklichen Fügung blieb ihm keine Sekunde mehr, bis sein Leiden weigerlich oder unweigerlich ein Ende finden sollte. Nur vier Schritte in den Büroflur getan, riss er die Toilettentür rechts neben sich auf und verschwand aus diesem auch wieder so schnell, wie er eingetreten war. Hastig schlang er seinen Gürtel auf, streifte sich die Jeans vom Gesäß und bevor seine Hinterbacken noch die Toilettenschüssel berührten schoss es, ohne Beigabe von aktivem Druck, aus ihm heraus.

      Ein Mal, zwei Mal, drei Mal.

      Für einen Moment des absoluten Glücks und Wohlbefindens vergaß er all das Schlechte, was er für gewöhnlich in der Welt sah. Da war es auch nebensächlich, dass die Klobrille noch oben war. Unvorstellbar für einen notorischen Klopapierausleger. Stück für Stück kränzte er normalerweise das gerollte Reinigungsutensil über den Sitzbereich. Nun saß er mitten in der Kloake. Der scheißende Putzfanatiker spürte, wie die Bakterien seine hinteren Oberschenkel anfraßen. Aber was sollte er machen? Zu schön war die köstliche Befreiung. Erstmals auf dem stillen Örtchen eingerichtet, legte er nun auch Jacke sowie Rucksack ab und kramte aus letzterem seine Morgenzeitung heraus.

      Für die nächsten paar Minuten sollte nur ein bisschen Ruhe einkehren.

      Kapitel 2 Mittagserwachen

      Mit dem wenig fantasievollen Klingelton „Ring-Ring“ riss sein altehrwürdiges Nokia 105 Kommissar Sebastian Ulman aus seinem seichten Schlaf. Schon beim dritten „Ring“ zuckte er am Rücken liegend auf und tastete den Nachttisch nach dem bimmelnden Unruhestörer ab. Während er, geblendet von den wenigen Sonnenstrahlen, die sich zwischen Fensterrahmen und Jalousien, den Weg in sein mäßig verdunkeltes Schlafgemach bahnten, stieg der immer wilder werdende Drang in ihm hoch, dem ruhestörenden Geläut ein Ende zu bereiten. Ein Utensil nach dem anderen warf seine blind-tastende Hand vom Nachtisch, begleitet von einem lauten Geschrei. Der Schlaftrunkene erhob sich mit tobendem Gebrüll aus seinem Bett und malträtierte den Lichtschalter, nebst seiner Schlafstätte mit einem Faustschlag, so dass dieser von nun an das Zimmer hell auf erleuchtete. Bereits Taschentuchspender, Schlaftabletten und eine halbleere Flasche Bier lagen am Boden, bis Ulman endlich sein Mobiltelefon ergreifen und abnehmen konnte.

      „Wissen Sie wie spät es ist?“, murmelte er mit seiner tiefen, kratzigen Reibbrettstimme in den Apparat.

      „Ich bitte vielmals um Entschuldigung Herr Kommissar. Hier spricht die Leitstelle der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost. Ich weiß, Sie kommen aus der Nachtschicht und konnten nur wenige Stunden rasten“, entgegnete eine zittrige, eingeschüchterte Stimme am anderen Ende der Leitung.

      Kommissar Ulman war von Haus aus kein Mann langer Konversationen und schon gar nicht über das von ihm verhasste Mobiltelefon. Daher versuchte er stets Fragen, welche eine Unterhaltung verlängern würden zu vermeiden und lieber eigenständig zwischen den Zeilen zu lesen oder das Gehörte in interpretative Kombination zu setzen.

      „Ich hatte Sie gefragt wie spät es ist? Aber egal. So weiß ich es nun auch. Mahlzeit“, entgegnete er dem Anrufer mit einem leicht versöhnlicherem Ton.

      „Herr Kommissar, Sie müssen unbedingt zu einem Tatort kommen. Ich sende Ihnen die Adresse per SMS. Ihre Hilfe wird dringend benötigt!“

      Ulman beendete das Telefonat mit einem tiefen Seufzer und der kurz angebunden Antwort „Ja“, betätigte den roten Druckknopf seines Tastentelefons und warf es wieder auf den Nachttisch.

      Für gewöhnlich tat er sich mit dem Wachwerden recht einfach, hatte er doch seit geraumer Zeit Probleme einzuschlafen und seine Arbeit war dadurch eine willkommene Abwechslung zu der tristen Einsamkeit in seiner kleinen Garconniere. Vielleicht war es genau diese Tätigkeit, die ihm den Schlaf raubte? Der alternde Ermittler war einer jener Menschen, die lebten um zu arbeiten und nicht arbeiteten um zu leben. Doch die stetigen Kopfschmerzen nach dem Erwachen, ließen ihn die natürliche Lust auf Schlafen vergehen. Seine spärliche Freizeit verbrachte er in Beisln, Kneipen, Spelunken, Bars und im Zusammenbau von Modelschiffen, welche die Regale und Stellagen seines engen Wohnraums zierten. Durch den von Schmutzwäsche, Zigarettenstummeln, Verpackungsrelikten, leeren Bierflaschen und Essensresten übersäten Laminatboden seiner Wohnung kämpfte er sich von seiner Schlafstätte, durch die kleine Küche, in das Badezimmer, welches nur aus einer schmalen Dusche und einem Waschbecken bestand, vor. Die im Stiegenhaus verortete Toilette durfte er sich mit seinen zwei Nachbarn teilen. Am putzigen Waschbecken des Minibadezimmers angekommen, welches sich seit dem letzten, lange zurückliegenden Putzganges, schon von weiß in ein leicht gräuliches Braun verwandelt hatte, wusch er sich sein Gesicht mit warmen Wasser ab und starrte für kurz in den darüber hängenden Spiegel. Kaum noch ein säuberliches Bild seines Benutzers gab dieser wieder, war er doch ebenfalls seit einiger Zeit nicht mehr von verkalktem Spritzwasser- und Haarfettresten befreit worden. Zumindest zurückgebliebene Zahnpaste-Reste konnten die Beobachtung seines Antlitzes optisch nicht einschränken, weil eine Spülung mit Mundwasser seinen Hygieneansprüchen einer Morgentoilette genügte. Zwar brachte ihm diese Herangehensweise bereits die Verluste von drei Backenzähnen und eines Schneidezahnes ein, doch dies kombinierte der Mittsechziger eher mit seinem Frühpensionsalter.

      Seine genicklangen, schwarzen Haare hingen in sein faltiges Gesicht und verdeckten seine tiefliegenden, rehbraunen Augen, die bei jedem ersten Kennenlernen seinem Gegenüber einen vertrauten Eindruck hinterließen, aber auch nur, wenn der Lichteinfall für den Betrachter der richtige war und diese nicht durch seine ausgeprägte Augenbrauenpartie beschattet wurden.

      Ulman öffnete ein kleines Kästchen nebst des Spiegels und kramte einen schwarzen Kamm hervor, der ihm seit Jahrzenten gute Dienste leistete, legte ihn auf das Waschbecken und presste einen dicken Patzen Haargel darauf. Alle Bewegungen liefen in Zeitlupe ab, um seinen, von Kopfschmerzen geplagten Kopf, so wenig wie möglich zu bewegen. Die genicklangen Haare frisch nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden, roch er an seiner Vortagskleidung, die über den Duschtürrahmen hing. Dem Genuss von gut zwanzig Zigaretten während der letzten Nachtschicht, sowie ein frühmorgendlicher Besuch in seiner Stammkneipe, bevor er sich in sein einsames Bett windete, war es zu verdanken, wollte er das gelb-braun-grün gestreifte Hemd und die graue Stoffhose, wie gewöhnlich noch zumindest einmal tragen, dass er das Gewand vom verrauchten Gestank des Vortages befreien musste. Hierzu warf er beide Kleidungsstücke in die Dusche und deckte