Stephan Anderson

Stadtflucht


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Augen taumelte Aaron durch die unbeleuchteten Räume seiner Wohnung in das Badezimmer. Auch dort verzichtete er, zugunsten seiner an die Dunkelheit gewöhnten Augen, auf die Betätigung des Lichtschalters. Zwei Hände voll kaltem Wasser zur Reinigung des Gesichts und eine vibrierende Zahnbürste in seinem Mund, entfernten auch den letzten Rest melancholischer Rückkehrgedanken in seine behagte Schlafstätte aus seinem Kopf.

      In der Pension, so schwor sich der Morgenmuffel jeden Morgen, werde er keinen Tag vor sieben Uhr aufstehen und erst dann seine Füße aus seinem Bett heben, wenn er wirklich ausgeschlafen ist. Bis dahin hatte er aber noch gut dreißig mühsame Jahre mit fröstelndem Aufstehen im Winter und viel zu heißen, schlaflosen Großstadt-Nächten im Sommer vor sich. Bis dahin war es ein täglicher moralischer Kampf und heute hatte er wieder einmal gegen seinen inneren Schweinehund gewonnen.

      Ein Blick auf die, im Dunkeln leuchtende Vorzimmer-Wanduhr, bestätigte ihn in seinem morgendlichen Zeitmanagement. Gut zwanzig Minuten konnte er immer länger schlafen, wenn er auf das Frühstück verzichtete. Zwar war auch zu Aaron durchgedrungen, dass es sich um die wichtigste Mahlzeit des Tages handelte, doch von seinem täglichen Rendezvous mit seinem Bett, konnte er keine Minute entbehren. Die Wohnung in aller Früh zu heizen wiederstrebte, aus Umweltschutzgründen, sowohl ihm, als auch seiner Freundin, war doch danach den ganzen Tag niemand zuhause, der die Wärme nützen hätte können.

      Nun hatte ihn die Welt aber wieder bei Bewusstsein. Wieder ein Tag voll Mühen und Ärgernissen über das Menschentum außerhalb seiner Festung der angestrebten Einsamkeit.

      Mit festen hellbeigen Winterschuhen, einer dunkelblauen Daunenjacke und einer weißen Haube ausstaffiert, nahm Aaron nochmals einen tiefen Atemzug durch die Nase, um der nicht weichen wollenden Schlaftrance endlich zu entfliehen.

      Als er die Eingangstüre seiner Wohnung öffnete, fuhr ein frostiger Wind in sein Gesicht, welcher sich seinen Weg von Stockwerk zu Stockwerk durch das gesamte Stiegenhaus des Wohnblocks bahnte.

      „Danke für den Empfang du scheußliche Welt. Schönen Donnerstagmorgen“, murmelte der passionierte Nörgler vor sich her, während er sich bückte um die Morgenzeitung von seinem Fußabstreifer zu heben und seinen, am Vortag vorgepackten blau-weiß karierten Rucksack, über die Schultern zu werfen.

      Entgegen allgemeiner Fabrikation hatte diese Wohnung keine Türmatte mit dem Wortlaut ´Willkommen!´, sondern wies den Schriftzug ´Home sweet Home´ aus.

      Trotz des frostigen Starts in den Tag machte er sich nun flotten Schrittes auf, die drei Stockwerke Richtung Erdgeschoss, so schnell als möglich, zu bewältigen. Zehn Stiegen hinunter, vier Schritte rechts, zehn Stiegen hinunter. Schon war Stockwerk zwei erreicht und dort wartete auch gleich die erste unangenehme Überraschung des frühen Tages. Die untere Nachbarin war ebenfalls gerade dabei ihre Morgenzeitung aufzusammeln und in diese, ihre schon seit Stunden vorgeheizte Wohnung, an ihren reich, mit Discount-Lebensmitteln gedeckten Frühstückstisch zu bringen.

      „Die dümmsten Menschen lesen keine Zeitung und die weniger Dümmeren wohl nur reißerische Idiotenblätter“, ärgerte sich Aaron, als er der Nachbarin näherkam.

      „Guten Morgen, ich wünsche einen schönen Tag“, grinste er gekünstelt über das gesamte Gesicht und versuchte der, sich mit dem Revolverblatt in der Hand wieder aufrichtenden, übergewichtigen, lump bekleideten und mit ungewaschenen, fettigen Haaren bedachten Frau so lange als möglich in die Augen zu schauen.

      Außer einem kurzen nach oben Ziehen der Mundwinkel und einem spärlichen Nicken, erhielt er für seine zwischenmenschliche Überwindung keine Resonanz und so setzte er seinen Abwärtsgang in unvermindert hohem Tempo, fort. In Stockwerk eins angekommen, biss er sich in den linken Zeigefinger und ärgerte sich, dass dieser Tag für ihn noch mindestens neun Stunden außerhalb seiner Wohnung bereithielt.

      „Genauso eine“, ärgerte sich der selbsternannte Menschenfeind, während der Schmerz in seinem Finger unerträglich wurde. Die Pein erinnerte ihn daran, dass aus seiner Sicht, solche Menschen der Grund waren, warum die Welt aus den Fugen brach. Früher hatten auch solche ungebildeten, Populisten-Wähler, Plastikverschwender und paternalistischen Gesellschaftsdenker eine Arbeit. Nun mussten Leute, wie er, die etwas gelernt hatten, auch für die Unwilligen arbeiten gehen. Denn er war ein selbsternannt Gebildeter, ein gesellschaftlicher Philosoph, ein Erhabener über den kleinkarierten Kollektivismus seiner Umgebung. Andere sahen in ihm schlicht einen zweckpessimistischen Impertinenten.

      Zu seinem Glück blieben die restlichen Nachbarstüren auf Stiege vier versperrt. Stiege vier beherbergte insgesamt zwanzig Wohnungen, aufgeteilt auf fünf Stockwerke und außer seiner unteren Nachbarin, die er noch nie ohne Jogginganzug gesehen hatte und welche sich ausschließlich via Aufzug vom Erdgeschoss in den zweiten Stock fortbewegte, hatte er niemanden aus seinem engeren Wohnumfeld je wirklich getroffen. Für den menschenfeindlichen Morgenmuffel aus Stockwerk drei keinerlei Negativum.

      Nun konnte er genau das Gefühl auskosten, was ihm vor gut acht Jahren vom Land in die Großstadt zog, nämlich die Unbeschwertheit der absoluten Anonymität, zwischen Arbeitsplatz und Wohnung. Ein Betonlabyrinth, ein einsames Paradies voller zwei Millionen Menschen, welche ihn nicht kannten und welche er nicht kennenlernen wollte. Zögernd stieß er die Eingangstüre des quarzgrauen Wohnblocks auf und sowie sie einen Spalt geöffnet war, bohrte sich ein Schwall von Autolärm, dröhnendes Hupen, das Bimmeln der Straßenbahnen sowie ein rauschender Strom von Menschenmassen, die sich von links nach rechts und von rechts nach links, den Weg über die pseudonymen Straßen der Hauptstadt bahnten, entgegen.

      Was für einen Landmenschen das liebliche, niemals abklingende und erdende Rauschen eines Baches oder Flusses war, war für den Großstädter der seit jeher bestehende und niemals zu versiegende Straßenverkehrslärm. Genau an so einem kalten und feuchten Februarmorgen war es für Aaron wichtig den nächsten Bus um sieben Uhr fünfzehn zu erhaschen, um einerseits der eisigen Witterung nur so kurz als möglich ausgesetzt zu sein und andererseits nicht zu spät in die Arbeit zu kommen. Das Aufbegehren der Kollegen, die ermahnenden Worte seines Chefs, all das lag ihm schon in den Ohren, als er, trotz Laufschritts, den Bus nur abfahrend von hinten betrachten konnte.

      Nun musste er, wie fast an jedem Morgen, fünf Minuten Wartezeit überbrücken, welche noch reichlich Zuwachs bekommen sollten, da er mit dem Verpassen des Busses in weiterer Folge auch die U-Bahn und dann den zweiten Umstieg auf die Straßenbahn nicht rechtzeitig erreichen würde. Traditionell fing der Langschläfer an, die Zeitung von hinten zu lesen. Den Sportteil zuerst. Zumindest konnte er sich als Letztangekommener, aber in weiterer Folge Erstwartender, einen der spärlichen Sitzplätze an der Haltestelle sichern. Vertieft in seine morgendliche Lektüre fingen seine Beine wieder an zu schlottern und die temporäre Aufwärmung, vom halbnackten in den angezogenen Zustand, verpuffte im minderen Windschutz der immerhin überdachten Bushaltestelle. Als auch noch leichter Nieselregen einsetzte und die kleinen Tropfen durch die Spalten der eher künstlerisch anmutenden, als ernsthaft schützenden, seitlichen Glasverbauungselemente, immer heftiger werdende eiskalte Böen gepeitscht wurden, ließ er seinen Blick durch die morgendliche Dunkelheit zu seinem gut fünfzig Meter entfernten Balkon schweifen. Nochmals bekräftigte er seinen, mit sich geschlossenen Pakt, gleich nach dem Heimkommen und einer warmen Dusche, wieder in sein wohlig warmes Bett zu verschwinden.

      Sukzessive füllte sich das Bushaltestellenhäuschen und aus dem geruhsamen Sitzplatz wurde für den einzelgängerischen Aaron ein unangenehmes Eckplatzgefängnis, welches ihn, durch leicht klaustrophobische Schübe bedingt, dazu veranlasste aufzuspringen und die Menschentraube in Richtung peitschendem Nieselregen zu verlassen. Vielleicht auch begründet durch sein Aufwachsen als Einzelkind vom Land, hasste er Menschenansammlungen und fühlte sich schnell unfrei, wenn ihm jemand zu nahe kam. Sitzplätze in öffentlichen Verkehrsmitteln waren da zumindest der Kompromiss, nicht mit einem Fremden Gesicht an Gesicht stehen zu müssen. Dazu hatte er sich ein eigenes System zurechtgelegt, um immer als erster in Bus, U- oder Straßenbahnen einsteigen und sich einen Sitzplatz zu ergattern.

      Über Wochen und Monate hatte der Bakterien-Phobiker genau beobachtet, wo jedes Verkehrsmittel, in welcher Station, genau haltmachte. Anhand seiner Empirie wusste er nun genau, dass der hintere Einstieg dieses Busses, in dieser Station, immer sieben Schritte von einem bestimmten Verkehrsschild entfernt