Stephan Anderson

Stadtflucht


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Sie alle Müllcontainer, Mistkübel und Abwasserrinnen in einer Umgebung von vier Häuserblocks. Aber auf Jennifer. Damit Sie nicht auskühlen!“

      Ohne sich umzudrehen nickte der Jungpolizist und zog sich die weiße Kapuze des Overalls noch tiefer ins Gesicht um seine Tränen zu verschleiern und dann hurtigen Ganges den Tatort zu verlassen.

      „Wenn Sie so weitermachen, werden Sie noch vor Ihrer Pensionierung zum Personalvertreter gewählt werden“, versuchte der glatzköpfige Weiss erneut mit einem Scherz die Stimmung zu lockern. Der noch immer vor Erregung und teerdurchtränkter Lunge schnaufende Ermittler zippte sich seinen weißen Overall auf und zog aus seiner Jackentasche einen Nikotin-Kaugummi, den er sich in den miefenden Mund schob, als er Weiss mit einer Kopfbewegung deutete, dass er sich ohne große Worte den Tatort weiter ansehen wollte. Nur mit großer Anstrengung stiegen beide über die entstellte Leiche und deren Blutseeeinbettung, bogen beim hypnotisierenden Kastenfenster rechts ab und kamen in den kleinen Konferenzsaal, in dessen Mitte sich ein langer, ovaler Tisch befand, der ringsherum von edlen Ledersesseln umrandet wurde. Sowohl in diesem kleinen Saal, als auch in der angrenzenden Küche, standen keine leuchtgelben Markierungsschilder, was darauf schließen ließ, dass keine tatrelevanten Spuren gesichert werden konnten. Trotzdem hoffte der schnauzbärtige Chef der Spurensicherung, dass das talentierte und erfahrene Auge des routinierten Kommissars noch das eine oder andere Informative sehen konnte, was ihm und seinen Mitarbeitern nicht auffiel. Der inspizierende Ulman tappte aufmerksam durch die kleine Küche, um lediglich festzustellen: „Außer, dass die volle Kaffeetasse hier steht, nichts. Das zweite Opfer hatte wohl den ersten Schuss gehört und ist dann von der Küche hinaus, um nachzusehen. Zweiter Schuss. Tot. Zusammengeklappt. Gedreht. Gewendet. Aufgeschlitzt.“

      „Das einzige was uns bleibt sind die Sohlenmuster und das Auftrittsmuster. Beeindruckend Herr Kommissar. Auch wie Sie gleich alle relevanten Fragen an den jungen Polizisten ausgegeben haben“, umschmeichelte der stets besonnene Spurensucher den wieder beruhigten Ermittler.

      „Weiss, Sie sind ein alter Großstädter, wie ich. Das schätze ich so an Ihnen. Alle Welt will zu uns, aber nur wir sind hier richtig zuhause“, entwickelte das ansonsten so raue Sozialbaukind leise Gefühle von Verständnis und zwischenmenschlicher Geborgenheit.

      „Wir haben schon einiges gesehen, oder Ulman? Hier passiert eben immer etwas.“

      „Wissen Sie was mein letzter Fall war?“

      „Leider nein.“

      „Zwei Typen sitzen in einer Kneipe in Distrikt zehn, am Tresen. Niemandem der Anwesenden fällt den ganzen Abend etwas Verdächtiges auf. Kein Streit, kein Zank. Da steht der rechts Sitzende auf, zahlt seine sechs großen Bier und geht. Zehn Minuten später kommt ein anderer Kneipengeher, bei dem am Tresen zurückgebliebenen vorbei und spricht ihn an, dass er aus der Seite blute.“

      „Ich schätze er ist gestorben, sonst wäre es nicht ein Fall für das Morddezernat geworden?“

      „Dieser Bereich des Tatorts ist gesichert?“, unterbrach der witzelnde Ulman seine Geschichte.

      „Ja.“

      „Gut, dann schauen wir mal, was die feinen Herren hier haben?“, frohlockte der trinkfeste Kommissar wie ein Kind zu Weihnachten, während er die Innenseiten des Kühl- und Gläserschrankes durchsuchte. So schnell konnte der, lediglich zu hohen Anlässen nur rotweintrinkende Doktor, gar nicht reagieren, hatte er schon ein Glas Remy Martin Louis XIII Cognac vor seinen Augen pendeln. „Ich sagte ja, die feinen Herren haben hier nur feine Sachen. Kommen Sie Herr Doktor, stoßen wir an“, forderte ihn sein ermittelnder Gegenüber freudestrahlend, wie nie zuvor an diesem Tag, auf.

      Viele Jahrzehnte musste sich Dr. Peter Weiss mit den verschiedensten und schwierigsten Charakteren herumschlagen, welche die ermittelnden Dezernate der Metropole zu bieten hatten, aber den trinkfreudigen, nun übers ganze Gesicht strahlenden und bekannt cholerischen Sebastian Ulman nun zurückzuweisen, war für den glatzköpfigen Schnauzbartträger eine kleine Mutprobe. „Immer gerne, aber das ist von einem Tatort, das können wir nicht“, gab er sich diplomatisch, um die Situation wiederum emotional zu begradigen.

      „Aha. Sie sind in den Jahren auch zu einem feinen Herrn gereift. Ich bin ein Kind des Sozialbaus, das vergesse ich nicht. Wir bekommen das schöne Leben nur zentiliterweise“, merkte der enttäuschte Kommissar gereizt an und schluckte beide, mit vier Zentiliter gefüllten Gläser, so hastig hinunter, dass sein Kaugummi gleich mitweggespült wurde. Dahinauf reinigte er beide Gläser in der Abwasche, ließ sie dort stehen und stellte die Flasche Cognac in den Kühlschrank zurück. Als Weiss, noch vollkommen perplex und wie angewurzelt in der Küche stand, begab sich der hochprozentig Gestärkte schon zurück in den kleinen Konferenzsaal, um sich erneut einen Kaugummi aus seiner Jackentasche zu holen: „Kommen Sie, ich dachte es gibt drei Leichen?“

      Beschämt, vom gerade Gesehenen, führte der oberste Spurensucher den cholerischen Kommissar, über das immer mehr in den Ritzen des Parkettbodens verschwindende Blutmeer im Zwischenraum und weiter in den Warteraum.

      „Was ist hinter den restlichen drei Türen?“, erkundigte sich der, nun zur reinen, professionellen Distanziertheit abgebogene Mittsechziger, unterdessen, spielerisch, seine schwarzen Plastikhandschuhe zusammenklatschte. Der Spurensicherer zeigte auf eine weiße Türe, gegenüber dem Zwischenzimmer und erläuterte seinem nun leisen Zuhörer, dass sich dahinter ein nicht tatrelevanter Raum voller Aktenordner-Regale befand.

      „Hinter dieser Tür ist ein Einzelbüro und hinter der vierten ein Großraumbüro. Dort ist auch die dritte Leiche gefunden worden.“

      Auf einer Fläche von acht Meter Länge und fünf Meter Breite standen drei Schreibtische, der Fensterreihe entlang, aufgefädelt. Ganz am Ende des Raumes, am letzten Schreibtisch, standen zwei Mitarbeiter der Spurensuche und schossen noch letzte Detailfotos für die Tatort-Dokumentation. Der herumblickende Kommissar, in seinem weißen Einweg-Overall, schlenderte langsam durch den großzügigen Büroraum. Sein Kopf bewegte sich hin und her, denn vielleicht konnte er noch ein Detail erhaschen, welches seine Kollegen übersehen hatten. Doch außer einigen, vertrockneten Zimmerpflanzen, Stößen von unsortiert wirkendem Papier und Akten auf dem ersten Arbeitsplatz und eine, fast schon krampfhaft penible Gegendarstellung dieser Szenerie am zweiten, fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Die luxuriöse Ausstaffierung des Raumes war dem geschulten Ermittlerauge schon von den Vorangegangenen gewohnt und bewirkte keinerlei Staunen mehr bei ihm.

      Der Regen hatte nachgelassen und die vier großen Kastenfenster, welche dem Eintretenden in das Großraumbüro begegneten, ließen nun die ersten leichten Sonnenstrahlen des Tages hereinscheinen. Wieder einmal konnte der fast schon pensionierte Kommissar seinen Blick nicht von den einfachverglasten Kastenfenstern lassen und schloss seine Augen um die wärmenden, durch die grauen Februarwolken durchblitzenden Sonnenstrahlen auf seiner faltigen Haut zu genießen. Für kurze Zeit war es so, als könnte er sich damit abfinden seinen Ruhestand anzutreten und all das Grauen seines Berufes hinter sich zu lassen. Was aber dann? Täglich Modellschiffe basteln, bis seine kleine Garconniere voll damit war oder gleich den schnellen Notausgang suchen und sich binnen einiger Jahre zu Tode zu saufen? Ein alter Mann wie er, war sich Ulman sicher, konnten nun mal nicht mehr alleine gegen das Verbrechen in seiner, millionenfach bewohnten, Heimatstadt ankämpfen und alle die es nach ihm versuchen würden, seien blondgelockte Jungpolizisten, die erstmals acht Mörder entkommen lassen würden, um aus ihren dilettantischen Fehlern die Schlussfolgerungen zur Ergreifung des neunten zu ziehen.

      Dieses Mal unterbrach ihn niemand in seiner Trancestarre. Weiss betrat zwar ebenfalls den Raum, würdigte den Versteinerten aber keines Blickes und schritt schnurstracks zu seinen beiden Mitarbeitern, die gerade mit der Beweissicherung fertig wurden, weiter. Durch das Vorbeidrängen des zielstrebigen Chef-Forensikers wurde der alternde Gedankenschwelger nun aus seiner Zukunftsausmalung gerissen. Um wieder vollständig zur Besinnung zu kommen schüttelte er seinen Kopf samt seines, mit Haarfett gebändigten und zusammengebundenen Pferdezopfes und bewegte sich ebenfalls auf den dritten Schreibtisch zu. Darunter hockte eine weibliche Leiche. Scheinbar hatte sie noch versucht sich vor dem Täter zu verstecken, musste dann aber, unter panischen Ängsten feststellen, dass ihr schlechtes Versteck ihr Todesort wurde. Die Frau, etwa Mitte zwanzig, wurde mit einem Schuss