Stephan Anderson

Stadtflucht


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mein Gott“, dachte sich, der sonst so säkularisiert auftretende Aaron, als er Polizei hörte.

      Er wollte doch immer nur ein unbeschwerliches Dasein, unterhalb des öffentlichen Radars, verleben und nun sollte er auch noch eine Vernehmung mit einem Hauptermittler durchstehen. Hätte heute Morgen doch nur sein Schweinehund den Sieg über seinen pflichterfüllenden Aufstehdrang erlangt, dann läge er vielleicht noch in seinem wohlig warmem Bett und säße nicht in einem Rettungswagen in einer Seitengasse, abgeschirmt von Kameras und Schaulustigen in der Nähe seiner, zum Tatort umfunktionierten Arbeitsstätte.

      Der Nieselregen legte sich und die Sonne ließ die ersten leichten Strahlen, durch die kleinen Rettungswagenfenster, in sein Gesicht scheinen und den ersten Schockzustand in nörgelnde Verdrossenheit umkehren. Wenn Aaron eines mehr hasste als einen heißen Großstadtsommer mit schlaflosen Tropennächten, dann war es Warten. Und nachdem ihm die Erinnerung an so einen Sommer nun ins Gesicht schien und blendete, wollte er zumindest Zweites so schnell als möglich beenden. Er streifte sich die Decke vom Rücken, öffnete die Hintertüre des Busses und stieg aus. Die beiden Sanitäter versuchten ihn aufzuhalten: „Bleiben Sie hier. Sie stehen unter Schock!“

      Als sich Aaron seine rechte Hand als Sonnensegel, auf seine Augenbrauen legte und die Sonne aufhörte sein Sichtfeld zu blenden, fand er sich in einer apokalyptischen Szenerie wieder. Keine Autos fuhren, keine Hupen ertönten, nur der Geruch von verbranntem Treibstoff hing weiterhin in der kalten Großstadtluft. Links und rechts starrten Menschen aus den Fenstern der Gründerzeitbauten im Neo-Renaissance-Stil und versuchten einen Blick auf den turbulenten Aufruhr auf der Prachtstraße und die Masse an Exekutivfahrzeugen in den Quer- und Parallelstraßen zu erhaschen. Mit fortweilender Dauer seiner Anwesenheit musste der konfuse Beäugte feststellen, dass immer mehr schaulustige Fenstergucker ihre Aufmerksamkeit nun auf ihn richteten. Wie auf der Bühne der weltberühmten Oper der Metropole kam er sich vor. Eine Feuerwalze an Logengaffern urteilten ihn von allen Seiten ab und an dem bloßgestellten Gefühl des Ausgeliefertseins an Fremde, konnten auch die blattlosen Ahornbäume, welche sich zwischen leerer Fahrbahn und verlassenem Gehsteig aufreiten, keinen Blickschutz bieten. Dieser Umstand und das Unwohlsein in seiner nass-dreckigen Kleidung, waren ihm zu viel. Wie ein Gladiator, der in der Arena den Raubtieren vorgeworfen wurde, machte er sich wieder retour zum schützenden Rettungswagen, als aus einiger Entfernung ein tiefer, kratzender Schrei sein Unterfangen unterbinden wollte:

      „Sie da, bleiben Sie wo Sie sind!“

      Schon fast wieder in sein sicheres Sichtversteck zurückgeklettert, wandte der Flüchtende seinen Blick nochmals gegen die Sonne und entgegnete verdattert: „Warum?“

      „Kommen Sie her, ich habe mit Ihnen zu reden!“, befahl der entgegenkommende Schreihals mit unverminderter, reibbrettartiger Stimmintensität, aus dem blendenden Sonnenlicht. Beibehaltend diente seine rechte Hand als Sonnenschirm und seine nun beschatteten Augen konnten zwei Männer ausmachen. Einen großen dünnen, hageren Mann, der für den eingeschüchterten, flüchtenden Gladiator wie ein arbeitsloser Trunkenbold aussah und ein, ihm schnellen Schrittes folgender, blondgelockter Polizist in perlnachtblauer Uniform. Kurz dachte er, ein Schaulustiger hätte die Absperrung durchbrochen und wollte ihm etwas antun und der Exekutivbeamte hinter ihm versuchte den, sich schnell nähernden Aggressor, davon abzuhalten. Daher intensivierte er seine Anstrengungen wieder in den Rettungswagen zu gelangen. Da packte ihn von hinten eine festdrückende Hand an seiner Schulter und zog ihn von der hinteren Stoßstange.

      „Bleiben Sie jetzt endlich hier!“, brüllte ihn der finster dreinblickende Mann mit faltigem, verbraucht-wirkendem Gesicht an.

      Der junge blondgelockte Polizist hatte den alten Unruhestifter nun endlich eingeholt und reichte ihm einen Tablett-Computer.

      „Herr Ober-Kommissar, hier alle relevanten Daten über den Zeugen“, und übergab dem erstaunten Grobian, der nun von Aaron abließ, um nach dem Bildschirm zu greifen.

      „Körner, was soll das? Ist das ein riesiges Telefon ohne Tasten?“

      „Nein, ein Tablet-PC. Sie können hier auf alle relevanten Daten und Akten des Polizeiservers zugreifen. In der Cloud. Landesweit. Mit der nötigen Berechtigung sogar auf INTERPOL.“

      „Ich will einen Akt aus Papier und Tinte, so etwas interessiert mich nicht.“

      „Den gibt es auf dem Morddezernat. Aber ich habe Ihnen den Akt des Zeugen schon geöffnet. Sehen Sie? Auf der ersten Seite stehen alle relevanten Personaldaten.“

      „Das ist mir egal!“, wetterte der, viel zu leicht für diese Jahreszeit bekleidete Choleriker gegen das technische Wunderwerk und drückte es Aaron in die Hände.

      Dieser konnte gar nicht glauben, was er da sah und hörte. Weniger der rauborstige Umgangston innerhalb der Polizei, sondern mehr die Tatsachen, dass es in der Exekutive eine interne Akte über ihn gab und dieser sichtlich ungepflegte Rüpel ein Ober-Kommissar sein sollte.

      „Mein Name ist Kommissar Sebastian Ulman, ich bin Hauptermittler in diesem Fall. Bitte werfen Sie einen Blick auf diesen Bildschirm und sagen mir, ob Ihre Daten richtig sind?“, forderte der alternde Ermittler den, in den Rettungswagen zurückgekehrten Zeugen auf. Aus Angst und Hoffnung, bald wieder nach Abhandlung dieser Formalitäten, in seine beschaulichen vier Wände zurückkehren und einen Riegel vor diese verrückte Welt schieben zu können, machte Aaron wie ihm befohlen wurde. Keinerlei Anstalten machte er, nachzufragen woher die Daten kamen oder wie es nun weiterginge, zu sehr war er vom Auftritt des cholerischen Kommissars eingeschüchtert. Mit vorbildlicher Kooperation würde er schon so schnell als möglich diesen Ort verlassen können. Während Aaron die erste Seite des Tablett-PCs mit seinen persönlichen Daten überprüfte, wandte sich der nervenlose Ulman wieder seinem jungen Kollegen zu: „Haben Sie schon Antworten für mich?“

      „Keine weiteren Zeugen, wir haben alle Angestellten der Geschäftslokale an der Prachtstraße gefragt. Bewohner aus dem Zinshaus waren keine aufzufinden. Wir haben Nachrichten an den verschlossenen Türen hinterlassen. Auch weit und breit keine Kameras, die etwas Relevantes aufzeichnen hätten können“, berichtete Körner mit zittriger Stimme.

      „Bin ich eigentlich der einzige Kommissar hier?“, wunderte sich Ulman.

      „Herr Ober-Kommissar, ja.“

      „Ich bin nur Kommissar, du Pfeife! Seid ihr sicher, dass alle befragt wurden und es keine Kameras gibt?“

      „Ja“, gab der unterwürfige Polizist, immer wieder leicht verbeugend, an.

      „Gut. Klären Sie noch Folgendes ab. Wer hatte alles einen Schlüssel für die Eingangstüre in das Zinshaus? Wer gelangt ohne Probleme in das Stiegenhaus. Den Rest mach´ ich dann schon alleine.“

      „Sind wir am Abklären. Sie bekommen eine Liste.“

      „Es kann ja nicht sein, dass Weiss und die ganze Spurensuche hinter dem Fall sind und ich bin alleine mit lauter Frischfleisch. Wie sieht es mit dem Müll aus?“, vergewisserte sich der, alles zu sehen glaubende Mittsechziger, bei dem jungen Mann, dessen Anfangseuphorie, ob des Mitwirkens an diesem Tatort, ungebremst war.

      „Es tut mir leid Herr Kommissar, aber die Müllabfuhr war heute schon hier und hat im ganzen Distrikt den Restmüll abgeholt. Nur die Papiermüll-Container sind noch voll.“

      Nun lief Sebastian Ulmans Kopf rot an und seine, eigentlich einladenden, rehbraunen Augen verschwanden hinter der Beschattung seiner gerunzelten Augenbrauen: „Das kann ja nicht Ihr Ernst sein! Los, auf zur Müllverbrennungsanlage und alles durchsuchen. Fordern Sie mindestens zwanzig Helfer an. Und Sie, Körner, werden als erster knietief im Dreck mit dem Metalldetektor unterm Arm suchen!“

      „Ja, aber was suchen wir?“, wollte sich der blondgelockte Wachtmeister vergewissern, keine Fehler in seinen weiteren Aktivitäten einzustreuen.

      Der schmale, ausgemergelte Mittsechziger packte seinen, gut einen Kopf kleineren Kollegen am Kragen und zerrte ihn einige Meter, unter den amüsierten Blicken der Schaulustigen an den umliegenden Fenstern, vom Rettungswagen weg. „Schusswaffen, Patronenhülsen, Projektile, Messer, Scheren“, flüsterte er ihm, mit gewohnt tief-räuspernder