Stephan Anderson

Stadtflucht


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nach Luft. Als der Wagen auf dem Parkplatz des sechsstöckigen Gebäudes parkte, fuhr durch den kollabierenden Zeugen wieder ein kalter, betäubender Schauer. Am Ende des Tunnels, in den er nun wieder eintauchte, war kein Licht, sondern nur Dunkelheit und diese legte sich nun über seine Augen. Nichts mehr bekam er noch mit. Nicht das Geschrei des, aus dem Auto springenden und die seitliche Verunreinigung seines französischen Oldtimers betrachtenden Kommissars und auch nicht den einsetzenden Regen, der das kahle, farb- und trostlose Ambiente der Großstadt in die vierte Dimension beförderte.

      Kapitel 5 Unmodische Aufmachungen

      Der sich verfassungsrechtlich selbsternannte Föderalstaat fand in seiner ehemals kaiserlichen Kapitale das politische, kulturelle und normative Zentrum sowie sein weltumspannendes Sprachrohr. Demgegenüber stand das provinzielle und spartanisch ausgestatte Land, dessen jahrhundertelange Prädestination es war, im peripheren Sog der hegemonialen Metropole am Strom, all sein menschliches Bildungstalent und Fiskalzuwendungen abzutreten. So, wie die staatlich unterschiedlich gewichteten Gebietskörperschaften mit sich umgingen, so behandelte Kommissar Sebastian Ulman nun auch den einzigen Zeugen der Morde in Distrikt neunzehn, Aaron Röttgers.

      „Kommen Sie, aussteigen. Mit Ihren schmutzigen Lumpen versauen Sie mir auch noch meine Ledersitze“, war der alternde Ermittler außer sich, als er die verschmierte Kotze, auf der Seite seines himmelblauen Citroen AX, schockiert wahrnahm. Peinlichkeit konnte man Aaron in dieser deplatzierten Sachlage nicht nachsagen. Vielmehr war er bekannt als positivistischer Nehmer und pessimistischer Geber von Zuneigung und Gefühlen. Der Zustand des geliebten französischen Gefährtes war ihm genauso egal, wie die pathetische Befindlichkeit des aufgebrachten Besitzers. Lediglich seine zwischenmenschliche Ausgangslage sah er in einem diffuseren Licht erscheinen.

      „Bitte entschuldigen Sie die Verunreinigung. Mir ist das alles einfach zu viel. Ich möchte nur nach Hause“, quälte er sich aus seinem Tunnel der Übelkeit und Ohnmacht in die graue Tristesse des großstädtischen Nachmittags zurück.

      „Das hätten Sie wohl gerne. Zuerst kommen Sie mit, eine Aussage machen und dann schauen wir weiter“, wies ihm der tobende Mittsechziger zurecht und zerrte den einknickenden Beifahrer aus dem beschmutzten Oldtimer. Grob, schob Ulman seinen einzigen menschlichen Anhaltspunkt in diesem Fall, zur Seite, trat seine Kotze-verschmierte Autotür mit seinen schnürsenkellosen Lederslippern zu und versperrte das Schloss per Hand, während er den taumelnden und zusammensackenden Kronzeugen mit der anderen, festhielt und austarierte.

      Ohne Widerrede folgte Aaron dem bedienten Kommissar in das Hauptgebäude der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost, welches die gegenüberliegende, blattlose Birkenallee genauso in seiner Glasfassade spiegelte, wie das defätistische, winterliche Farbloskonzept der sich rings um auftürmenden, winterlichen Hauptstadt. Die prächtigen Weihnachtsbeleuchtungen waren abgebaut und was blieb, war die nackte Realität des kahlen Februars.

      Schon im Eingangsbereich musste der rampenlichtscheue Aaron feststellen, dass alle Blicke und das Getuschel der umherschweifenden Polizisten, Beamten und Passanten auf ihn einprasselten. Nicht nur äußerlich gab er ein miserables, verschmutztes und genötigtes Bild ab, auch innerlich.

      „Wen hat Ulman da mitgebracht?“ - „Ist das der Mörder?“ - „Schau in sein Gesicht, der weiß was ihm jetzt blüht!“ – „Schaut wie ein Penner aus!“

      Egal durch welche Glastüre man den großzügigen Sechzigerjahrbau betrat, alle führten sie zu einem Eingangs-Check-Point. Sowie ein Beamter auf Aaron zukam, um ihm seinen Rucksack abzunehmen, an den er sich wie ein Kleinkind an ein Stofftier klammerte, winkte der genervte Kommissar seinen Kollegen zur Seite.

      „Der Herr hier wird oben gründlich durchsucht, da greift ihr nur Beweismittel an“, klärte Ulman den zurückweichenden Beamten, der für gewöhnlich die Aufgabe hatte alle unbekannten Eintretenden, wie an einem Flughafen-Check-In, zu durchsuchen. Körperscan und Gepäckröntgen inklusive.

      „Alles klar, Herr Kommissar, dann gehen Sie nur durch und durchleuchten Sie den Gauner im Morddezernat. Aber den Metallscan kann ich ihm nicht ersparen.“

      Gauner? Mörder? Wie eine nachgezogene und präsentierte Trophäe kam sich Aaron vor, der durch die Unangenehme der Lage wieder aus seinem Schockzustand geschliffen wurde, in welche ihn die gleiche Unangenehme befördert hatte. Wie ein Verfemter auf dem Weg zur Hinrichtung, dem alle nochmals mitgeben wollten, welch schlechter Mensch er sei. Solche Umstände kannte er in seinem Leben nur zu gut. Aber in dieser speziellen Situation fuhren ihm Erinnerungen aus seiner Schulzeit durch den Kopf. Wieder einmal war er von einem Mitschüler verpetzt worden, wieder einmal war er bei einem Streich ertappt worden, wieder einmal hatte er vermehrt den Unterricht mit unangebrachten Kommentaren gestört oder wieder einmal hatte er sich mit einem Kommilitonen am Schulhof geprügelt. Wieder einmal musste er darauf den Weg in die Direktion antreten. Wie ein Gang nach Canossa brannten sich das Getuschel der Schüler und die vorverurteilenden Blicke der Lehrer, die seinen Weg säumten, in sein Gedächtnis ein. Aber heute würden wohl nicht seine Eltern in die Schule zitiert werden, die ihm, ob seines vermehrt schlechten Benehmens, zuhause die Hölle heiß machten. Nein, heute musste er die Suppe selbst auslöffeln. „Aber eigentlich welche Suppe denn?“, dachte sich der geistesabwesende Tagträumer. Er hatte ja nichts verbrochen, außer zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen zu sein.

      Die bestimmende Stimme des Beamten riss ihn aus seinen Gedanken: „Bitte Rucksack auf das Förderband legen. Alle metallischen Gegenstände wie Mobiltelefon, Feuerzeuge, Geldbörse, Ringe und Gürtel in diese Box.“

      Mit einem tiefen Schnaufen und wankendem Körperschwerpunkt leistete der Zeuge wortlos Folge und ging dann durch den Körperscan. Alle drei Beteiligten warteten auf einen Signalton, der beim Durchschreiten des Scans ausblieb und so wurde Aaron durchgewinkt. Hastig steckte er seine metallischen Habseligkeiten wieder in die Taschen und band sich seinen Gürtel, mit der gleichen fehlenden Körperspannung um, wie er ihn mühsam ausgezogen hatte.

      Gelangweilt von der Prozedur machte sich der hetzende Ulman bereits auf den Weg zu einem von sechs Fahrstühlen, die sich nach dem Eingangs-Check-Point beidseitig an einem langen, mit Marmor ausstaffierten Gang, auffädelten.

      Aaron konnte es nicht erwarten die großzügige Eingangshalle mit ihren gaffenden und tuschelnden Zusehern zu verlassen und marschierte ihm, noch an seinem Gürtel hantierend, schnell hinterher.

      „Halt!“, pfiff der Beamte, den friedlosen Wegeilenden, hinterher, „Sie haben Ihren Rucksack und Ihre Jacke vergessen.“ Mühsam taumelte Aaron wieder einige Schritte retour, zog sich seine Daunenjacke über, brachte es im Stillstand der Aktion endlich fertig seinen Gürtel zu schließen und presste den blau-weiß karierten Rucksack wieder vor seine Brust. Ähnlich einer Schutzweste gegen seine Umgebung, hielt er das Gepäckstück vor seinen Oberkörper.

      Als sie endlich einen der geräumigen Fahrstühle betraten, verkroch sich der eingeschüchterte Zeuge in die hinterste Ecke der Kabine und umklammerte seinen Rucksack so stark, als wollte er sich dahinter verstecken.

      „Geht es ihnen schon besser?“, erkundigte sich der, erstmals höflich und besorgt agierende Kommissar und drückte auf den Knopf mit Nummer drei, zur Auffahrt in das vierte Stockwerk.

      Mit so viel Mitgefühl von diesem Mann rechnete niemand in der Fahrstuhlkabine und wohl am wenigsten Ulman selbst. Aber der, psychisch und physisch Bankrott wirkende Kronzeuge war nun mal sein erster und vielleicht einziger Anhaltspunkt zur Aufarbeitung dieses tragischen Vorkommnisses im Distrikt neunzehn.

      „Ja. Was ist denn nun genau passiert? Mir ist einfach alles zu viel. Wann kann ich nach Hause gehen?“, fragte Aaron, mit weinerlicher und jammernder Stimmlage, welche sich immer mehr zu einem Ausdruck seines gefühlskalten Schauspieltalents transformierte. Denn obwohl, weder sein Unwohlsein, noch der vermehrt hochfrequente Blutfluss in seinem Körper abflachten, kam er geistig immer mehr zu seiner pragmatischen Kontemplation zurück. Doch eines war ihm klar. Nun den abgebrühten Hartgesottenen zu spielen brachte ihn, egal was er nun in einer Befragung zum Besten gab, nicht auf schnellstem Wege in sein wohliges Schlafgemach. Folgend versuchte er die pulsierende Leere in seinem Brustkorb zu konservieren