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Windhauch aus dem Dunkeln zu spüren. Ich stockte abrupt in meiner Bewegung.

      »Wo entlang, Mama? Nach rechts oder links?«, fragte Joan ungeduldig und vertrieb damit die finstere Sinnestäuschung.

      Mit einem erzwungenen Grinsen deutete ich in Richtung des kleinen Fensters. »Nach links. Auf der linken Seite ist mein altes Kinderzimmer und auf der rechten war früher ein kleiner Raum, in dem meine Mutter die Wäsche bügelte.«

      »Was liegt auf der anderen Seite des Gangs?«

      »Geradeaus findest du die Toilette, rechts davon das Badezimmer und gegenüber diesem das Schlafzimmer deiner Großeltern.«

      Wir gingen den Flur entlang und Joan warf nochmals einen Blick zurück in die Dunkelheit. »Das muss ja riesig sein. Es belegt fast die ganze Seite des Hauses, oder?«

      »Na ja, das Bügelzimmer beansprucht zwar einen kleinen Teil«, erwiderte ich. »Aber du hast Recht, es ist verhältnismäßig groß. Wahrscheinlich liegt es an dem begehbaren Wandschrank, den meine Eltern sich einbauen ließen.«

      Bilder von dem besagten Raum zuckten durch meine Hirnwindungen. Unscharf und doch konnte ich die Silhouette meines Vaters erfassen. Groß und breitschultrig sah ich in ihn zwischen den Regalfächern und Kleiderstangen stehen. Melancholie befiel mich, denn jede Kleinigkeit schien mich an ihn zu erinnern.

      Joan öffnete die Tür meines ehemaligen Zimmers und mit einem Schlag fühlte ich mich wieder als der Teenager von sechzehn Jahren. Es war, als hätte meine damalige Flucht diesem Raum alles Leben entzogen, ihn in ein zeitloses Vakuum verwandelt. Der Lauf der Welt, gar der Zeit, war an diesem Ort aufgehalten worden.

      Auf meinem breiten Himmelbett lag die mir vertraute Steppdecke, als hätte ich sie erst vor wenigen Stunden über den Kissen ausgebreitet. Zugegeben, die Farben hatten in ihrer Leuchtkraft nachgelassen, doch noch immer war das zarte Ringelblumenmuster gut zu erkennen. Selbst die orangefarbenen Volantvorhänge, die das Himmelbett und die Fenster zierten, waren in tadellosem Zustand. Kein Riss, kein loser Faden zeigte sich an ihnen. Allein der Staub, der sich in den Falten des Stoffes angesammelt hatte, verbreitete den unverkennbaren Geruch von Vergänglichkeit.

      Mein Schreibtisch und die Regale, gefüllt mit Büchern und Nippes, waren ebenfalls so belassen worden.

      Der Zustand des Zimmers war jedoch kein Anzeichen für eine Sehnsucht nach mir, die meine Mutter hegte. Oh nein, das wusste ich. Es war lediglich Bequemlichkeit und noch Schlimmeres: Gleichgültigkeit, die sie bewogen hatte, alles so liegenzulassen. Es war ihr egal, was mit meinem Zimmer und meinen Sachen geschah. Hätte sie diesen Raum für etwas Bestimmtes nutzen wollen, hätte sie gewiss nicht einen Moment gezögert, ihn leerzuräumen und die Möbel der Müllabfuhr zu übergeben.

      Aber ich wollte mich nicht darüber beklagen, sondern war letztlich dankbar dafür, für die kommenden Nächte ein genügend breites Bett für Joan und mich zu haben.

      »Du hattest ein Himmelbett? Geil!«, freute sich meine Tochter und ließ ihre Koffer und Taschen fallen.

      Guter Dinge stellte auch ich das Gepäck ab und öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Ich raufte die Tagesdecke vom Bett und schüttelte sie kräftig außerhalb des Fensters aus. Feine Staubwölkchen stoben in einer feuchten Herbstbrise davon. Die Kissen erfuhren die gleiche Prozedur wie die Decke und nach dem ich die Matratze abgeklopft hatte, glaubte ich, den stickigen Geruch einigermaßen vertrieben zu haben.

      Joan hatte in der Zwischenzeit in den Schränken herumgestöbert und herausgefunden, dass diese lediglich Bettwäsche, aber keinerlei Kleidung enthielten. Ich vermutete, dass meine alten Kleider bei einem Wohltätigkeitsverein gelandet waren. An sich würde dies für meine Mutter sprechen, wenn ich nicht wüsste, wie skrupellos sie es verfolgte, sich in der Öffentlichkeit im besten Licht darzustellen. Das, was fremde Leute über sie oder die Familie dachten, war ihr schon früher wichtiger als alles andere gewesen. Wichtiger als ihre Tochter. Bittere Wut erwachte in mir und wirbelte schmerzende Erinnerungen aus den Tiefen empor.

       In aller Deutlichkeit konnte ich sie wieder vor meinem Bett stehen sehen. An jenem Morgen, als ich von einem schmerzhaften Ruck an meiner Kopfhaut erwachte. Niemals könnte ich den Ausdruck auf ihrem Gesicht vergessen. Mit einer Mischung aus Zorn und Befriedung hatte sie sich über mich gebeugt. Erst auf den zweiten Blick hatte ich dann die Schere in ihrer rechten Hand entdeckt und das Büschel brauner Haare in ihrer linken. Es hatte einen Moment gedauert, bis mein müder Verstand erkannte, dass es meine Haare waren, die sie in ihrer Faust hielt. Mit einem lauten Heulen hatte ich mich im Bett aufgesetzt, doch sie verzog ihren Mund voller Abscheu.

       »Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein. Ich werde es dir noch austreiben, in der Gegend herumzuhuren. Sollte mir noch einmal zu Ohren kommen, wie du den Männern hinterherjagst, rasiere ich dir den Schädel kahl. Das schwöre ich dir!«, hatte sie mich angegiftet.

       All mein Weinen nützte jedoch nichts, meine langen Wellen waren abgeschnitten. Die unterschiedlich kurzen Strähnen, die traurig von meinem Kopf herunterbaumelten, bedeckten nicht mal mehr meine Ohren.

       Für sie war der Besuch einer Abschlussfeier in der Schule Hurerei gewesen, Tanzen ein Männerhinterherjagen. Und für mich war jener Morgen letztlich der Grund, weshalb ich mich entschloss, davonzulaufen.

      Joans Seufzen holte mich in die Gegenwart zurück. »Na ja, immerhin besser als unter einer Brücke zu schlafen, oder?« Sie ließ sich auf das Bett plumpsen und beobachtete mich dabei, wie ich die Koffer öffnete. »Glaubst du, dieser Herr Karlson ist mehr als ein Freund für Großmutter?«

      Belustigend stierte ich sie an. »Du meinst doch nicht etwa ...?«

      Meine Tochter kicherte verschmitzt: »Doch. Vielleicht ist er ihr junger Stecher. Schließlich können sich auch ältere Frauen einen jüngeren Geliebten zulegen.«

      Obwohl ich noch vor ein paar Minuten die gleichen Vermutungen angestellt hatte, musste ich mir dennoch eingestehen, dass dies für meine Mutter nie in Frage kommen würde. Abwegig schüttelte ich den Kopf. »Nein, sie würde niemals etwas tun, was ihrem Ruf schaden könnte.«

      »Also, ihr verwilderter Garten ist auch nicht gerade das beste Aushängeschild.«

      Ich stimmte ihr nachdenklich zu. »Ja, wohl wahr. Aber da jeder im Ort von ihrem Schlaganfall weiß, der sie körperlich einschränkt, scheint der verwahrloste Zustand des Anwesens für sie kein Problem zu sein. Anscheinend kann sie sich es auch nicht leisten, jemanden für die Gartenarbeit anzuheuern.«

      Jäh kam mir eine Idee. »Vielleicht sollten wir ihr anbieten, den Garten wieder auf Vordermann zu bringen? Was meinst du?«

      Die Begeisterung meiner Tochter, sich durch die meterhohe Wiese zu wühlen, hielt sich augenscheinlich in Grenzen. Sie zog eine unwillige Schnute. »Wenn es sein muss.«

      Ich grinste verständnisvoll. »Ich weiß, dass das hier alles ganz fürchterlich für dich sein muss. Aber ich denke, wenn wir uns ihr gegenüber ein bisschen erkenntlich zeigen, für die Unterbringung, wird sie uns nicht völlig wie Aussätzige behandeln.«

      Zögernd nickte Joan. »Na gut.« Sie holte tief Luft, bevor sie weitersprach. »Sie ist wirklich ein alter Giftzahn. Ich kann verstehen, warum du vor ihr davongerannt bist.« Traurigkeit machte sich plötzlich auf ihrem zarten Gesicht breit. »Sie hätte dich gezwungen, mich abzutreiben, nicht wahr?«

      Betroffen hielt ich mit dem Auspacken inne, stand auf und ging zu ihr hinüber, um sie in eine Umarmung zu ziehen.

      »Nein!«, sagte ich fest und nahm ihr Gesicht zärtlich in meine Hände. »Niemals hätte ich auf irgendeine Weise zugelassen, dass sie dich mir wegnimmt. Du bist das Wundervollste, was mir je im Leben geschenkt wurde, Joan. Dein leiblicher Vater mag ein Volltrottel gewesen sein, weil er mich schwanger vor die Tür setzte, aber du bist das Beste, was er vollbracht hat.« Ihre grünen Augen glänzten feucht und ich lächelte sanft. »Und er war gar kein so schlechter Sänger.«

      Mit zittriger Stimme fragte sie halb weinend: »Besser als Paul?«

      »Ja!«, entgegnete