Kathrin Brückmann

Halbe-Halbe, einmal und immer


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      Es war erst kurz nach zehn am Vormittag. »In spätestens einer Stunde bin ich bei Ihnen«, sagte Sophie.

      Ihr Besuch beim Grundbuchamt war kurz. In einem Taxi fuhr sie über den Fluss und die Grenze nach Kystrowcze. Ihr Golf stand frisch gewaschen im Hof der Werkstatt.

      »Was war denn dran?«, sagte Sophie zu Marek.

      »Nichts kaputt«, antwortete er. »Wir haben Stecker trocken geblasen, Kontakte eingesprüht, ein paar Sicherungen ersetzt, neue Zündkerzen, einmal kärchern, halbe Stunde Arbeit. Das war alles. 40 Euro.«

      »Nur 40 Euro!?« Sophies Taxifahrten waren teurer gewesen.

      »Wollen Sie mehr ausgeben? Kein Problem«, sagte Marek.

      »Nein, nein! Vielen Dank, Marek, dass Sie meinen alten Wagen noch mal gerettet haben.«

      »Golf«, brummte er. »Gutes Auto. Nur zwölf Jahre alt. Läuft noch mal zehn.«

      Sophie bezahlte im Büro der Werkstatt bei einer hübschen Brünetten mit Rehaugen. Eine Minute später saß sie in ihrem Wagen und war auf dem Weg nach Küstrow, erleichtert und beschwingt davon, dass der alte Golf und ihre Brieftasche den Ausflug in das Schlammloch an der Grobitzer Landstraße so glimpflich überstanden hatten. Während sie fuhr, machte sie wieder einmal Bilanz.

      Was hatte sie geschafft von dem, was sie als Erbin zu erledigen hatte?

      Sie hatte die Habseligkeiten ihrer Großtante aus dem Heim abgeholt (check) und ihre Urne vom Bestatter (check). Sie hatte das geerbte Haus besichtigt (check), die Eintragung als neue Besitzerin ins Grundbuch beantragt (check) und organisiert, dass es verkauft wurde (check).

      Was gab es sonst noch, das sie tun musste?

      Nichts. Für den Moment jedenfalls war das alles.

      Und später? Sie würde sich mit dem Heim auf Ratenzahlung für die geerbten Schulden verständigen, darauf hoffen, dass das Finanzamt keine Erbschaftssteuer von ihr wollte und darauf warten, dass der Raucher in der Immobilienabteilung der Bank einen Käufer für das Haus fand.

      Das war’s dann mit ihrem Erbe.

      Und jetzt … würde sie wieder nach Hause fahren, sich schleunigst einen neuen Job suchen, auch, um die geerbten Schulden abzahlen zu können, und weiterleben wie bisher. Oder, mit einem neuen Job, besser. Ja, besser.

      Sophie sah auf die Uhr. Es war Viertel nach elf. Wenn sie vor zwölf Uhr aus ihrem Hotel auscheckte und dann gleich losfuhr, sparte sie eine Übernachtung und war in fünf, sechs Stunden wieder zu Hause. Sie würde in der kommenden Nacht in ihrem eigenen Bett schlafen. Darauf freute sie sich. Sie überlegte, Jens anzurufen, aber weil er es nicht mochte, wenn sie ihn am Arbeitsplatz anrief, ließ sie es bleiben. Es gab ja auch nichts zu sagen, außer dass sie in ein paar Stunden zurück sein würde.

      Dann los, sagte sie sich. Leb wohl, Küstrow. Sie trat aufs Gas. Noch bevor sie die Oderniederung ganz durchquert hatte, wurde der Innenraum ihres Wagens warm. Warm! Nach Jahren! Einer von Mareks Mechanikern hatte ungefragt und wie nebenbei die Heizung des Golfs wieder in Gang gebracht. Sophie konnte es kaum fassen. Sie musste nicht mehr frierend fahren. Konnte, ohne ihren dicken Mantel tragen zu müssen, hinter dem Steuer sitzen. Was für ein Luxus! Welche Erleichterung! Sie kurbelte ihr Seitenfenster herunter und rief in den Fahrtwind: »Danke unbekannter Mechaniker! Danke Marek! Danke Will Trenck, dass Sie mich ausgerechnet zu dieser Werkstatt gebracht haben!«

      16 – Sophie war an einem Sonntag

      nach Küstrow gefahren, auf nur mäßig belebten Autobahnen, und fuhr dienstags zurück, in dichtem Verkehr und entlang einer ununterbrochenen Kolonne von Lkws auf der rechten Spur. Während es in Brandenburg noch trocken war, schneite es in der Gegend von Magdeburg, und weiter westlich verwandelte sich der Schnee in fetten Schneeregen. Es wurde früh dunkel. Zweimal kam der Verkehr für jeweils eine Dreiviertelstunde zum Stehen, die Fahrzeuge rückten zusammen und machten den Weg frei für Polizei, Rettungsdienste und Abschleppwagen. Bis sie in Dortmund und vor dem Hochhaus ankam, in dem sie wohnte, war es Nacht und Sophie mehr als acht Stunden unterwegs gewesen.

      Weil sie, einmal in der Wohnung, nicht wieder raus wollte, räumte sie ihr Auto sofort aus und stapelte alles, was sie mitgebracht hatte, in den Fahrstuhl des Hauses. Dann fuhr sie in den siebten Stock. Dort schob sie ihre Fracht mit den Füßen in den Korridor, ließ sie liegen und schloss die Wohnungstür auf, um erst einmal Mantel und Tasche loszuwerden.

      Im Flur ihrer Wohnung brannte Licht, also war Jens zuhause. Bevor Sophie einen Gruß rufen konnte, hörte sie die Toilettenspülung. Sie klopfte an die Badezimmertür und sagte: »Ich bin wieder da-ha.«

      Die Tür ging auf, und in den Flur trat eine nackte Frau.

      Sophie war wie vom Blitz getroffen, sprachlos und verwirrt: Hatte sie sich in der Tür geirrt? War sie in der falschen Wohnung? Natürlich nicht. Ihr Schlüssel hatte ja gepasst.

      Die Nackte erschrak nicht und war auch nicht befangen wegen ihrer Nacktheit. Sie sagte nur: »Wer bist du denn?« Dann wandte sie sich ab und lief ohne Eile mit patschenden Füßen und wippenden Hinterbacken in Richtung des Schlafzimmers. Bevor die Tür hinter ihr zufiel, hörte Sophie noch, wie sie sagte: »Na, was ist? Kannst du jetzt wieder?«

      Jens’ Antwort war nicht zu verstehen. Sophie stand im Flur und wusste nicht weiter. Was geht hier vor?, dachte sie, wo bin ich hier? Für einen Augenblick fühlte sie sich wie in ein Paralleluniversum verschlagen. Wenn sie kurz die Wohnung verließe und dann zurückkehrte, wäre sie dann wieder in ihrer richtigen Welt?

      Dann wich ihre Benommenheit, und ihr Verstand kam wieder in Gang. Dies war die richtige Welt. Sie hängte ihren Mantel an die Flurgarderobe neben eine kleine, strahlend blaue Daunenjacke, die sie nie zuvor gesehen hatte, ließ ihre Tasche fallen und war mit wenigen Schritten an der Schlafzimmertür. Die stieß sie hart auf. Das Zimmer war gedämpft beleuchtet. Jens lag auf dem Bett, zurückgelehnt und auf seine Ellenbogen gestützt und starrte sie mit hervorquellenden Augen an. Die nackte Frau kniete vornüber gebeugt zwischen seinen Beinen und präsentierte Sophie ihre Rückseite, ein Tattoo auf ihrem Steißbein und ein Intimpiercing.

      Sophie sagte: »Raus aus meiner Wohnung!«

      Die Nackte ließ von Jens ab und wandte sich um. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und sagte: »Ist das deine Frau, oder was?«

      »Ich bin n-nicht verheiratet«, stammelte Jens.

      »Raus aus meinem Bett!« Sophie ballte die Fäuste und trat einen Schritt ins Zimmer.

      »Ist ja gut«, sagte die Nackte. Sie stand vom Bett auf und suchte ihre Kleidung zusammen. Ihr Körper war perfekt proportioniert und modelliert, vollständig haar- und fleckenlos, zart gebräunt, ohne Dellen, Dehnungsstreifen und sichtbare Adern. Sie hätte eine dieser japanischen Sexpuppen aus Silikon sein können. Ihr dummes kleines Gesicht verstärkte diesen Eindruck noch. Sie zog knöchellange Leggins an, Sneakers und einen weiten langen Pullover. Unterwäsche trug sie nicht. Die Farbe ihrer Daunenjacke passte zu den Strähnen in ihrem lackschwarzen Haar. An der Wohnungstür kramte sie in ihren Taschen nach Schlüsseln und Telefon. Sophie öffnete und stieß sie nach draußen.

      »Raus!«

      »Krieg dich ein, du Kuh«, sagte die Frau. »Ich nehme dir deinen kleinen Schnellspritzer schon nicht weg.«

      Sophie warf die Tür zu.

      Dann war sie wieder ratlos. Sie stand im Flur und wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Nichts, was sie tat würde aus der Welt schaffen, was geschehen war. Wie verhielt man sich überhaupt in so einer Situation? Gab es Ratgeberbücher, die so etwas behandelten? Was sollte sie sagen? Sollte sie Jens beschimpfen? Ihn anklagen? Weinen?

      Oder … machte sie Gewese um eine Lappalie? Treue war gestern, und Jens war mal eben fremdgegangen – na und? So etwas passierte jeden Tag und jedem irgendwann einmal. So etwas musste man wegstecken können. Aber, wie machte man das? So wie im Kino?