Kathrin Brückmann

Halbe-Halbe, einmal und immer


Скачать книгу

gab sich einen Ruck und ging in die Küche um sich Kaffee zu machen. Damit war der Gang ins Schlafzimmer erst einmal aufgeschoben. Während sie auf den Wasserkocher wartete, hörte sie Jens zur Toilette gehen. Mit angehaltenem Atem bereitete sie sich innerlich darauf vor, dass er danach in die Küche kommen würde. Das tat er aber nicht. Warum nicht?

      Sophie rätselte. Fürchtete er sich vor einer Auseinandersetzung? Oder war sie, Sophie, ihm bereits so gleichgültig, dass er sich nicht mehr die Mühe machte, sich mit ihr auseinanderzusetzen? Oder tat er, als wäre nichts geschehen, und verlangte damit von ihr dasselbe? War es das, was von ihr erwartet wurde? Und wenn – wie sollte sie von nun an mit Jens umgehen? Wie ging das, ganz praktisch, einen Seitensprung … Seitensprung – was für eine idiotische Bezeichnung für die schlimmste Kränkung, die man jemandem antun kann, der liebt und vertraut … wie ging das, einen ›Seitensprung‹ hinzunehmen und auszuhalten? Um eine Beziehung zu retten und sechs Jahre Leben nicht als verschwendet abschreiben zu müssen … Sophie hatte keine Ahnung. Sie hatte keine Erfahrung mit untreuen Partnern und mit dem Zusammenleben im Schatten der Untreue.

      Der Kaffee war fertig.

      Dann los, sagte sie sich. Egal, was jetzt kommt, ich werde nicht weinen. Mit einer Tasse Kaffee, an der sie sich krampfhaft festhielt, machte sie sich auf den Weg zum Schlafzimmer. Es war nicht Streitlust oder Rachedurst, was sie antrieb, auch nicht die Suche nach Gründen (Warum? Waru-um?) oder gar der Impuls, sich zu unterwerfen (Bitte, bitte verlass mich nicht …). Sie wollte nur einfach nicht kneifen, nicht vor sich selbst schlecht dastehen.

      Jens lag seltsamerweise noch immer nackt im Bett, aber die untere Hälfte seines Körpers war jetzt mit einem Laken bedeckt. Sophie zitterte vor Aufregung am ganzen Körper und fürchtete, dass ihr jeden Augenblick die Kaffeetasse aus der Hand rutschen würde. Trotzdem gelang ihr eine lässige Eröffnung. Sie lehnte sich an den Türrahmen, denn ihre Knie waren weich, und sagte: »Wartest du auf jemanden?«

      Statt einer Antwort sagte Jens: »Du warst nicht hier.«

      »Ja, und?«

      »Ich hatte ein Bedürfnis.«

      Was? Der verdruckste kleine Satz machte Sophie gegen ihren Willen ärgerlich.

      »Das musstest du dann sofort ausleben, oder wie? Konntest du nicht warten, bis ich wieder zurück war?«

      »Du bist so ungeil«, sagte Jens.

      Sie begriff nicht sofort, aber dann war ihr, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. Sie wandte sich ab und schloss die Schlafzimmertür. Im Flur stellte sie mit zitternder Hand die Kaffeetasse ab. Danach wusste sie erst einmal nicht weiter. In ihrem Kopf ging alles Drunter und Drüber. Eine halbe Minute lang kämpfte sie um Ordnung in ihrem Denken, und der erste klare Gedanke, den sie fassen konnte, war, dass sie gerade aus ihrem bisherigen Leben vertrieben wurde. Mit drei kurzen Sätzen, bösartig wie Hiebe. Ich kann nicht hierbleiben, dachte sie, hier ist kein Platz für mich. Ich kann mich heute Abend nicht zu diesem Mann ins selbe Bett legen, ich kann die Wohnung nicht mit ihm teilen. Ich muss weg von hier, dachte sie, und zugleich fürchtete sie, dass sie, wenn sie ginge, nicht mehr zurückfinden würde. Lange Sekunden brauchte sie ihre ganze Kraft dafür, Tränen zurückzuhalten. Dann zog sie ungeschickt ihren Mantel wieder an und schlang sich ihre Tasche um. Sie verließ die Wohnung, schob das, was sie aus Brandenburg mitgebracht hatte, zurück in den Lift und fuhr wieder nach unten. Bis ihr kalt wurde, saß sie untätig in ihrem Auto und wagte nicht loszufahren, aus Angst, in ihrem aufgewühlten Zustand einen Unfall zu bauen.

      17 – Sophie kannte einige Leute,

      bei denen sie unterkommen konnte. Sie war eine beliebte Kollegin gewesen und hatte auch noch ein paar Freunde jenseits der Arbeit. Aber die liebste und älteste Freundin von allen, fast schon eine Schwester, war ihr eine Schulkameradin, mit der sie neun Jahre in eine Klasse gegangen war. Zwar sahen sie sich nicht mehr so oft wie früher und jedes Jahr ein wenig seltener, aber ihre Verbundenheit hatte nicht darunter gelitten.

      Sabine Koch war die Art von Frau, die gewöhnlich nach vorn geschoben wird, wenn es gilt, bei Publikum und Kunden gut rüberzukommen – an einer Rezeption, am Tresen einer Sprechstunde, im Mittelgang eines Fliegers, an Messeständen. Nicht zu groß und nicht zu klein, schlank, stewardessenblond und eher gutaussehend als hübsch schien sie wie dafür geboren, schwarze Hosenanzüge und dunkelblaue Kostüme zu tragen. Sie brach ein ›Bullshit-Studium‹, wie sie es nannte, nach dem zweiten Semester ab, wurde Physiotherapeutin und lernte in einer Rehapraxis ihren Mann kennen. Holger, ein Ingenieur, ein freundlicher Riese, der Handball spielte, kurierte mit Sabines Hilfe einen Schlüsselbeinbruch aus. Sie wurden rasch ein Paar, heirateten, und kaum, dass der Pfarrer Sie-dürfen-die-Braut-jetzt-küssen gesagt hatte, war Sabine schwanger. Drei Jahre später kündigte sich das zweite Kind an. Mit seinen Ersparnissen, finanzieller Hilfe aller Eltern und einem Bankkredit kaufte das Paar ein Haus mit Garten in einer der älteren Speckgürtelgemeinden im westfälischen Umland der Stadt. Das Haus war nicht wirklich alt, aber aus der Zeit, als Waschbeton noch in Mode und Öl noch billig war. Eine neue Heizung, moderne Fenster und Rundumdämmung verschlangen das letzte Geld der beiden. Den großen Rest der Renovierung im Inneren des Hauses unternahmen sie in ihrer Freizeit selbst, was praktisch bedeutete, dass sie in einer Baustelle lebten.

      Das sagte Sabine auch Sophie am Telefon. »Komm und bleib, solange es nötig ist, aber du wirst mit uns auf einer Baustelle wohnen.«

      Eine halbe Stunde später umarmten sie sich an der Haustür. Das war nicht einfach, denn Sabine war im neunten Monat. Hinter ihr im Flur hüpfte eine blonde Dreijährige im Schlafanzug wie aufgezogen herum und rief immer wieder Sophies Namen. Die ging in die Knie und drückte auch die Kleine an sich. Die Umarmungen, besonders die des Kindes, brachten sie fast um ihre Fassung. Noch einmal musste sie sich mit aller Macht zusammennehmen, um die Tränen zurückzuhalten. Sie wollte das kleine Mädchen nicht traurig machen.

      Die Versammlung verlagerte sich ins Innere des Hauses. Alle sprachen durcheinander.

      »Sophie! Sophie!« (Hüpf, hüpf).

      »Mariechen! Schätzchen, was bist du groß geworden!«

      »Marie! Ab ins Bett!«

      »Mama, Mama, ich will noch aufbleiben, weil die Sophie da ist!«

      »Die Sophie ist morgen auch noch hier. Ins Bett. Los, sofort!«

      »Lass sie doch noch ein paar Minuten.«

      »Nein«, sagte Sabine. »Sonst kriege ich sie morgen früh erst nicht aus den Federn, dann schläft sie im Kindergarten noch vor Mittag wieder ein, und ich habe die verdammten Erzieherinnen am Telefon, die wissen wollen, was mit dem Kind nicht in Ordnung ist.«

      »Sophie soll mich ins Bett bringen!«

      »Ich bringe dich ins Bett, Mariechen«, sagte Sophie. »Lass mich nur meinen Mantel ausziehen.«

      »Und vorlesen!«

      »Da hast du’s«, sagte Sabine zu Sophie. »Eher wird sie jetzt ohnmächtig, als dass sie einschläft.«

      Tatsächlich aber fielen dem Kind die Augen zu, kaum dass Sophie zu lesen begonnen hatte. Sie fuhr noch ein paar Minuten mit gedämpfter Stimme fort, bis die Atemzüge der Kleinen regelmäßig und tief waren. Dann stand sie auf und schlich aus dem Zimmer. Sie ließ ein kleines Nachtlicht brennen und die Tür einen Spalt weit geöffnet.

      Maries Zimmer und ein Bad waren die einzigen Räume im Obergeschoss des Hauses, die schon vollständig renoviert und endgültig eingerichtet waren. Sophie suchte sich leise einen Weg über ausgelegte Plastikplanen an Leitern, Werkzeug und Farbeimern vorbei zurück ins Erdgeschoss. Sabine wartete im Wohnzimmer und hatte Tee gemacht. Holger war von irgendwoher aufgetaucht.

      »Tee?«, fragte Sabine.

      »Hallo Sophie«, sagte Holger. »Wein?«

      Sophie entschied sich für Wein.

      »Nun erzähl mal«, sagte Sabine.

      Sie hatten zuletzt an Weihnachten