Thomas Hoffmann

Schatten der Anderwelt


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„Für ein paar tausend Altenweiler bist du gerade rechtzeitig gekommen, Junge. Du hast die Stadt gerettet.“

      Norbert wusste, dass es nicht so war. Er brauchte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte.

      „Es... es hätte überhaupt nicht passieren müssen. Dreyfuß hatte gesagt, die Zeit um die Frühlingsfeier wäre günstig für Anderweltfahrten. Er befahl mir, rechtzeitig zurück zu sein. Wenn ich da gewesen wäre...“

      Mit entschiedener Stimme erwiderte Gordon: „Nein, Norbert! Glaube nicht, du könntest Schicksal spielen. Wir sind bloß Wanderer in dieser Welt. Ihren Fortgang zu bestimmen, ist niemandem von uns gegeben!“

      Im Schweigen im Raum auf Norberts Worte klang die Stimme des Wirts seltsam laut. Jemand hielt Norbert einen Bierhumpen entgegen. Norbert trank gierig und musste laut aufstoßen. Gedankenverloren wischte er sich Bierschaum vom Kinn. Das Bier stieg ihm schnell in den Kopf. Vielleicht hatte Gordon recht. Aber sie konnten nicht wissen, was er wusste...

      „Wenn jemand schuld ist an der Katastrophe,“ knurrte der Alte, „dann Anton Dreyfuß. Er hätte um die Folgen seiner wahnsinnigen Experimente wissen müssen. Aber wenn man seinem Verwalter glauben will, hatte er schon lange den Verstand verloren. In den letzten Tagen soll er völlig wahnsinnig geworden sein.“

      Norbert blickte überrascht auf.

      „Du hast mit Telluk gesprochen?“

      „Er war hier,“ hauchte die Hellgrünäugige. „Er hatte sich hier für eine Nacht ein Zimmer gemietet, bevor er vorgestern abgereist ist. Er sagte, er wolle nach Karrakadar, zu seinem Volk. Die Kiepe voller Bücher, die er aus dem Turm mitgenommen hat – ich glaube nicht, dass Anton Dreyfuß ihm diese Bücher geschenkt oder verkauft hat. Telluk sagte voraus, dass es ein Unglück geben würde.“

      Sie sah Norbert mit ihrem seltsamen Blick in die Augen.

      „Du hättest niemanden gerettet, wenn du hier gewesen wärst. Du wärst gestorben – wärst hinabgerissen worden, wie dein Lehrmeister!“

      Auch so schon wäre es um ein Haar über seine Kräfte gegangen.

       Die Bannsprüche, die Dreyfuß ihm beigebracht hatte zur Vertreibung von Schwarzalben und Nachtmahren aus den Häusern von Altenweiler Bürgern und Handwerkern, konnten der Banshee nichts anhaben. Mit Mühe und Not konnte Norbert sich mit dem Schwert der Angriffe ihrer Klauen und ihres Rachens erwehren. Als das dunkle Blau der Anderwelt rings umher aufstieg, wusste er, dass sie ihn hinüber gezogen hatte...

      Er konnte sich nicht erinnern, wie er darauf gekommen war, die Lebensmagie des Hexenmeisters anzuwenden.

       ...War da der Ruf eines Mädchens in seinem Rücken?

      „Der Ritualgesang des Lebens! Schnell, Bert! Ehe sie dich tötet!“

       Nach den Wochen unerbittlicher Schulung in Darulans Haus, diesem Vorort der Hölle für jene, die dort gefangen waren, sprangen Norbert die Zauberformeln wie von selbst ins Bewusstsein.

      „Gemyne dhu mucwyrt, hwaet thu ameldodest...“

       Das grausame Kreischen der Banshee, als sie vor seinen Augen zum morschen Skelett zusammenschrumpfte, zu Staub zerfiel. Als er die von Rauchschwaden erfüllte Luft des diesseitigen Abends schmeckte, konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten. Kniend stützte er sich auf sein Schwert, um nicht zusammenzubrechen und das Bewusstsein zu verlieren.

      Die Stimme der Frau, die bei Norberts eintreten Harfe gespielt hatte, riss Norbert aus seinen Erinnerungen.

      „Nimm etwas zu essen zu dir. Später kannst du uns immer noch berichten.“

      Das schmale Gesicht der Bardin mit den weit auseinanderliegenden Augen irritierte Norbert. Einem Moment lang glaubte er, er müsse sie irgendwo schon einmal gesehen haben. Er stand auf und ging zum Tisch. Er spürte keine körperliche Schwäche mehr, aber er hatte furchtbaren Hunger. Er machte sich über Fleischsuppe, Brot, Käse und Bier her, die ihm zugeschoben wurden. Während er aß, beobachtete er die Bardin im Augenwinkel. Sie war groß und sehr schlank, beinahe schmal in der dünnen, rußverdreckten Lederjacke, die sie eng auf dem Leib trug. Das glatte blonde Haar hing ihr in schmutzigen Strähnen ums Gesicht. Schweigend und mit unbewegter Miene nahm sie Anteil an dem leisen Gespräch, das am Tisch geführt wurde. Und mit einem Mal wusste Norbert, an wen sie ihn erinnerte: Sie hatte dasselbe Gesicht wie die Geister in den Ruinen des Elbendorfs in der Flussaue nahe Wildenbruch, seiner Heimat im Gornwald - seiner ehemaligen Heimat, korrigierte er sich bitter. Inzwischen bestand auch Wildenbruch nur noch aus verfallenen Hütten. Ob jetzt auch dort die Geister der verhungerten Familien umherwandelten, auf der verzweifelten Suche nach einem verlorenen Leben? Grausen erfasste ihn und er zwang sich, an anderes zu denken.

      Sarah kam herein, nahm sich einen Stuhl vom Nebentisch und setzte sich zwischen Norbert und einen rothaarigen Mann in den Vierzigern mit müden Gesichtszügen. Norbert hielt ihn für einen Wilderer, wegen des Waidmessers in seinem Gürtel. Norbert rückte ein wenig zur Seite, um Sarah Platz zu machen. Sie betrachtete ihn ernst und aufmerksam.

      „Du bist lange fort gewesen.“

      Norbert nickte. Er schluckte den Bissen herunter, den er im Mund hatte.

      „Ja. Ich hab gedacht, ich könnte innerhalb einer Woche zurück sein. Die alte Elena, bei der Melanie und ich Sterntags das Zimmer gemietet haben, hatte mir von jemandem erzählt, der die Zauberformeln weiß, nach denen Dreyfuß suchte.“

      Am Tisch wurde es still. Alle Augen richteten sich auf Norbert. Im schütteren Licht des Kienspans auf dem Tisch zeichneten sich die Gesichter der Zuhörer kaum vor der Dunkelheit im Raum ab. Von der anderen Seite des Tischs blickte Gordon Norbert mit dem klaren, festen Blick seines gesunden Auges an.

      „Ich wusste ja nicht, was mich erwartet,“ flüsterte Norbert. „Ich war am Rand des Gebirges im Norden des Gornwalds. Ich glaube, es ist das Laendorgebirge.“

      Jemand nickte.

      „Drei Wochen lang war ich bei Darulan gefangen. Er hat mir den Ritualgesang beigebracht, mit dem ich die Banshee im blauen Feuersturm in die Anderwelt zurück bannen konnte. Aber er brachte sie mir nur deshalb bei, weil er mich abhängig machen und in seine blutige Magie initiieren wollte. Wie Linda und Ruth, die er bei sich gefangen hält – hielt,“ korrigierte er sich.

      Bei der Erwähnung von Ruth bekam er einen Kloß im Hals. Ruth war tot. Erschlagen von seinem Schwert. Er bezwang die Schuldgefühle, die ihn überkamen.

      Mit belegter Stimme erklärte er: „Erst vorgestern ist mir die Flucht gelungen.“

      Es war nur die halbe Wahrheit. Er wollte Lonnie nicht erwähnen. Gordon und Sarah wussten ohnehin von ihr.

      „Erzähl uns mehr darüber, Junge,“ forderte der weißhaarige Alte, aber Gordon winkte ab.

      „Nein, du bist müde und abgekämpft, Norbert. Morgen Abend kannst du mehr berichten, wenn du willst. Aber heute ruhe dich aus. Selbstverständlich übernachtest du hier.“

      Der einäugige Wirt blickte Norbert fest an.

      „Quäle dich nicht wegen dem, was dir widerfahren ist. Du hast Großes geleistet.“

      Gordons Worte waren Balsam für Norberts von Schuldgefühlen und Horrorträumen zermarterte Seele. Norbert fragte sich schon lange nicht mehr, wie der Wirt der Abenteurertaverne Zum schwarzen Raben es immer wieder zustande brachte, ihm mit wenigen Worten Mut zu machen, wenn er allen Mut verloren hatte. Er nickte und atmete durch.

      „Ja. Danke für den Schlafplatz. Ich muss morgen vor Morgengrauen wieder los.“

      Zweifelnd fragte Sarah: „Warum musst du wieder los? Wohin?“

      Norbert blickte auf die Tischplatte.

      „Heute ist doch Sterntag,“ druckste er. „Ich... ich war vorhin noch beim Haus der alten Elena. Ich dachte, vielleicht wartet Melanie auf mich in unserem Zimmer. Aber im Fenster war kein Licht. Morgen in der allerersten