Thomas Hoffmann

Schatten der Anderwelt


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die Lattentür.

      Im Bad brannte eine Kerze auf dem Rand des dampfenden Waschbottichs. Die Harfenspielerin beugte sich über einen mit Wasser gefüllten Eimer und wusch ihr Haar. Ihre Kleider lagen zusammengelegt auf der Holzbank an der Wand. Wasser glänzte auf ihrer hellen, nackten Haut. Norbert stolperte zurück.

      „Oh, Verzeihung.“

      Die Bardin richtete sich auf. Mit unverstellter Offenheit schaute sie Norbert ins Gesicht.

      „Nein, ist doch in Ordnung. Komm rein. Es ist genug heißes Wasser da. Schöpf dir einen Eimer voll und wasch dich.“

      Sie versuchte in keiner Weise, ihre Blöße zu verbergen, wie Norbert es von den Mädchen in Wildenbruch gewohnt war, wenn man sie beim Baden im Fluss ertappte - die einen, indem sie sich scheu davonstahlen, andere kreischend, wenn sie wollten, dass man sie ansah und hübsch fand. Die hochgewachsene schlanke Frau, Norbert schätzte sie um die Dreißig, stand völlig selbstverständlich vor ihm, als wäre es das Normalste der Welt für sie, nackt zu sein.

      „Ich hasse es, dreckige Haare zu haben,“ meinte sie zwanglos. „Du kannst meine Seife benutzen, wenn du willst.“

      Norbert musste sich zwingen, nicht auf ihre festen, kaum vorgewölbten Brüste oder den hellblonden Haarbusch ihres Schoßes zu starren.

      Völlig überrumpelt stotterte er: „Nein, nein, schon gut, ich... ich wollte nur... Entschuldigung, tut mir leid!“

      Rückwärts tastete er sich zur Tür zurück, rempelte gegen den Türrahmen und stolperte hinaus.

      „Ach, das ist doch dumm!“ rief sie ihm nach.

      Norbert antwortete ihr nicht. Wie benommen durchquerte er den Schankraum, zerrte sich Wolljacke und Lederjacke über, gürtete sein Schwert um und trat auf die dämmerige Mauergasse hinaus.

      Die engen, verwinkelten Gassen des Armenviertels lagen noch im Dunkeln. Über den Dächern ging der Nachthimmel in tiefes Blau über. Ein erster Streifen Helle lag über den Stadtmauern im Osten. Die Zinnen der Burg hoch über der Stadt glänzten bereits im frühen Sonnenlicht.

      Wütend über sich selber stapfte Norbert durch den Gassendreck. Aschenflocken trieben in der Luft. Es roch nach kaltem Rauch. Noch war niemand in den Gassen unterwegs. Das Viertel lag wie in bleierner Ermattung nach dem Horror der Brandkatastrophe. Hinter Lattentüren war das Kratzen von Aschenschaufeln zu hören, wo Hausfrauen die Feuerstellen reinigten, um anzufeuern. Hier und da riegelte eine müde Frühaufsteherin die Hüttentür auf und leerte den Nachttopf auf die Gasse.

      Nun musste Norbert Melanie doch so dreckig begegnen, wie er war. Nicht einmal das Gesicht hatte er sich abgespült. Die Selbstverständlichkeit der Harfenspielerin hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht. Er ärgerte sich, dass er sich so überrumpeln lassen hatte. In dieser Stadt, in der ein Mann und eine Frau nicht Hand in Hand auf der Gasse gehen, geschweige denn sich in der Öffentlichkeit küssen durften, in der es verpönt war, dass unverheiratete Paare sich trafen, weswegen Melanie und Norbert Elenas Haus nur durch die Hintertür betreten konnten, in dieser Stadt, in der die Frommen eifersüchtig darüber wachten, dass niemand abfällig über ihren schrägen Glauben sprach, der sich um einen Mythos von einer Jungfrau und einem weißen Hirschen drehte, hier in Altenweil hatte Norbert, gewohnt an die freien Sitten seines Heimatdorfs, sich immer für vorbildlich freizügig gehalten. Und heute früh war plötzlich er selber der Verklemmte! Es passte nicht in sein Bild von sich selbst. Er hätte ins Bad gehen sollen, ohne die Bardin weiter zu beachten, und hätte sich waschen sollen, wie sie vorgeschlagen hatte. Aber was wäre gewesen, wenn sein Körper auf ihre Nacktheit reagiert hätte? Es wäre ihm unendlich peinlich gewesen.

      Als er durch die Lücke zwischen zwei Häusern in den Hof hinter Elenas Haus trat, drängte er die miteinander hadernden Gedanken beiseite. Mit klopfendem Herzen schaute er zu dem schiefen Fachwerkhaus hinüber. Im kleinen Fenster im Obergeschoss brannte kein Licht. Er legte die Hand an den Schwertgriff. In den dunklen Hinterhofecken waren nur noch schwache Regungen jenseitiger Schatten wahrnehmbar. Norbert holte Luft und schritt über den Hof zur Hintertür. Sein Herz begann zu rasen, als er anklopfte.

      Nur einen Atemzug später wurde die Tür geöffnet. Die bucklige Alte im Türrahmen blickte Norbert seltsam sanft aus ihrem runzligen Gesicht an. Mutter Elenas Haar war wirr und ihr Lumpenkleid roch schlecht wie immer.

      „Kommst die alte Elena besuchen, guter Junge. Komm herein,“ raunte sie.

      „Ist Melanie da?“ fragte Norbert hastig.

      Er hatte jetzt nicht den Nerv, sich darüber zu wundern, warum sie nicht war, wie sonst. Norbert kannte sie nur als halb verrückte, kichernde Hexe mit schalkhaft blitzenden Augen. Die Alte drehte sich um und humpelte in den dunklen Flur zurück.

      „Wirst's gleich erfahren,“ murmelte sie.

      Ungeduldig kam Norbert ihr nach. Vor der Stiege nach oben blieb er stehen.

      „Ich will ja nur wissen, ob sie da ist. Damit ich ihr kurz Hallo sagen kann und dass ich wieder zurück bin. Sie muss ja gleich zu ihrer Dienstherrschaft.“

      „Braucht nicht mehr zu ihrer Dienstherrschaft, das liebe Kind,“ raunte Mutter Elena.

      „Wie?“ Norbert stutzte. „Ist sie nicht mehr Zimmermagd bei dem Ratsherrn Hohenwart?“

      Elena öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Der entsetzlich vertraute Geruch schwarzmagischen Kräuterrauchs ließ Norbert mit einem Schlag hellwach und aufmerksam werden.

      „Komm herein zur alten Elena, Junge. Sollst's gleich erfahren,“ krächzte sie.

      Sie war eine Schwarzhexe! Wie Darulan! Wie Linda und Ruth! Er hätte es ahnen müssen. Und Melanie hatte ihr vertraut!

      „Wo ist Melanie?“ schrie er. „Wo ist sie?“

      Norbert konnte die Gesichtszüge der Alten im dunklen Flur nur schwach ausmachen vor dem rötlichen Flackern des Kaminfeuers aus der Tür zu ihrem Zimmer. Da war dieser sanfte, beinahe traurige Blick in ihren tiefliegenden Greisenaugen.

      „Nicht hier,“ flüsterte sie.

      Sie drehte sich um und humpelte ins Zimmer.

      „Elena erzählt's dir am Feuer, nicht im kalten Flur. Die alten Knochen tun ihr weh in der Kälte.“

      Es war nicht kalt. Norbert war siedend heiß.

      „Nicht hier?“ schrie er ihr hinterher. „Wo ist sie? Hast du ihr was angetan?“

      Mit der Faust den Schwertgriff umklammernd ging er ihr nach ins Zimmer. Die magische Wirkung des weißen Kräuterrauchs aus dem Kamin traf ihn mit Wucht. Er musste seine gesamte Konzentration aufbringen für den Abwehrspruch.

       Rhe!

      Alles im Raum kam ihm grausam bekannt vor: die Messer auf dem Tisch zwischen Tonschalen mit dunklen Krusten, die Kräutersäckchen, die von den Deckenbalken hingen. Die Fenstervorhänge waren zugezogen und im unsteten Flackern des Kaminfeuers konnte Norbert nicht erkennen, ob es Ledersäckchen waren, Rattenmumien oder Schlimmeres, was von der Decke hing. Die Hexe setzte sich in den Lehnstuhl am Kamin. Sie schnalzte leise mit der Zunge.

      „Jungchen, Jungchen!“ raunte sie sanft. „Mutter Elena tut den Schankmädchen nichts zuleide. Sie hilft ihnen. Hat es dir dein Liebchen nicht erzählt? Die Mädchen kommen, wenn was Lebendiges in ihnen wächst, und sie wollen's nicht haben. Die alte Elena nimmt's ihnen weg!“

      Norbert schnürte es die Kehle zu. Er musste sich zusammenreißen, damit ihm nicht schlecht wurde. Er mochte nicht mehr zur Decke blicken. Der Rauch aus dem Kamin begann, ihn benommen zu machen. Seine Stimme war belegt.

      „Was ist mit Melanie?“

      Die Hexe deutete auf einen Schemel gegenüber dem Lehnstuhl. Ohne die Hand vom Schwertgriff zu nehmen, hockte Norbert sich hin. Er formulierte einen weiteren Abwehrzauber mit den Lippen, um einen klaren Kopf zu behalten.

      Die Greisenstimme hauchte: „Hat geweint, das arme Kind, als du nicht