Thomas Hoffmann

Schatten der Anderwelt


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der stumm der Unterhaltung folgte. Norbert stand auf.

      „Also, vielleicht – nein, ich glaub nicht. Vielen Dank für das Frühstück. Wenn...,“ er drängte Tränen zurück, „wenn noch eine Nachricht von Melanie kommen sollte, bitte, gebt im Eisernen Heinrich Bescheid. Da bin ich manchmal.“

      Den Schwarzen Raben nannte er lieber nicht. Er wusste, dass Gordons Schänke in der Stadt verrufen war.

      „Ja, Junge,“ antwortete der Verwalter. „Überlege dir das mit der Geisteraustreibung. Der Ratsherr wird ab der sechsten Stunde nach Mittag im Haus sein.“

      An dem abgöttisch staunenden Sabinchen vorbei ging Norbert zur Hintertür hinaus.

      Vor der Toreinfahrt blieb er stehen. Seine Glieder waren schwer, als ob Gewichte an ihnen zerrten.

       Aus. Vorbei. Alles aus. Stern meiner Geburt, was soll nun werden?

      2.

      Norberts Füße fühlten sich schwer an wie Blei, als er zögernd aufs Geratewohl vom Platz abbog in eine der Seitengassen, die hinabführten in den unversehrten Teil der Unterstadt. Er achtete kaum auf seinen Weg. Sein Kopf war leer bis auf den einen Gedanken, der ihm mit jedem Schritt wieder und wieder durch den Kopf ging.

       Aus. Was soll nun werden?

      An der Eingangstür eines zweistöckigen Herrenhauses sprach ein Mönch in weißer Kutte mit dem Hausherrn.

      „Gebt ein Almosen für die Bedürftigen, Herr. Das Kloster trägt schwer an der Bürde, sich um die große Not in der Stadt zu kümmern.“

      Der Hausherr bedachte den Ordensbruder mit kalten Blicken.

      Schmallippig, aber sehr höflich antwortete er: „Mein Diener ist bereits mit Decken und Brot zum Marktplatz unterwegs. Danke dennoch, heiliger Mann, dass du mich an meine Pflicht, den Armen zu geben, erinnern wolltest. Du siehst, ich habe bereits selbst daran gedacht.“

      Der Mönch verneigte sich würdevoll, während der Hausherr die Tür schloss. Aus dem Nebeneingang zur Küche winkte eine Magd dem Mönch. Verstohlen gab sie ihm ein paar Münzen in die Hand. Der Ordensmann lächelte milde.

      „Der Segen der heiligen Mutter möge auf dir ruhen, du Gutherzige.“

      Durch Nebengassen verließ Norbert die Oberstadt. Er wollte nicht über den Markt gehen, wo jedermann ihn zu kennen schien und überall hinter seinem Rücken über ihn getuschelt wurde. Eine Seilergasse entlang ging er zwischen eng stehenden, vom Alter schiefen Fachwerkhäusern hindurch. Die Reepschläger, die die Arbeit an den langen Bahnen wieder aufgenommen hatten, da der Stadtbrand gelöscht war, nahmen kaum Notiz von ihm. Norbert war froh darüber.

      An einer Häuserecke, an der zwei Gassen im spitzen Winkel in die Reeperbahn einmündeten, standen Holzbänke am Brettertisch eines Ausschanks. Junge Gesellen und Hausknechte saßen beim Pausenimbiss. Sie hatten bereits mehrere Stunden Tagesarbeit hinter sich. Norbert setzte sich ans Ende der Bank. Der Schankwirt, ein graubärtiger Alter in schmieriger Schürze mit ungewaschenen Händen und dreckigen Fingernägeln brachte dünnes Bier, ohne nach einer Bestellung zu fragen. Seine Stimme war kratzig.

      „Willst du Schmalzbrot zum Frühstück?“

      Norbert schüttelte den Kopf. Der Wirt wischte seine Hände an der Schürze ab und ging zum Tresen zurück, um weiter Brote zu schmieren. Es würden noch genug Hungrige kommen.

      Eine Armeslänge von Norbert unterhielten sich zwei Handwerkerburschen.

      „Heute früh in der Torgasse haben sie zwei Diebe gelyncht. Aus dem Hinterhof von einem der Häuser, in denen die Markgrafenknechte alles kurz und klein geschlagen und die Räume unter Wasser gesetzt haben, haben sie die Diebe auf die Gasse gezerrt und mit Latten und Schürhaken totgeschlagen. Brave Städter, Handwerkermeister, Ladenbesitzer, sogar ein paar Weiber waren dabei. Haben die beiden geschrien! So weit ist es mit Altenweil gekommen, Karl!“

      Sein Zuhörer stupste den Burschen an und deutete mit einer Kopfbewegung auf Norbert. Beide starrten Norbert an. Norbert blickte mit zusammengebissenen Zähnen auf seinen Bierhumpen. Der Handwerkerbursche nickte seinem Gesellen zu und die beiden nahmen ihr Gespräch wieder auf. Norbert registrierte es erleichtert.

      Das lauwarme Bier schmeckte schal. Es war Norbert egal. Er trank den Humpen aus und winkte dem Wirt, einen zweiten zu bringen. Der Wirt stellte einen Teller Schmalzstullen neben das Bier. Im Schmalz waren die Abdrücke seiner Daumen zu sehen. Norbert kaute die Stullen, ohne recht zu merken, dass er aß. Er fühlte sich, als hätte er den Boden unter den Füßen verloren.

      Hatte es Sinn, in Altenweil zu bleiben? Vielleicht sollte er sich den fahrenden Abenteurern anschließen, die in Gordons Schänke abgestiegen waren, und mit einigen von ihnen mitziehen - irgendwohin, wo er jemanden fand, der ihm beibrachte, ein heiliges Schwert zu führen. Dreyfuß hatte gemeint, nur mit einem solchen könne er den Dämon, der sein Heimatdorf vernichtet hatte, erschlagen: die schwarze Dame der Grotte. Der Schmied auf der Grafenburg konnte mit heiligen Schwertern umgehen. Aber er verlangte zwanzig Goldtaler, um Norbert als Lehrjungen anzunehmen. Wo um alles in der Welt hätte Norbert diese Summe hernehmen sollen?

       Ich hätte schon vor einem Jahr mit Sturmkind ziehen sollen und der Gruppe, mit der sie herumzog. Sie hatten mich doch gefragt. Warum habe ich es nicht getan?

      Der gierige Blick der alten Elena kam ihm ins Gedächtnis, als sie Darulans Zettel an sich riss... Dann musste er an Lonnie denken. Wegen ihr hatte er sich auf diese Höllenfahrt an den Rand des Laendorgebirges begeben. Darulan glaubte, mithilfe des schwarzmagischen Ritualgesangs wäre es möglich, das untote Mädchen ins Leben zurückzuholen. Norbert hatte Elena nicht gesagt, dass der Zauber nur wirkte, wenn Darulans Mischung der neun magischen Kräuter dazu verbrannt wurde. Er hatte Darulan die Kräutermischung gestohlen. Lonnies Geist hatte sie ihm weggerissen, damit er nicht der Sucht nach der schwarzen Magie verfiel...

      Norbert schloss die Augen. Wenn es ihm nicht gelang, das Geistermädchen zu retten, war alles umsonst gewesen. Irgendwo in den mörderischen Gefilden der Anderwelt befand sich ihr „Quellort“ - ihr Seelenfunke, wie Darulan es genannt hatte. Dort musste er die Magie des Lebens wirken. Es wäre Blut vonnöten, hatte Darulan gemeint. Menschenblut am ehesten...

      Norbert stand auf und zahlte dem Wirt drei Viertelkreuzer für Bier und Brot. Mit einem Mal wusste er, was er zu tun hatte. Er schlug den Weg zur unteren Torgasse ein, auf deren gegenüberliegender Seite sich die Brandzone um die Turmruine breitete.

      ***

      In den Häusern längs der Torgasse gegenüber der Brandzone sammelten die Bewohner ihre spärliche verbliebene Habe und noch brauchbaren Hausrat aus den Möbeltrümmern in den Hinterhöfen zusammen. In vielen Häusern waren die Herdfeuer bereits wieder entfacht. Auf der Gasse nagelten Männer improvisierte Brettertüren und Fensterläden zusammen. Über allem lag eine Atmosphäre der Verzweiflung, die durch das Weinen und Schluchzen der Frauen und Kinder, der Alten und Jungen, welche die Leichenkarren zum Tor begleiteten, noch verstärkt wurde.

      Ein Händler vor seinem zerschlagenen und ausgeplünderten Laden machte seiner Wut Luft: „Was die Flammen dank der Gebete der Mönche verschont haben, das haben die Markgrafenknechte, dieses Kriegsgesindel, zertrümmert und ersäuft! Ist Altenweil durch das Feuer noch nicht genug geschunden worden, dass dieses Lumpenpack wüten musste wie die Horgaren? Ausgepeitscht, erhängt, ersäuft gehört dieses Pack!“

      Die Kriegsknechte bei den Leichenkarren verrichteten weiter ihre Knochenarbeit, den zweiten Tag nun schon, ohne von dem schreienden Ladenbesitzer Notiz zu nehmen. Ihren müden Gesichtern war nicht anzusehen, was sie dachten.

      Zwischen den Leichenkarren hindurch überquerte Norbert die Gasse. Wolken von Aschenflocken wirbelten in der Luft. Vor Norbert breitete sich die Brandzone: ein Bereich verkohlter Trümmer zwischen aufragenden Schornsteinschloten. Außer einer dicken Ascheschicht war nichts von den eng beieinanderstehenden Fachwerkbauten geblieben. Von dem bis auf die Grundmauern niedergebrannten