Thomas Hoffmann

Schatten der Anderwelt


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der Alten nicht an die Gurgel zu springen. Mit zusammengebissenen Zähnen lauschte er. Ihre zischende Stimme kam ihm grausam vor.

      „Ihr Traumprinz ist gekommen.“

      „Was?“

      Eine entsetzliche Lähmung ergriff Norbert.

      „Sie hat's der Mutter Elena erzählt: ein steinreicher Handelsherr! Glaubte, er hätte sich in sie verliebt, das dumme Mädchen! Hat sie mitgenommen aus der Stadt.“

      „Das ist nicht wahr!“

      Norberts Stimme wurde brüchig. Er konnte nur noch flüstern.

      „Das glaube ich dir nicht, du alte Hexe!“

      Eine eisige Klammer legte sich um seine Brust. Es war, als wären mit einem Mal alle Farben und alle Wärme aus dem Raum gewichen. Die dunklen Augen der Alten waren voller Mitgefühl.

      „Wirst's verwinden, Jungchen,“ murmelte sie sanft.

      Der Raum begann, sich um Norbert zu drehen und er zwang sich zur Konzentration.

       Weg! Ich muss hier weg! Raus an die Luft, hinaus aus dem schwarzmagischen Rauch!

      Er wollte aufstehen, aber die Alte griff blitzschnell nach seiner Hand.

      „Hast du der alten Elena nicht auch was mitgebracht, Jüngelchen?“ zischte sie lauernd.

      „Wie, mitgebracht?“

      Es fiel Norbert immer schwerer, sich zu konzentrieren. Er wollte weg, heraus aus diesem Zimmer, weg von der boshaften Alten. Ihre dürre Hand krallte sich um seine mit einer Kraft, die man der Greisin nicht zugetraut hätte.

      „Dein anderes, dein untotes Liebchen hat's mir gestanden,“ zischte sie.

      Ihre schwarzen Augen blitzten. Alles Mitleid war aus ihrer lauernden Miene verschwunden.

      „Darulans Zaubersprüche! Sei ein guter Junge. Sing sie der alten Elena vor!“

      Fassungslos starrte Norbert sie an. Was war er für ein Dummkopf gewesen! Dass er darauf nicht gekommen war! Nur darum hatte sie ihm von Darulan erzählt, nur darum hatte sie ihm die fixe Idee in den Kopf gesetzt, zu dem Hexenmeister zu gehen und sich die Magie des Lebens beibringen zu lassen! Nicht, um ihm weiterzuhelfen. Nicht wegen Lonnie! Er wollte ihr eine wütende Antwort entgegenschleudern, aber er konnte sich nur noch schwer konzentrieren. Seine Gedanken wurden immer verworrener. Die Alte verstärkte schmerzhaft ihren Griff.

      „Sing der alten Elena die Sprüche vor und sie lässt dein kaltes, untotes Liebchen in Ruhe. Sie schreit vor Schmerz, wenn ich sie her zitiere!“

      Schwarzhexen beherrschten mächtige Zauber. Wenn Norbert der Greisin nicht gehorchte, würde er kaum lebend wegkommen von hier. Abgesehen davon, was sie Lonnie noch antun konnte. Er griff unter sein Hemd. Die Alte zischte einen Abwehrspruch. Norbert stellte es mit Genugtuung fest. Ganz so sicher war sie ihrer Sache offenbar doch nicht! Er zerrte den Packen Schreibbögen hervor und warf ihn der Hexe vor die Füße.

      „Da! Lies es selbst, wenn du lesen kannst. Oder finde wen, der es dir vorliest!“

      Die Greisin ließ seine Hand los und schnappte nach den zerknitterten Seiten. Ihre Hände zitterten, als sie die Bögen auseinanderfaltete. Norbert sprang auf und trat zwei Schritt zurück, die Hand am Schwert, einen Anderweltzauber auf den Lippen. Sogar Darulan hatte vor dem blauen Feuer Respekt gehabt! Elena beachtete ihn nicht. Sie sortierte die Bögen, ließ einige auf den Boden fallen und vertiefte sich in die Schrift.

      Murmelnd las sie: „Gemyne dhu mucwyrt, hwaet thu ameldodest, hwaet thu renadest aet regenmelde... Die Sprache des Seevolks, der Mannen Gorloins! Wie hat der Mädchenschänder das herausgefunden?“

      Die Greisin hatte keine Augen mehr für Norbert. Gierig starrend hielt sie sich die Bögen vor die Nase.

      „...Ond thu, wegbrade, wyrta modor, eastan openo, innan mihtigu... Die Magie des Lebens! Der geile alte Bock wird sich in den Arsch beißen vor Ärger, dass er sich sein Geheimnis abluchsen lassen hat!“

      Langsam zog Norbert sich rückwärts zur Tür zurück. Mit zwei Sprüngen war er durch den Flur und zur Hintertür hinaus in den Hof. Hastig durchquerte er den Hof und zwängte sich durch die Lücke in die Gasse.

      Auf der Gasse blieb er keuchend stehen. Leute mit Handkarren und leeren Getreidesäcken in den Armen machten einen Bogen um ihn, während sie an ihm vorbei in Richtung Marktplatz zogen. Irgendwo bellte die Stimme eines Kriegsknechts. Die geschundene Stadt erwachte.

      Norbert hatte die Faust noch immer um den Schwertgriff gekrampft. Langsam ließ er los. Ihm war schwindlig. All die vergangenen Tage hatte er sich nicht so elend gefühlt. Die Worte der Hexe hatten eine taube Leere in seinem Schädel hinterlassen. Er rang seine Verzweiflung nieder und holte Luft. Vielleicht hatte die Alte gelogen. Er musste sich Gewissheit verschaffen. An Kolonnen mit Schubkarren und Sackleinen vorbei machte er sich auf zum Haus des Ratsherrn Hohenwart.

      ***

      Über die gepflasterte Gasse zwischen Klostermauer und Rathaus betrat Norbert den Marktplatz. Hier in der Nähe der Brandzone war der Geruch nach kaltem Rauch stärker. Ein leichter Wind wirbelte Aschenflocken von der gegenüberliegenden Seite des Platzes aus den Brandruinen herüber. Der Markt hallte wider vom Weinen und Klagen aus der Brandzone entkommener Unterstadtbewohner, vom Stöhnen Verwundeter und Sterbender. Überall drängten sich obdachlos gewordene Familien und Hausgemeinschaften. Wo an anderen Tagen Marktstände sich dicht an dicht aneinanderreihten, hockten Angehörige bei schwerverletzten Verbrannten. Andere kauerten mit zerrauften Haaren um Gestorbene. Mönche in sauberen, weißen Kutten gingen umher, beteten über den Verwundeten, verbanden Wunden und salbten diejenigen Toten, deren Familien das Salböl bezahlen konnten. Die Kriegsknechte standen dabei und warteten, bis die Mönche ihre Rituale beendet hatten. Sie schlugen die Toten in Sackleinen und fuhren die Leichen auf Handkarren über die Torgasse aus der Stadt, begleitet von weinenden und schreienden Hinterbliebenen.

      An der Vorderseite des Rathauses und an stattlichen Kaufmannshäusern vorbei bog Norbert in die obere Torgasse ein. Er hatte keine Augen für das Elend auf dem Marktplatz. Er kämpfte darum, sich nicht von seiner eigenen Verzweiflung lähmen zu lassen. Die ängstlichen, ehrfürchtigen oder scheuen Blicke, die ihm folgten, beachtete er nicht.

      Von einer Gruppe Hausmägde, die auf der Gasse Neuigkeiten und Schreckensgeschichten austauschten, erfragte er den Weg zum Haus des Ratsherrn Hohenwart. Gesichter und Kleider der Mägde waren sauber. Einzig ihre Mienen waren gezeichnet von der durchgestandenen Angst, das Feuer könne sich auf die Häuser der Oberstadt ausbreiten, gar auf diejenigen ihrer Dienstherrschaften. Jetzt standen sie auf der Gasse und gaben sich den Gruselgefühlen über das Grauen hin, von dem sie verschont geblieben waren. Die Mägde blickten Norbert nach.

      „Ist das nicht Norbert Lederer?“

      „Der das Dämonenfeuer gebannt hat! Heilige Mutter, ich glaube, das war er!“

      Das Haus des Ratsherrn Hohenwart überblickte einen gepflasterten Platz, der auf allen vier Seiten von zwei- und dreistöckigen Bürgerhäusern gesäumt wurde. Norbert ging an der breiten Freitreppe vorbei und durch die Toreinfahrt in den Hof. Auf der Schwelle des Küchenausgangs saß ein zwölf- oder dreizehnjähriges Mädchen in einem graubraunen Mägdekleid und streichelte eine Katze, der sie eine Schale Milch hingestellt hatte.

      Norbert fühlte sich, als hätte er einen Mühlstein um den Hals, als er zwischen über den Hof rennenden Hühnern hindurch zur Küchentür ging. Die Kleine starrte mit großen Augen auf sein Schwert, dann blickte sie scheu zur Seite. Norbert fand kaum seine Sprache. Er musste schlucken.

      „Ist Melanie da?“

      Das Mädchen blickte ihn überrascht an und schaute schnell wieder weg.

      „Die Melanie ist doch mit dem Kaufmann, dem Ulf Jörgsohn nach Stegersting gegangen,“ antwortete sie mit rotem Kopf. „Ich wär schon auch mit ihm gegangen, wenn er mich gewollt hätte, aber mich hat er nicht mal angeschaut.“

      Norbert