Adalbert Dombrowski

Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I


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      Das Ende meiner glücklichen Kindheit

      Immer seltener kam Papa nach Hause, dafür häuften sich ungebetene Besuche. Unsere Haustür sperrten wir nie mit dem Schlüssel ab, doch nachdem zum ersten Mal die Geheimpolizei mit Maschinengewehren bei uns wie ein Tornado eingefallen war, mussten wir unsere Gewohnheit ändern - um Papa Zeit zur Flucht zu geben. Mama war entsetzt und weinte ständig. Häufig kam die Geheimpolizei, sie suchten meinen Vater und schrien Mama an während wir uns an sie drückten, so fest wir nur konnten. Um das brutale Geschrei zu überhören und meine Angst zu unterdrücken starrte ich in diesen Momenten immer auf das Gemälde in Papas Arbeitszimmer: ein kleines Segelschiff in aufgewühlter See. Jetzt nach Jahren, immer wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, sehe ich dieses Landschaftsbild voller Bedrohlichkeit.

      Nur noch selten besuchte uns Papa und parkte sein Motorrad natürlich im Garten hinter dem Schuppen. Sobald die Geheimpolizei an die Tür donnerte, floh er die Treppen hinauf, stieg durchs Fenster und kletterte über den Sims durch Nachbars Fenster. So schnell er konnte eilte er über den Hof und durch den Garten zum Motorrad. Er flüchtete. Die Herrschaften Wiśniewscy halfen ihrem Nachbarn jedesmal. Doch unser Gefühl von Sicherheit war verloren. Wenigstens hörten diese Besuche irgendwann auf.

      Die Sommerferien verbrachte ich wie üblich im Pfadfinderlager, welches viel zu schnell auch wieder vergangen war. Danach verbrachte ich Zeit mit Freunden im Hafen oder in der Nachbarschaft. Es war ein wunderschöner Augusttag. Zu Hause hatte ich nichts zu tun. Ich setzte mich auf einen Holzblock im Garten und beobachtete des Nachbars Huhn. „Wie ist es eigentlich hierher gekommen”, überlegte ich. Aus der Hosentasche zog ich mein Taschenmesser. „Gleich erschrecke ich den dummen Vogel ein wenig. Was spielt er sich hier so auf”, dachte ich, kniff die Augen zusammen, um mein Ziel anzuvisieren und warf das Taschenmesser. Wie versteinert sah ich das Messer in der Luft aufblitzen und genau in der Mitte seines mit rötlichem Kamm geschmückten Kopfes einschlagen. Mit langgezogenem Gegacker schrie das Huhn auf und breitete die Flügel auseinander. Das Messer fiel aus dem Kopf des Vogels auf die Erde und offenbarte seine blutige Klinge. Einmal noch gackerte das Huhn und fiel dann unweit des Taschenmessers nieder. Ich bin ein Huhnmörder! Im Garten übte ich zwar mit dem Messer auf Bäume zu werfen und es klappte auch recht gut, doch war ich nicht davon ausgegangen, dass ich das Huhn treffen würde. Die gesamte Nachbarsfamilie schrie mich zusammen. Mama bewertete die Situation mit einem Blick und kehrte ins Haus zurück, um die Geldbörse zu holen. Zu Mittag gabs heute Hühnersuppe. Nicht ein Wort sagte sie zu mir, sie lobte mich nichtmal für den zielsicheren Wurf. Sicherlich war sie aufgewühlt. Fast alle Bäume im Garten trugen Spuren meines Taschenmessers - so fleißig trainierte ich.

      Der Sommer war noch nicht vergangen, da erinnerte sich die Geheimpolizei wieder an meinen Vater. Wieder begannen Hausdurchsuchungen, bei denen sie unablässig brüllten. In der Stadt schlossen sie unterdessen der Reihe nach alle privaten Geschäfte, Bäckereien und Werkstätten. Mit einem Mal verschwanden die ausgezeichneten, schmackhaften und duftenden Erzeugnisse. Denn sie passten nicht in die kommunistischen Pläne der stalinistischen Besatzungsmacht. Private Tätigkeiten polnischer Gewerbetreibender und Unternehmer entsprachen nicht der Parteilinie. Von da an sollte alles vergemeinschaftlicht sein; ganz gleich wie schlecht, Hauptsache staatlich.

      Es kam der schmerzhafteste Tag für unsere Familie. Unerwartet war Onkel Edek gekommen. Papa sei in ernstem Zustand im Krankenhaus in Bydgoszcz. Mama fuhr sofort hin. Die kleine Żaba wurde unter Oma Ludwikas Obhut gegeben, während mich und Rysia unser Onkel zu sich nach Bydgoszcz mitnahm. Lebendig habe ich Papa nicht mehr gesehen. Niemand sagte mir, was passiert war. Warum war Papa im Krankenhaus? Er war gesund, jung und fuhr Motorrad. Und wieso benachrichtigte uns gerade der Onkel? Warum hat er uns mitgenommen? Warum war Papa plötzlich in Bydgoszcz? Niemand wollte uns diese Fragen beantworten. Man ruinierte unsere Leben, indem man uns über die Gründe im Dunkeln ließ.

      Erst im Seniorenalter erfuhr ich von meiner Cousine Gercia: Ungefähr zwei Wochen lag mein Vater im Krankenhaus. Er konnte nicht essen und hat stark abgenommen. Aus Zembrze kam sein älterer Bruder Bolesław mit Gertruda, der Tochter seines jüngeren Bruders Józef, ihn besuchen. Papa bat Gercia (Gertruda) ihm Essen mitzubringen, denn dem was ihm im Krankenhaus serviert wurde, traute er nicht. Sie kochte bei ihrer Tante in Bydgoszcz und versuchte Papa mit zarten, aber nahrhaften Brühen zu Kräften zu bringen, doch es war zwecklos. Er litt sehr, doch er wusste, dass er im Krankenhaus nicht länger bleiben konnte, dass er fliehen musste. Mit letzter Kraft zog er sich an und verließ das Gebäude. Doch er war zu schwach und konnte sich nicht auf den Beinen halten. Schnell wurde seine Flucht bemerkt und man legte ihn zurück ins Bett. Am darauffolgenden Tag, am 12.November 1948 starb Papa. Er wurde nur 42 Jahre alt.

      Am nächsten Tag rief Onkel Edek mich und Rysia zu sich und gab uns kurz und knapp bekannt: „Euer Vater hatte einen Unfall und ist nach der Operation gestorben. Morgen ist das Begräbnis. Danach bleibt Dychu in Bydgoszcz bei mir und wird hier zur Schule gehen”.

      Was für ein Unfall? Ich dachte mit dem Motorrad … .

      Im Grunde genommen kannte ich meinen Vater kaum: Zunächst war es der Krieg und das Oflag und danach die Arbeit und politische Tätigkeit, welche mir nicht erlaubten, ihn besser kennenzulernen. Er war nie da. Wie geht es jetzt weiter? Soll ich in Bydgoszcz bleiben? Was passiert mit meinem Hund? Und meine Freunde, wir hatten doch so viele Pläne!? Was wird aus Mama? Bittere Tränen liefen mir übers Gesicht. Meine kleine Welt war wieder zusammengefallen. Punkt, Ende, so soll es sein, es ist wie es ist! Es gab keine Diskussion. Ich fühlte mich wie ein weggeworfenes Staubkorn, ein Holzblock, eine unbedeutende Person, die niemandem wichtig ist … .

      Papas Begräbnis: Die weinende Mama, Antosia – Onkel Edeks Magd – mit Żaba in ihren Armen, Rysia und ich. Neben uns stand Onkel Edek und Tante Basia. Aus Legnica war Tante Ola, Mamas jüngste Schwester, in schönem Pelzmantel angereist. Papas Brüder Bolek aus Zembrze und Józef aus Radoszki waren auch da. Aus Tuchola waren Oma Ludwika und Opa Kazimierz gekommen. Erst nach vielen Jahren erfuhr ich von Tante Ola, die dann in Gdańsk-Wrzeszcz lebte, die Wahrheit über den Tod meines Vaters; die so sorgfältig verborgene Wahrheit. Es war Mord. Die Geheimpolizei hatte meinem Vater eine Falle gestellt. Fünf Schüsse wurden auf ihn abgefeuert. Es spielte sich in den Jahren 1945-48 ab, als den Händen des NKWD (aus dem 1954 der KGB hervorging) und der Geheimpolizei („Sicherheitsbehörde”) KBW (Korpus Bezpieczeństwa Wewnętrznego – Korpus für Innere Sicherheit) so viele Menschen zum Opfer fielen wie nie. Zugehörigkeiten zur Polnischen Heimatarmee oder andere als kommunistische Ansichten über die neueste Geschichte wurden streng bestraft durch die unterwürfigen Gerichte. Für Oppositionsgeist bekam man nicht nur - wie in späteren Jahren - eine „vier-acht“ (also 48 Stunden Arrest) oder schlimmsten Falls eine mehrjährige Gefängnisstrafe. „Volksfeinde“ erwartete eine Kugel oder eine Deportation nach Sibirien, das unmenschliche Land.

      Mein Vater bekam eine tödliche Serie in den Bauch. Wir wurden zu Waisen. Mama wurde ihr Leben zerstört. Meine glückliche Kindheit nahm ein jähes Ende. Ich war zwölf.

      Bitteres Waisenbrot – Bydgoszcz

      Beim Onkel in Bydgoszcz wollte ich nicht sein, das war nicht mein zu Hause! Machtlos versuchte ich mich dagegen aufzulehnen. Schließlich wohnte ich doch in seiner geräumigen Wohnung, Platz jedoch gab es dort für mich keinen. Mal stellten sie mir ein Bett im Salon oder Speisezimmer auf, mal in der Küche - wenn sie Besuch hatten. Außerdem gab es Onkels Arbeitszimmer und ein Schlafzimmer, doch da hatte ich keinen Zutritt. In der Küche regierte Marysia, den Haushalt führte Antosia. Marysia war eine ältere Dame, die ich aber schon aus Kriegeszeiten kannte. Als Großelterns Pflegekind wohnte sie bei uns in Tuchola. Auch Antosia stammte aus Tuchola. Der Biskup (der Onkel) hatte sie als 19-jähriges Mädchen eingestellt.

      Die Wohnung war riesig: vier Zimmer, zwei Bedienstetenkammern, eine Küche, eine Speisekammer, ein Bad und eine Toilette. Es gab zwei Eingänge: einen festlichen aus dem marmornen Treppenhaus und den Bediensteteneingang zur Küche. Das Gebäude, in dem sich die Wohnung befand war ebenfalls riesig. Die steinernen Balkone gingen auf die Focha-Str. hinaus, wo sich auf der Schmalspur die klappernden Straßenbahnen entlang schoben. Gegenüber des Hauses fließt die Brda und über sie drübergeworfen war eine Brücke. Auf der anderen Flussseite sah man die alten Speicher und die gothische Backsteinkathedrale.