Adalbert Dombrowski

Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I


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Vaters war und dass sie gemeinsam im Oflag (Offizierslager) II C Woldenberg waren. Erst später erfuhr ich, dass mein Vater wie jeder Kriegsgefangene eine Nummer erhalten hatte, welche ihn die ganzen Jahre der Kriegsgefangenschaft über begleitete: 87/XVIII B Ltn: 87. registrierter Gefangener im Oflag XVIII B Wolfsberg vom Dienstgrad Porucznik - vergleichbar eines (Ober-)Leutnants. Der Direktor fügte hinzu, dass das erste Gefangenenlager, in dem sie waren, sich in Wolfsberg in Kärnten befand: Oflag XVIII B.

      Ich kam in eine Klasse, in der ein sportlicher, mir gleichgroßer, rothaariger Bursche die erste Geige spielte. Er betrieb Boxsport, was ihn seiner Meinung nach an die Spitze der Schulklassenhierarchie stellte. Gleich in der ersten Pause näherte er sich mir, schaute mir gerade in die Augen und drückte langsam, nachdrücklich und drohend folgende Worte zwischen seinen Zähnen hindurch: „Hey Kleiner, muck hier bloß nicht auf! Ich habe hier das Sagen!“ „Niemals“, warf ich ihm geradewegs ins Gesicht zurück, während gleichzeitig meine Faust auf seinem Kinn landete. Wir kloppten uns so lange, bis der Schulleiter in unsere Klasse kam, und uns auseinander brachte. Er würde solch ein Verhalten nicht tolerieren. Doch wir konnten es nicht dabei belassen: einer von uns muss gewinnen, Ehrensache. Ich ergebe mich niemals! Unsere Zweikämpfe verlegten wir ins hinterste Eck des Schulhofs, sogar noch hinter das Toilettengebäude, neben den Mülltonnen. Dort schlugen wir uns in jeder großen Pause. Als wir vor Anstrengung keuchten, spürten wir die Sinnlosigkeit des sich gegnseitigen Verkloppens. Das Duell blieb weiter unentschieden. Die Kämpfe dauerten einige Tage an. Alles tat mir weh und überall hatte ich blaue Flecken, doch ich wusste: ich gebe nicht auf! Endlich war der von mir lang ersehnte Augenblick gekommen, als mein Gegner sich nicht mehr prügeln wollte. Er ergab sich und flüsterte mir zu: „Du bist besser“.

      Meine Stellung in der Klasse war nun gefestigt. Jetzt muckt mir kein Bursche auf und mit dem Lernen hatte ich noch nie Schwierigkeiten. Mathematik und Physik liefen wie von selbst. Schlechter wars mit dem Fach Grammatik, doch auch dafür fand ich einen Weg: Den Mädchen half ich bei der Mathematik, dafür retteten sie mich vor Problemen im Fach Grammatik. In den Pausen spielten die Jungs Fußball auf dem Schulhof oder saßen auf den Bänken und spielten Münzfußball. Ich entschied mich meistens für den echten Ball. Unser Musiklehrer bestand darauf, dass ich den Schulchor verstärke. In der Probe sang ich so herrlich falsch, dass ich schleunigst wieder zurück aufs Fußballfeld geschickt wurde. Während eines Spiels traf mich ein Kumpel schmerzhaft am Sprunggelenk. Ich hinkte stark. Es schmerzte so sehr, dass ich schließlich auf einem Bein hüpfen musste. Zu der Zeit sollte ich zur ersten Kommunion. Zu Hause beachtete niemand, nicht mal der Onkel – der Arzt, mein Humpeln. Ich bemühte mich zu verbergen, dass mir was ist. In die Kirche hüpfte ich auf einem Bein. Niemand half mir. Erst einige Zeit später brachte mich Tante Basia zum Fotografen, um das Kommunionsfoto zu machen. Das Sprunggelenk war schließlich verheilt und ich konnte wieder laufen.

      Als ich ein andernmal alleine in unserem Innenhof Fußball spielte, bemerkte ich auf dem Nachbarsbalkon Würste. Damals waren Kühlschränke noch nicht alltägliche Küchengerätschaften, so dass die Leute oftmals Wurstwaren auf ihren Balkonen aufbewahrten. Mit jedem Blick auf des Metzgers Meisterstück wurde ich hungriger. Es lockte! Der Balkon war zwar im ersten Stock, doch indem man auf den Holzzaun kletterte, konnte man über den oberen Querbalken hinauf zum Balkongeländer gelangen; sich die Wurst in den Ausschnitt stecken und dann zurück auf den Zaun und in den Innenhof der Nachbarn herabspringen. Mein Plan war geschmiedet. Doch „das ist Diebstahl“, bremste mein Gewissen meine Bestrebungen. „Aber so viel Wurst“ lockte mich immer mehr. Es wurde dunkel und die Fenster schienen leer. „Das geht ganz schnell, niemand wird’s bemerken“, flüsterte mir die in Aussicht stehende Schlemmerei ein. Ich kletterte zum Balkon und schnappte die Beute. Nur noch zurück über den Balken und ein entschiedener Sprung in ein fremdes Gebiet - Nachbars Innenhof. Plötzlich hielt mich etwas fest. Anstatt auf die Beine, fiel ich mit dem Rücken voran. Ich schlug auf dem Betonboden auf. Es tat so weh! Weder bekam ich Luft, noch konnte ich mich bewegen. Über mir erblickte ich eine Wäscheleine. Sie hatte mich zu Fall gebracht.

      Die Dunkelheit verdeckte die Sackgasse, in der ich mich befand. Doch endlich konnte ich wieder einatmen und drehte mich vorsichtig auf den Bauch. Unter höllischen Schmerzen gelang es mir aufzustehen. Aber ich hatte die Wurst! Der Rücken setzte mir bei der kleinsten Bewegung zu, doch den Großteil der Leckerei schlang ich sofort herunter. Sie war köstlich, über-köstlich! Der Genuss an jedem weiteren Bissen linderte meine Schmerzen. Aber mehr konnte ich nicht essen, also steckte ich den Rest in die Tasche. Ich schlich mich in die Wohnung, denn ich fürchtete, dass jemand den Geruch der versteckten „Beweistückchen meines Vergehens“ bemerken würde. Im Flur war es ruhig, lediglich hinter verschlossenen Türen hörte man Stimmen: „Ich geh duschen“, gab ich laut bekannt und ging ins Bad. Der pedantische Onkel verlangte von uns, sich täglich zu duschen. „Soll er`s ruhig verlangen, ich werde erst recht nicht duschen“ - um ihn zu ärgern: Wie jeden Abend drehte ich den Wasserhahn auf und setzte mich an den Wannenrand. Den Dreck zwischen Sprunggelenk und Ferse konnte ich nicht mal mehr mit den Fingernägeln abkratzen. Ich konnte mich nicht beugen, vorsichtig wusch ich mich und putzte dann gründlich meine Zähne. Darauf könnte ich nichtmal um den Onkel zu ärgern verzichten. Ich legte mich ins Bett, doch es schmerzte weiterhin. „Wie gut, dass morgen Sonntag ist“, dachte ich. Doch der Sonntag verging und ich konnte mich kaum bewegen. In der Schule erzählte ich den Jungs, dass ich einen Unfall hatte. Sogar der Lehrer bemerkte, dass mit mir etwas nicht stimmt und schickte mich zum Arzt. „Ich wohne doch bei einem Arzt“, antwortete ich.

      Ein halbes Jahrhundert später fiel ich beim Rollschuh laufen heftig auf den Rücken: Ich assistierte meinem kleinen Sohn beim Fahrradfahren. Plötzlich bog Albert auf der steilen Straße scharf ab. Er raste auf einen niedrigen Zaun zu. Ich sah schon, wie er sich auf den scharfen Zaunlatten aufspießen würde. Blitzschnell holte ich ihn ein und hob ihn samt seines Fahrrads in die Höhe, jedoch lehnte ich mich dabei zu weit nach hinten. Schließlich fand ich mich im Krankenhaus wieder. Ein Wirbel war gebrochen. „Aber Sie hatten schon mal einen gebrochenen Wirbel“, hörte ich vom Arzt. Damals - wegen der Wurst - zog ich mir also den ersten Wirbelbruch zu. Der Arzt behielt mich im Krankenhaus. Ohne Bewegung lag ich ganze zehn Tage im Bett, bevor ich aufstehen durfte. Damals überzeugte ich mich selbst davon, dass man schon in so kurzer Zeit das Gehen verlernt.

      Allmählich gewöhnte ich mich an mein „neues Leben“ in Bydgoszcz. In der Schule hatte ich eine gefestigte Stellung unter meinen Schulkammeraden. Zu Hause hatte ich gelernt, dem finsteren Onkel aus dem Weg zu gehen, mit Tante Basia konnte ich mich immer einigen. Rysia und Magda störten mich nicht, sie hatten ihre Mädchen-Angelegenheiten. Von der Schule eilte ich nach Hause; aß das von Marysia servierte Mittagessen, machte schnell meine Hausaufgaben und der im Haus umherschwirrenden Antaosia warf ich im Vorbeilaufen zu: „Ich bin in der Modellwerkstatt“; und schon war ich weg. Spät abends kam ich heim.

      Als wir noch in der Jagiellońska-Str. (Focha-Str.) wohnten, entdeckte ich in der Gdańska-Str. ein Lokal der „Liga Lotnicza“ (Flugsport-Liga: öffentlicher Luftfahrt-Verband). Lange unterhielt ich mich über mein Interesse an der Fliegerei. Ich erzählte von meinen ersten Flugmodellen, die ich gemeinsam mit meinem älteren Kumpel im Speicher in Tuchola gebaut hatte sowie von den Piloten, deren Kampf ich am Kriegshimmel beobachtet hatte. Die Herren führten mich zur Flugmodellwerkstatt in derselben Straße; ebenfalls ein früheres Geschäftslokal mit großem Schaufenster und einer Eingangstür direkt von der Straße. In ihr thronten Tische, an denen Jungs unter der Anweisung älterer, erfahrener Kollegen Drachen bauten und die Fortgeschritteneren komplizierte Segelflugzeug- und Motorflugzeugmodelle. Hier baute ich mein erstes, selbst konstruiertes Segelflugzeugmodell. Bei gutem Wetter trugen wir stolz unsere Modelle außerhalb der Stadt, um ihren Widerstreit mit den Luftmassen zu beobachten. Häufig kehrten wir zurück mit zerbrochenen Modellen, die ihren Kampf mit dem Wind und der gnadenlosen Erdanziehungskraft verloren hatten. Die Modellwerkstatt wurde mein neues zu Hause.

      Es kamen heiße Sommertage. Abends füllten sich die Straßen mit spazierenden Pärchen und Mädels in farbenfrohen Kleidern schmückten die grauen, mit nur wenigen und dazu noch ärmlichen Leuchtreklamen beleuchteten Straßen. Unsere Antosia machte einen unruhigen Eindruck als sie eines Tages das Abendessen auftischte und auffällig häufig auf die Wanduhr blickte. Schließlich verschwand sie in der Bedienstetenkammer. „Antosia hat heut abend eine Verabredung“, teilten