Dirk Meinhard

Sonnenkaiser


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zu stehen. Daniel ignorierte das aufkommende Unbehagen und hielt seine Commwatch gegen einen Sensor unter dem Bildschirm. In der Ablage darunter befand sich eine dunkle Glasfläche, auf der ein daumenähnliches Symbol aufleuchtete. Daniel legte seinen Daumen auf die Fläche, die sich schmierig anfühlte. Der Abdruck wurde gegen die Daten aus der Commwatch abgeglichen. Hätte Daniel einen Identchip unter der Haut seiner rechten Hand getragen, wäre der Fingerabdruck nicht notwendig gewesen. Aber er hatte sich nicht zu diesem kleinen medizinischen Eingriff durchringen können. Allein das Gefühl, eine einen Zentimeter lange und einen halben Zentimeter durchmessende Kapsel im weichen Gewebe unterhalb des Daumens zu tragen, ließ ihn frösteln. Frau Wolenski schaute kurz auf ihren Monitor und nickte ihm dann zu.

      >>Herr Daniel Neumann! Sie sind zu Ihrem Termin pünktlich! Das ist schon einmal sehr positiv!<<

      Ihre Stimme war kalt und scharf, eher vom Typ Aufseher als Berater. Das versprach kein angenehmes Gespräch zu werden.

      >>Sie sind seit drei Monaten ohne Beschäftigung! Heute endet damit die Übergangsfrist für den Bezug von staatlichen Unterhaltsleistungen!<<

      Zwischen ihren Augen zog sich die Stirn in einige missbilligend wirkende Falten.

      >>Was haben Sie unternommen, um sich eine neue Beschäftigung zu suchen?<<

      Vermutlich hing schon von der Antwort auf diese Frage eine minimale Steigerung ihres Wohlwollens ihm gegenüber ab. Somit hatte er schon keine gute Ausgangssituation.

      Die Wahrheit war, er hatte gar nichts getan. Die Wochen seit seiner Entlassung aus dem Polizeidienst hatte Daniel in Bezug auf das Lebensnotwendige weitgehend mit Nichtstun verbracht.

      Auch wenn es absehbar gewesen war, hatte es ihn ziemlich getroffen, als die Kündigung ausgesprochen wurde. Es war schnell gegangen. Der Leiter seiner Abteilung Internetkriminalität hatte ihn an jenem Morgen bei seinem Eintreffen zu Dienstbeginn direkt in sein Büro beordert. Auf dem Schreibtisch lag ein Umschlag, den er Daniel schweigend zuschob. Grundsätzlich stand nicht viel in dem Brief. Sein Vertrag sei zum nächsten Monatsende gekündigt. Der Grund war banal und stand vermutlich seit mehreren Jahren in Tausenden von solchen Kündigungsschreiben, die die staatlichen Einrichtungen verschickten, um ihren Personalbestand an die Finanzlage, also die Höhe der Steuereinnahmen, anzupassen. Er nahm allerdings den größten Teil des Textes ein, der sich über die Seite hinzog.

      >>Durch das Gesetz zur Regulierung von Bundes-, Landes- und Kommunalhaushalten ist allen Einrichtungen der öffentlichen Hand untersagt, defizitäre Haushalte auszuweisen. Im Rahmen des damit verbundenen Zwangs zur Ausgabenregulierung ist auch die Polizeidirektion Dortmund verpflichtet…<<

      Und dann ging es in schwülstiger Beamtenprosa weiter. Seine Stelle war aufgrund komplizierter Umstände überflüssig geworden. So einfach war das. Zumindest auf dem Papier.

      Nach der Ausbildung für den Polizeidienst hatte Daniel zwei Jahre bei der Bereitschaftspolizei gearbeitet, bis er mit seiner Einheit zur Absicherung einer Demonstration befohlen wurde. Die Demonstrationen zu den Auswirkungen des deutschen Staatsbankrotts hatten gerade begonnen. Das Ausbleiben der Zahlungen von Sozialhilfen und Renten und die sprunghaft steigende Arbeitslosigkeit ließen die Gewaltbereitschaft vieler Bürger sprunghaft ansteigen. Eine große Gruppe Krawallmacher griff seine Einheit an, als sich die Hauptgruppe der Demonstranten auf dem Rathausplatz der Stadt versammelt hatte. Es ging rasend schnell. Erst wurden sie mit Hunderten von Plastikbeuteln beworfen, die beim Aufprall zerplatzten. Die Polizisten mit Farbe bespritzten und aus ihren Helmvisieren undurchsichtige Gestaltungsflächen für moderne Malkunst machten. Dann stürmte eine große Gruppe gegen die desorientierten Polizisten und überrannte sie. Es war kein spontaner Angriff gewesen. Die Angreifer waren gut ausgerüstet gewesen, mit Schlagstöcken, Messern, Schlagringen, Pfefferspray, Brustpanzern, schweren Stiefeln.

      Daniel erinnerte sich noch viel zu gut daran. Ein Plastikbeutel mit blauer Farbe war auf seinem Helm zerplatzt und hatte ihm vollständig die Sicht genommen. Ein Angreifer hatte sich gegen seinen Schild geworfen und ihn umgestoßen. Dann presste jemand seine Arme und Beine auf den Boden, sodass er bewegungsunfähig war. Die Schmerzen, als ein stahlbewehrter Schlagstock sein linkes Knie traf und seine Kniescheibe in mehrere Stücke zerteilte, würde er sein Leben lang nicht vergessen. Auch die nachfolgenden Stiefeltritte auf das Knie nicht. Jemand riss ihm den Helm vom Kopf und ein Schlag gegen seine Stirn erlöste ihn damals von den Schmerzen.

      Mehrere Monate und Operationen später war er wieder in der Lage gewesen, zu arbeiten, jedoch nicht mehr als Bereitschaftspolizist. Sein Knie war weitgehend wieder hergestellt worden, aber meldete sich bei jeder unbedachten oder zu langen Anstrengung mit einem dumpfen Schmerz und leistete jeder zu starken Beugung Widerstand. Also hatte man ihn in den Innendienst versetzt. Die anschließenden Jahre verbrachte er nach einer entsprechenden Ausbildung bei einer Abteilung, die sich damit beschäftigte, gesetzeswidrige Aktivitäten im Internet zu verfolgen. Es war kein Traumjob und er tat sich mit einigen Anforderungen schwer, aber es war ein Job und manchmal war er sogar mit seinen Ermittlungen erfolgreich.

      Bis er rausgeworfen wurde. Ein Brief teilte ihm das Notwendige mit. Sein Vorgesetzter sprach ihm sein Bedauern aus, schüttelte ihm die Hand, dankte ihm für seine Arbeit und bat ihn dann, seinen Schreibtisch sofort zu räumen, da er mit sofortiger Wirkung beurlaubt sei, aus Sicherheitsgründen. Natürlich, Daniel hätte ja auf die Idee kommen können, aus einem Anflug von Rachsucht ein paar Ermittlungen zu sabotieren, möglicherweise Verdächtige zu warnen.

      Er musste nur noch ein paar Arbeitsutensilien abgeben, ein paar Unterschriften leisten und Quittungen entgegennehmen. Dann begleitete ihn jemand aus dem Gebäude und Daniel hatte das Gefühl, völlig hilflos zu sein. Allein das Tempo, in dem er vom Wachdienst vor die Tür gebracht wurde, machte ihm deutlich, wie schnell man das Gefühl verinnerlichen konnte, nutzlos oder sogar lästig zu sein.

      Dazu war ihm blitzschnell die Kontrolle über sich selbst abhandengekommen. Ein fast dreißigjähriger Polizist mit einem demolierten Knie. Ohne Job, ohne Geld. Für welchen Job war er überhaupt geeignet? Daniel machte sich in einem Zustand mittelschwerer Lethargie auf den Weg nach Hause. Die folgenden Wochen verschlief er tagsüber, vertrieb sich die wachen Stunden zuhause in einer Mischung aus Wut, Niedergeschlagenheit und Selbstzweifel. Abends suchte er erst unregelmäßig, dann nahezu täglich die umliegenden Kneipen auf und ertränkte seine schlechten Gedanken in günstigem Alkohol, bis er nicht mehr ohne Hilfe von seinem Platz an der Theke hochkam und nach dem Saufen Begleitung fand, unsanft und nur bis zur Tür.

      Wenn er es dann noch irgendwie nach Hause schaffte, setzte er seine Saufgelage in der Küche fort, bis er morgens meistens auf dem Fußboden liegend mit heftigen Kopfschmerzen erwachte. Nachdem er sein dringendstes Bedürfnis, sich Teile seines Gedächtnisses wegzutrinken, gestillt hatte, reduzierte Daniel seinen Alkoholkonsum und verlegte sich darauf, mit anderer körperlicher Aktivität seine depressive Grundhaltung zu überdecken.

      In den Kneipen um die Sicherheitszone der privaten Universität traf man seltener die übertrieben geschminkten Frauen in stilistisch und preislich billigen Klamotten, die erst nach den Wünschen ihres Gesprächspartners fragten und dann einen Preis nannten. Hier fand man eher Bekanntschaften, die keine finanziellen Nöte plagten. Studienplätze an einer privaten Universität waren nicht billig, die Klientel dieser Einrichtung daher meist eher in finanziell gehobenen Schichten zu suchen. Solange man sich auf Nachfrage nach persönlichen Dingen nicht allzu sehr mit der Wahrheit aufhielt, aber noch glaubwürdig blieb, wurden auch ein paar Nächte vergnüglicher.

      Carina war seine letzte Bekanntschaft gewesen. Die Erste, die ihn überredet hatte, die Nacht bei ihm zu verbringen. Alle anderen hatten es vorgezogen, ihn morgens aus ihrem eigenen Bett rauszuwerfen. Möglicherweise war es ihm egal gewesen, ihr seine doch eher billig anmutende Unterbringung zu zeigen. Die anderen Frauen hatte er auch nicht wiedergesehen. Was konnte er also verlieren. Als sie zu später Stunde in seinem Bett landeten, hatte es sie ohnehin nicht interessiert. Was sie am Morgen gedacht hatte, als sie durch seine Wohnung schlich, während er noch schlief, hatte er erst mit dem Zettel auf seinem Kühlschrank mitbekommen.

      >>Ich habe Sie etwas gefragt!<<

      Daniel zuckte zusammen. Er hatte