Helmut G Götz

Simons Weg


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gemacht und die haben nichts dabei gefunden!“ Dr. Breitner ging um seinen Schreibtisch herum, setzte sich und sagte: „Die Augen eines Neugeborenen sind normalerweise recht empfindlich“, begann er zu erklären. „Außerdem ist der Greifreflex“; er machte mit seinen eigenen Händen eine Art Greifbewegung; „...bei Neugeborenen recht gut ausgeprägt.“

      „Bei Simon“, fuhr er langsam fort; „scheinen beide

      Reflexe nicht ganz so gut ausgebildet zu sein.“ Dr. Breitner sah sie an, so als würde er erkennen wollen, ob Claudia ihn verstanden hätte. Claudia stand bei Simon, hielt ihn mit sanftem Griff.

      Nachdem sie einen Blick auf ihren, ruhig daliegenden Sohn gemacht hatte, sah sie wieder zum Arzt.

      „Und was bedeutet das jetzt“, fragte sie diesen, während sie Simons Jäckchen, wieder zuzuknöpfen begann. Dr. Breitner zog den vor sich liegenden weißen Block näher zu sich heran und begann darauf zu schreiben. Ohne auf die Frage Claudias näher einzugehen, sagte er: „Ich stelle ihnen eine Überweisung aus. Diese ist für einen Untersuchungstermin bei Dr. Haslauer“, fuhr er fort. „Dr. Haslauer ist Neurologe am Krankenhaus in

      Mistelbach. Er ist auf Kinder spezialisiert“, woraufhin er den beschriebenen Zettel vom Block abriss. Schon beim Fallen des Wortes Neurologe, war Claudia in eine Art Starre verfallen. Während sie Simon hielt, sah sie den Arzt mit fragendem Blick an. Neurologe…, das konnte nichts Gutes bedeuten!

      Dr. Breitner war mittlerweile, um den Tisch herumgekommen, und ging auf sie zu.

      „Hier bitte“, sagte er, während er Claudia den zusammengefalteten Überweisungsschein, hinhielt. Das Lächeln auf seinem Gesicht, war noch immer von jener warmen Herzlichkeit gezeichnet, die ihm so zu eigen war. Doch Claudia, die, seit sie das Wort Neurologe gehört hatte in Alarm versetzt war, war sich nun nicht mehr ganz so sicher, ob sie diesem trauen konnte. Dr. Breitner schien die unausgesprochenen Befürchtungen Claudias zu spüren.

      „Mache sie sich keine unnötigen Gedanken“, begann er.

      „Wir wollen nur alle in Betracht kommenden

      Möglichkeiten ausschließen.“ Wieder zeigte er dieses Lächeln, mit dem er sie versichern wollte, dass schon alles in Ordnung sein würde.

      Als sie mit Simon nach Hause kam, befreite sie ihn von der Decke, um ihn in sein Bettchen zu legen, wo er nach wenigen Minuten eingeschlafen war. Ihre Gedanken begannen zu kreisen, ließen ihr keine Ruhe. Die folgende Nacht, gestaltete sich wieder so, wie alle anderen zuvor. Nach den ersten beiden Stunden – es kam ihr weniger vor – begann Simon wieder aus Leibeskräften zu brüllen. Nachdem es ihr gelungen war, ihn zu beruhigen, etwas das zunehmend schwieriger zu bewerkstelligen war, legte sie ihn zurück in sein Bettchen, wo er fast augenblicklich eingeschlafen war. Nach einigen Tagen war sie von dem immer wiederkehrenden Prozedere so aufgezehrt, dass sie, kaum dass sie selbst eingeschlafen war, wieder hochfuhr, weil sie irrtümlich dachte, Simon schreien zu hören. Es reichte!

      Mit den Nerven soweit am Ende, dass sie schon Schreie zu hören glaubte wo keine waren, würde sie den noch verbliebenen Rest ihrer Nerven einbüßen. Wissend, dass sie in zwei Tagen den angesagten Termin in der Klinik haben würde, beruhigte sie wenigstens einigermaßen. Dennoch, sie wusste nicht was die Untersuchungen dort bringen würden! Doch alles, alles war besser, als die Ungewissheit die sich ihrer bemächtigt hatte. Ganz zu schweigen, von der Tatsache, dass sie selbst bald einen Arzt brauchen würde.

      Mit dem Kopf nach hinten

      An einem Sonntag, war sie bei ihren Eltern zum Mittagessen eingeladen. So sehr sie die beiden auch liebte ...! Es würde ein anstrengender Tag werden. Ihr Vater, Horst, ein ehemaliger Maurer und ihre Mutter Hannelore, eine ehemalige Postbeamtin, hatten sich ein beschauliches Leben aufgebaut. Trotz ihrer beiden geringen Einkommen, aber dank eisernen Sparens, war es ihnen gelungen sich ein kleines Häuschen am Stadtrand von Poysdorf, einer kleinen, beschaulichen Stadt, wenige Kilometer vom Wiener Stadtrand, zu bauen.

      Claudias Vater, ein leidenschaftlicher Sammler aller

      Dinge die älter als 40 Jahre waren, hatte sämtliche

      Wände des Hauses mit, seiner Meinung nach mit „Antiquitäten“ tapeziert. Etwas, das ihrer Mutter sauer aufstieß, weil sie den überbordenden Anblick von „altem Kram“, wie sie es nannte, kaum mehr ertragen konnte. Die Sammlerleidenschaft ihres Vaters ging so weit, dass er einen alten Schuppen, der im hinteren Teil des kleinen Gartens stand, zu einer Aufbewahrungsstätte umfunktioniert hatte und diesen alle paar Jahre erweitern musste, weil er Platz für neue, alte Sachen brauchte. Auch an diesem Sonntag, Claudia war kaum mit Simon im elterlichen Haus angekommen, startete ihr Vater einen Angriff auf sie. Nicht ohne zuvor, ganz dem Gebaren eines typisch stolzen Opas nach, Simon mit Liebesbezeugungen einzudecken.

      Nebst den zahllosen „Hey, du Süßer. Wie geht`s dir denn“ und „Was-bist-du-doch-für-ein Goldiger“ Attacken, musste er alles erdulden, was das großelterliche Zuneigungsregister hergab.

      Dann aber kam es schon! „Du musst dir unbedingt die neuen Porzellanteller ansehen, die ich gestern bekommen habe“, sagte Claudias Vater, kaum dass er mit seinen großväterlichen Liebesbekundungen fertig waren. „Die hab` ich günstig bei eBay ersteigert“, ließ er sie wissen. Claudia erhaschte den Blick ihrer Mutter, die ihre Augen schräg nach oben gerichtet hatte. „Papa“, sagte Claudia. „Wir sind doch gerade erst angekommen.“ „Lass und erst mal einen Kaffee trinken, ja“, forderte sie ihn bittend auf. Ihr Vater, sah die Notwendigkeit ein und ließ den Einwand seiner Tochter gelten. „Na gut“, sagte er. „Aber später musst du dir unbedingt die Sachen ansehen.“ Claudia wusste, dass sie nicht umhinkommen würde seine neuen Errungenschaften zu begutachten. Ungeachtet der Tatsache, dass sie ihn einst hat wissen lassen, dass Teller für sie eben nur Teller waren. Einer Äußerung, die er gerade für so würdig hielt, um sie mit einem Kopfschütteln, abzutun. Doch für den Moment, dem Kaffee sei Dank, war die Gefahr gebannt. „Was hat der Neurologe gesagt“, wollte ihre Mutter von ihr wissen, während sie den Kaffee aufgoss. Welches sie, den Sitten des Hauses angepasst, nicht einem dieser neumodischen Vollautomaten überließ. „Das Zeug, dass die Dinger machen, schmeckt einfach nicht!“ Womit die Sache für sie erledigt war. Während sie das heiße Wasser, andächtig über das Kaffeepulver goss, stellte sie jene Frage, vor welcher Claudia sich am meisten gefürchtet hatte.

      Claudia, die sich in der Zwischenzeit von ihrer Jacke befreit hatte, um anschließend Simon von der seinigen zu befreien, tat einen Schnaufer. „Er hat zum x-ten Mal ein EEG und ein CTG gemacht, wie bei den letzten Malen auch. Und wie bei den letzten Malen auch konnte er nichts Abnormales feststellen.“

      „Er hat aber gemeint, dass es, wenn Simon bei der Geburt zu lange keinen Sauerstoff bekommen hat, er früher oder später unter einer Beeinträchtigung leiden könnte. Eine andere Bezeichnung für eine Behinderung.“ „Tatsache ist, dass man das in diesem Alter noch nicht feststellen kann!“ Nun war es ausgesprochen. Sie hatte das gesagt, was sie wie ihre Eltern auch, befürchtet hatten. Ihre Mutter, kaum dass ihre Tochter den Satz ausgesprochen hatte, ließ den Kaffee, Kaffee sein und sah ihre Tochter mit bekümmertem Gesicht an. „Was soll das heißen“, fragte ihre Mutter.

      „Von welcher Beeinträchtigung redet er?“

      Claudia begann sich unwohl zu fühlen. Nicht genug, dass sie mit der Ungewissheit leben musste, ob Simon beeinträchtigt sein würde. Die Sache, hier und jetzt in der Küche ihrer Mutter, erklären zu müssen, kostete sie alle Überwindung, die sie nur imstande war, aufzubringen. „Euch ist vielleicht aufgefallen, dass Simon seinen Kopf immer nach hinten gedreht hat“, sagte Claudia. „So gut wie nie, sieht er nach vorne. Noch nicht einmal dann, wenn andere sich, direkt vor ihm, unterhalten. „Ja klar“, bestätigte ihre Mutter etwas zögernd. „Aber ich ..., ich habe mich nicht getraut, etwas zu sagen.“ Claudia erkannte die Verlegenheit ihrer Mutter. Deren Verlegenheit machte sie selbst nur noch verlegener. Diese Verlegenheit, die unweigerlich mit dem unausgesprochenen Vorwurf gegen sich selbst einherging, schuld am Zustand Simons zu sein, ließ sie innerlich zusammensinken. Noch einmal atmete sie tief durch. Da sie schon