Helmut G Götz

Simons Weg


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tun können, ist abwarten!“ Jetzt, da es raus war, fühlte sie sich noch schlechter als zuvor. Sie sah zu Boden, um dem Blick ihrer Mutter nicht zu begegnen.

      Stille breitete sich im Raum aus. Nach einer kleinen Pause war es Claudia, die wieder zu reden begann.

      „Außerdem …, spannen sich seine Muskeln in den Armen und Beinen unwillkürlich an.“

      Claudia hatte begonnen, sich mit beiden Händen an der Stuhllehne festzuhalten. Die ganze Sache fiel ihr um einiges schwerer, als sie gedacht hatte. „Du meinst, dass er Krämpfe hat“, wollte Claudias Mutter wissen.

      „So kann man das auch nennen“, bestätigte sie ihrer Mutter. „Dieser Doktor Haslauer meinte, dass das auch Spastiken sein könnten! Sie können es noch nicht mit Genauigkeit sagen!“ Claudia zeigte ein Schulterzucken, dass das Gefühl der Hilflosigkeit in ihr noch mehr verstärkte.

      Sie hasste dieses Gefühl. Diese formlose, durch nichts zu greifende Emotionen, welches sie auszuhöhlen schien. Umsonst hatte sie versucht sich einzureden, dass, da auch die Ärzte nicht wussten, ob es Spätfolgen geben würde, sie sich nicht völlig umsonst, verrückt machte. Claudia, die für einen Augenblick den Blick angehoben hatte, um zu sehen, wie ihre Mutter auf die Neuigkeit reagierte, sah den Schrecken auf deren Gesicht. Als diese sich einer kleinen Weile vom Schrecken erholt hatte, fragte sie Claudia: „Deswegen wacht er auch alle zwei Stunden auf, oder? Weil er Krämpfe, weil er Schmerzen hat!“ Claudias Mutter sah für einen Augenblick auf Simon, der friedlich in seiner Tragetasche lag. „So genau können sie es noch nicht sagen“, erwiderte Claudia ausweichend. „Es ist noch zu früh, um das mit Bestimmtheit sagen zu können. Auf dem CT sieht alles normal aus. Was aber nicht heißen will, dass es so ist, weil man in diesem Alter noch nicht sagen kann, ob das Gehirn …, ob das Gehirn, weil es eventuell bei der Geburt, einen…, Schaden erlitten hat!“ Die Stille, die sich wieder breitgemacht hatte, drückte auf beide, wie eine schwere Last, derer sie sich nicht erwehren konnten. Der Raum schien mit einem Mal kleiner geworden zu sein. Ihre Mutter war die erste, die wieder imstande war, etwas zu sagen. „Genaues wissen sie aber noch nicht“, fragte ihre Mutter sie in einem Ton, mit dem sie ihrer Tochter zu verstehen geben wollte, dass noch nichts feststand. „Nein“, bestätigte Claudia. „Sie nehmen es aber an“, sagte Claudia, die den Kopf gesenkt hatte. „Auch wenn sie das nicht ausdrücklich gesagt haben. Jedenfalls glauben sie, dass, sollten es Spastiken sein, diese mit dem Älterwerden zunehmend schwerer werden“, setzte sie nach. Claudia hatte im Bruchteil einer Sekunde gehofft, dass, wenn sie die unausgesprochene Vermutung erst einmal ausgesprochen haben würde, sie sich leichter anfühlen würde. Das Gegenteil war der Fall. Tränen traten ihr in die Augen. Tränen, die seit Langem geweint sein wollten. Ihre Mutter stellte den Topf mit dem Wasser zurück auf den Herd, der dabei ein für Claudia, viel zu lautes Geräusch von sich gab. Claudia versuchte, einen Punkt mit ihren Augen zu erfassen, an dem sie sich fixieren konnten. Nur ein Augenzwinkern davon entfernt, und die Tränen würden ihr die Wangen herablaufen. Plötzlich stand ihr Vater in der Tür. „Wie siehts denn jetzt aus mit dem Kaffee“, fragte er.

      „Du wirst es erwarten können“, fuhr seine Frau ihn an.

      „Ist ja schon gut“, wehrte er erschrocken ab. „Was ist denn los mit euch beiden“, fragte er die beiden, als er erkannte, dass irgendetwas nicht stimmte. „Ihr seht ja aus, als wäre der Himmel eingestürzt.“

      „Ganz so schlimm ist es nicht“, entgegnete ihm seine Frau.

      „Andererseits sind wir nicht so weit davon entfernt.“ Als die beiden nichts weiter dazu sagten, wurde er ungeduldig. „Möchte mir vielleicht endlich jemand sagen, was hier los ist?“ Es war seine Frau, die den Mut fand, ihm die Situation zu erklären. Horst, dem man nicht nachsagen konnte, dass er zu den Schnellsten gehörte, erst recht nicht was das Denken anging, stand mucksmäuschenstill da. Mit halboffenem Mund, betrachtete er die beiden, während er versucht war, die richtigen Worte zu finden, die auf solch eine Hiobsbotschaft passen würden. Schließlich gab er es auf. Es war noch nie seine Sache gewesen, einer Situation mittels Worte, die Schärfe zu nehmen. Stattdessen ging er zu den beiden hin, umfing seine beiden Frauen mit seinen immer noch kräftigen Armen und begann sie zu drücken.

      Den Rest des Tages, inklusive dem gemeinsamen Mittagessen, hing ein Schatten über dem Haus. Fragen standen im Raum, Vermutungen, die beantwortet und besprochen werden wollten.

      So sehr sich alle drei bemühten, der Neuigkeit nicht noch mehr Macht zu geben. Am Ende hatte diese sie, zumindest für diesen Tag besiegt. Ungewissheit, lag träge über allen, die sie fast zu erdrücken schien. Immer wieder sah einer der Dreien auf Simon, der sich manchmal meldete, um entweder gefüttert oder gehalten zu werden. Die Tatsache, dass Simons Kopf, immer wieder nach hinten glitt, fiel allen nun umso mehr auf. Es war Claudias Vater, der Claudia schließlich fragte.

      „Weiß Martin davon“, fragte er seine Tochter. „Natürlich weiß er davon“, erwiderte sie auf die Frage ihres Vaters. „Er ist immerhin der Vater von Simon.“ „Und was sagt er dazu?“ Claudia begann die Fragerei, die ihrer Meinung nach völlig unnötig war, zu nerven. „Papa“, begann sie. „Was soll er schon dazu sagen?“ „Er ist genauso betroffen wie ich.“ Claudia zuckte mit den Schultern, hoffte, dass die Fragerei damit ein Ende haben würde. Der Tag begann für alle drei mühsam zu werden. Für Claudia, der das Berichten über die Neuigkeit, den letzten Rest an Energie aus dem Leib gezogen zu haben schien, als auch für ihre Eltern, weil sie, die sie Zeit ihres Lebens jede noch so große Schwierigkeit gemeistert hatten, nun vor einem Problem standen, dem sie nichts entgegen zu setzen hatten. Nun begann auch bei ihnen jenes Gefühl Einzug zu halten, dass einer Ohnmacht nicht unähnlich, Besitz von ihnen ergriff.

      „Wenn das stimmt, was die Ärzte sagen ...“, setzte Claudias Mutter an. „Dann steht dir noch einiges bevor.“ Schon immer war sie eine Frau gewesen, die die Dinge lieber beim Namen nannte. Aufgewachsen und groß gezogen von einer Mutter, die selbst nichts davon hielt, um den heißen Brei herumzureden, hatte sie sich selbst angewöhnt, deren Beispiel zu folgen. „Alles ist besser, wie Unklarheit“, war einer ihrer Leitsprüche. Auch, so hoffte sie in diesem Augenblick, noch nichts Genaues, feststand.

      Ihre Mutter sah sie an, suchte im Blick ihrer Tochter nach etwas, das ihr sagte, dass sie sich dessen bewusst war. „Ich weiß“, sagte Claudia.

      „Wie ihr euch denken könnt, hab` ich mich in der Zwischenzeit im Internet informiert. Für den Fall, dass wirklich das eintritt, was die Ärzte für möglich halten!“ Der Gedanke daran, machte sie schwindelig und sie musste einen Moment lang innehalten, um tief Luft zu holten. „Sollte es wirklich so sein, wie die Ärzte vermuten, wird es mit der Zeit auch zu Veränderungen an den Gelenken kommen. Die Krämpfe werden schlimmer werden. Und das ist noch nicht alles“, sagte sie weiter. „Sollte es stimmen, dass Simon ..., Spastiker ist, wird er nie in der Lage sein stehen oder gehen zu können. Er wird im Rollstuhl landen!“

      Claudias Mutter sah die Tränen in den Augen ihrer Tochter, noch bevor sie ihr über die Wangen liefen. Sie stand auf, ging um den Tisch herum und umarmte sie. „Wir werden das zusammen schon hinkriegen“, sagte sie aufmunternd zu ihrer Tochter, während sie ihr beruhigend über den Rücken strich.

      Danach ging sie auch zu Simon, der ruhig und scheinbar zufrieden in seiner Tragetasche lag. „Und um dich werden wir uns ganz besonders gut kümmern“, sagte sie in leisem, fast flüsterndem Ton zu ihm. Ihr Vater saß auf seinem Stuhl sah zu Simon hin und begann seinen Kopf zu schütteln. „Da soll mir noch einmal einer mit einem liebenden Gott kommen“, sagte er vorwurfsvoll, ohne dabei den Blick himmelwärts zu richten. Er hatte schon vor Langem damit aufgehört, an jenen Gott zu glauben, den ihm die Kirche von früh an schmackhaft machen wollte. „Gott hat damit nichts zu tun“, entgegnete Claudia ihrem Vater. „Und wenn doch ...“, setzte sie an, um den in ihrem Kopf bereits beendeten Satz, dann doch nicht zu beenden.

      Zwar gehörten ihre Eltern – ihr Vater am allerwenigsten

      nicht zu jenen, die der Kirche all jene Geschichten abkauften, die diese so gerne geglaubt haben würde, doch den Satz, den Claudia nur gedanklich zu Ende geführt hatte, ließ sie dann doch unausgesprochen. Claudias Vater sah sie an und sagte dann: „Wie auch immer, wir sind eine Familie und wir stehen