Wilfried Stütze

Die ihre Seele töten


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      Prolog

      Celle, im Jahre 1607

      „Verbrennt ihn! Hängt ihn auf“, grölte es aus der Masse vor dem Gefängnis. Eigentlich war es ein dunkles, feuchtes Kellerverlies im Rathausgebäude mit einem kleinen vergitterten Fenster zum Marktplatz hin, auf dem sich der Pöbel zusammengerottet hatte.

      Durch das kleine Fenster konnte Miguel fast alles hören. Besonders taten sich offenbar zwei Männer hervor. Deren Stimmen übertönten zuweilen die anderen, als ob sie die Menge noch anstacheln wollten. Jetzt wieder: „Die Juden haben unseren Heiland ermordet! Auf den Scheiterhaufen mit diesen Juden!“

      Es waren zwei Fuhrknechte, aber das konnte Miguel, in seiner Heimat wurde er Don Miguel Francisco y Dominguez gerufen, aus der Fensteröffnung heraus nicht erkennen. Auch nicht, dass der Lärm fast vierzig Leute angezogen hatte – und es wurden immer mehr. Inzwischen waren auch Menschen aus den oberen Ständen, sogenannte ehrbare Bürger, stehen geblieben und unterbrachen eine Weile ihre Besorgungen. Keiner wollte sich offenbar das Spektakel entgehen lassen. Selbst Kinder johlten im Beisein ihrer Mütter: „Saujude! Hexenmeister! Saujude!“ Sie ließen sie gewähren. Ein ganz gewiefter Händler nutzte die Gelegenheit und schlug ein Fass Bier an. Es herrschte eine Art Volksfeststimmung vor dem Celler Rathaus.

      Mein Gott, Vater im Himmel! So ein langer Weg liegt hinter uns, dachte Miguel. Die Flucht aus Cordoba, unserer südspanischen Heimat, die meine beiden Kinder und mich zuerst bis zu meinem Bruder Juan Salomon in die deutschen Lande nach Hamburg bringen sollte, dann weiter zu meinem Bruder Don Manuel Isaak nach Amsterdam in die Niederlande. Viele Juden, dachte Miguel weiter, hatten nach der großen Vertreibung am Ende des 15. Jahrhunderts ihre Heimat nach und nach verlassen. Für die verbliebenen „Neuchristen“ bedeutete damals die Inquisition mit ihren Scheiterhaufen eine ständige Gefahr, besonders, wenn sie im Verborgenen an ihren Bräuchen festhielten.

      Das war auch mehr als hundert Jahre später noch so. Seine jüngeren Brüder waren deshalb schon vor vielen Jahren aufgebrochen. In Amsterdam, obwohl nur die calvinistisch-reformierte Glaubensrichtung zugelassen war, wurden Juden und Andersgläubige nicht verfolgt, aber auch hier durften sie ihren Glauben nicht öffentlich ausüben. Don Manuel Isaak, der sich wieder nur Isaak nannte, wollte eine Druckerei eröffnen, vielleicht sogar die erste hebräische Druckerei in Amsterdam überhaupt. Juan hingegen wollte Handel treiben. Er war eine Kaufmannsseele und wollte möglichst reich werden.

      Miguel jedoch konnte oder wollte sich nicht von seiner spanischen Heimat lösen. Er dachte mit zunehmender Verbitterung darüber nach, ob er für den Tod seiner geliebten Frau Donna Inez letztendlich verantwortlich war. Die Häscher der Inquisition hatten sie ohne Vorwarnung als angebliche Hexe verhaftet. Die Gerichtsverhandlung und der Scheiterhaufen waren ihr gottlob erspart geblieben. Das Herz versagte noch im Kerker. Für diesen Umstand dankte er dem Herrn, aber seine Schuldgefühle wurde er nicht los. Die Anklage wegen Ketzerei war nur ein Vorwand, genau wie der Prozess in Celle eine Farce sein würde, sollte es denn dazu kommen.

      Bis nach Celle habe ich es also geschafft, dachte er vor sich hin. Eine geraume Zeit waren Don Miguel und seine beiden Kinder dem uralten Pilgerweg nach Santiago de Compostela in umgekehrter Richtung gefolgt. So waren sie als Heimkehrer von einer Pilgerreise selten um eine Auskunft verlegen. Ab irgendeinem Zeitpunkt im Süddeutschen hatte sich dann ein Dominikanermönch an ihre Fersen geheftet. Er hatte eine fahle Gesichtshaut und dünne Lippen. Sie trafen ihn in fast jeder Herberge wieder. Offenbar funktionierte das Nachrichtensystem der europäischen Inquisition. Sie waren erleichtert, als sie ihren Verfolger im norddeutschen Braunschweig für kurze Zeit abschütteln konnten. Seine Kinder waren dadurch wahrscheinlich in Sicherheit. Sarah konnte er bei dem angesehenen Büchsenschmied Heinrich Schlachmann im Haushalt unterbringen und Alfonso im Geschäft des Buchdruckers Andreas Duncker. Beiden Kindern hatte er einen ansehnlichen Geldbetrag dalassen können, aus Sicherheitsgründen auch seinen Schatz, das Buch des Handelshauses Don Miguel. Die Informationen, die dieses Buch enthielt, waren die Grundlage für die Fortführung seines Handelshauses. Und mehr noch: Es würde sich die unbedingt erforderliche finanzielle Grundlage daraus ergeben. Plötzlich wurde Miguel etwas klar. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen.

      Ich habe meinen Kindern bisher nicht verraten, um welche Informationen es sich handelt und vor allem nicht, wie sie diese im Buch überhaupt entdecken können, erschrak er. Andererseits, je weniger sie wissen, desto sicherer sind sie, dachte er schon etwas beruhigter. Unseren Verfolger haben wir immerhin in Braunschweig abgeschüttelt. Sarah und Alfonso - mein Gott, sie sind erst sechszehn und zwanzig Jahre alt - sollten nachkommen, sobald sie Post von mir aus Hamburg erhalten.

      Alles war geplant. Um nicht aufzufallen, hatte er die Kleidung eines Fuhrknechts angelegt. Einen jungen Burschen und eine junge Frau, die in den Gassen bettelten, hatte er gegen einen für sie horrenden Lohn angeworben, mit ihm zu fahren. Eine Stunde vor Dunkelheit war es gewesen, als er mit seinem Fuhrwerk auf der mit Kopfstein gepflasterten Gasse zum Wendentor hinausgerumpelt war. Der Hauptmann der Bürgerwache kontrollierte gerade seine Wache ein letztes Mal, bevor das Tor geschlossen werden sollte. Die Wachsoldaten wunderten sich noch wegen der späten Stunde und er gab ihnen gerne Auskunft, dass er es mit seinen „Kindern“ noch bis zum Gut Steinhof vor den Toren der Stadt schaffen wollte. Dort würden sie natürlich nie angekommen. Seine falschen Kinder hatte er in einer Herberge bald darauf zurückgelassen. Vermutlich soffen und fraßen sie dort, bis kein Heller mehr übrig war. Sein Verfolger von der heiligen spanischen Inquisition würde erst am nächsten Tag seine Spur wieder aufnehmen können. So war sein Plan.

      „Mein Plan hat nicht funktioniert“, schrie er zum Fenster seines Gefängnisses hinaus. Dieser verdammte Mönch schien zu wissen oder zu ahnen, wo ich hinwollte und hat einfach auf eine gute Gelegenheit gewartet, um mich töten zu können. Im Namen Gottes, fluchte Miguel.

      Der Mönch hatte ihn mindestens vom Süden Deutschlands an verfolgt, aber alles war bisher einigermaßen gut gegangen. Selbst mit der Sprache hatte es kaum Probleme gegeben. Durch sein Handelshaus hatte er Geschäftsbeziehungen bis in die deutschen Lande, in die nördlichen vereinigten Niederlande und auch in den Osten des Kontinents hinein. In seiner Familie sprach man spanisch, deutsch, niederländisch und auch einigermaßen hebräisch. Auch die Kinder waren mehrsprachig aufgewachsen. Hebräisch wurde nur noch selten gesprochen. Seine Vorfahren waren conversos (Konvertiten). Nach der Ermordung Tausender von Juden Ende des 14. Jahrhunderts legten viele ihren Glauben ab und traten zum Christentum über. Da das nicht so ganz freiwillig geschah, trauten ihnen ihre Mitmenschen schon damals nicht. Vielfach durchaus zu Recht. Don Miguel und seine Familie waren im Grunde halbherzige Christen und halbherzige Juden. Sein Bruder Manuel Isaak allerdings wollte Jude sein und konnte es jetzt wohl auch wieder in Amsterdam.

      Dass der Dominikanermönch es geschafft hat, mich zu finden, grenzt an ein Wunder, nahm er seine Gedanken wieder auf. Vielleicht auch nicht. Mit seiner komplett schwarzen, sehr einfach gehaltenen Kleidung eines Mönchs und dem groben Holzkreuz, das auf der Kutte baumelt, ist er als Kirchenmann leicht erkennbar. Er braucht nur den Hinweis zu geben, dass er als Ermittler der Inquisition im Auftrag des Papstes arbeitet und schon öffnen sich bestimmt viele Münder, trotz überwiegend evangelischer Bevölkerung hierzulande. Einen Juden wie mich trotz fortgeschrittenen Alters mit noch immer schwarzem Haar, schwarzen Augen und brauner Haut, einen in Spanien geborenen Juden