Wilfried Stütze

Die ihre Seele töten


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Dennoch, er ist Herr über das ehemalige Franziskanerkloster, das man seit den Siebzigern des letzten Jahrhunderts immer mehr zum Zeughaus entwickelt hat. Was wohl die Mönche sagen würden, die hier mal gelebt haben, wenn sie wüssten, dass ihr zu Ehren Gottes erbaute Kloster nun eine Rüstkammer ist?“

      Wo will er mit seinen Ausführungen hin? Aber man musste ihn gewähren lassen. Zwar hatte Onkel Camann eine ziemlich umständliche Art, wie sie ja bei Gelehrten nicht unüblich ist, aber man konnte in der Regel etwas lernen, dachte Michael.

      „Das Braunschweiger Zeughaus ist berühmt für seine großen Bestände an Geschützen aller Kaliber mit Steinkugeln und auch mit gegossener Munition. Hauptsächlich enthält es aber Handwaffen und Harnische. Veraltete Stücke werden ständig abgestoßen und neue beschafft. Der Zeugherr hat die letzte Verantwortung für das Amt.

      Dennoch. Dieser Herr Boiling hat es nicht leicht, wie man hört. Ständig hat er mit der Unzuverlässigkeit und Faulheit seiner Leute zu kämpfen, zum Beispiel mit den Zeugwarten, die zum Waffenreinigen und -einfetten gebraucht werden. Für wichtiger aber halte ich das permanent schlechte Verhältnis zum ‚Engen Rate’. Der ist ihm vorgesetzt und nicht gut auf den Zeugherrn zu sprechen, weil der ständig Geldforderungen an den Rat hat. Andererseits will die Aufgabe auch niemand übernehmen, sie wird ziemlich schlecht bezahlt. Ich habe mich unauffällig erkundigt. Und da liegt der Hase im Pfeffer. So weit also meine Analyse.

      Das Motiv des Zeugherrn Boiling könnte demnach Geld sein – aus einer zumindest so empfundenen Not heraus. Er bekommt einhundertzwanzig Gulden im Jahr, vier Scheffel Roggen, freie Wohnung und für jeden Tag, wenn er selbst im Zeughaus arbeitet, sechs Mariengroschen. Das ist alles in allem nicht viel. Und der Kämmerer schwafelte von Geschäften. In dem Fall kann ich mir nur Gier vorstellen.“

      „Und der Graf?“, warf Michael ein.

      „Keine Ahnung. Da habe ich keinen blassen Schimmer“, gab der Justiziar unumwunden zu. „Immerhin hat der Graf eine Funktion im Niedersächsischen Kreis. Er muss letztlich auch für Ausrüstung und Waffen sorgen. Wir haben aber Friedenszeiten. Naja, so einigermaßen. Ich denke, die drei bilden eine unheilvolle Allianz. Was sagt ihr dazu?“

      Camann ist auf dem richtigen Wege. Das sagt mir einfach mein Gefühl, dachte Michael. „Wie steht eigentlich der Graf wirtschaftlich da?“, fragte er, anstatt zu antworten. „Und wie der Kämmerer? Ich glaube, Sie sind auf der richtigen Fährte.“

      „Vom Grafen weiß ich nichts, aber der Kämmerer scheint zurecht zu kommen, nach allem, was man so hört“, bemerkte Heinrich.

      Bleibt der Graf, dachte Michael. Bleibt nach wie vor der Graf. Camann hat recht. Was haben die drei zu besprechen? Was verbindet sie?

      „Na, ich denke, wir kommen heute nicht weiter.“ Heinrich stand auf und schaute seinen Sohn an. „Du hast ja sicher auch einen Grund, Onkel Camann einen Besuch abzustatten. Ich geh dann mal.“

      Ja, dachte Michael, ich habe einen Grund. Hoffentlich hat er noch Zeit für mich.

      Während Camann seinen Vater hinausgeleitete, schaute sich Michael im Raum um. Er war schon oft in diesem Zimmer gewesen, hatte sich ein Buch ausgeliehen oder mit Onkel Camann über Geschichte oder Politik gesprochen. Er war da sehr geduldig, nur musste man eben seine zuweilen langen Ausführungen ertragen. Meistens waren sie aber interessant. Michael hatte das Gefühl, alles wie aus der Entfernung zu betrachten. Wie abwesend.

      Es ist die Behausung eines Gelehrten. Eine großbürgerliche Welt, wie ich sie mir eines Tages auch für mich vorstellen kann, dachte Michael.

      „Entschuldige. Dein Vater und ich haben uns auf dem Hof noch etwas verquatscht.“

      „Ich weiß gar nicht, ob du noch Lust hast mich anzuhören.“ „Aber klar, ich hole uns eine Flasche Wein. Was meinst du? Dauert aber einen Moment. Ich muss erst in die Speisekammer. Im Haus ist nichts mehr.“

      Michael betrachtete weiter den Raum und dachte darüber nach, womit er das Gespräch beginnen sollte.

      „Mit dem Anfang“, grinste Camann eine Flasche Weißwein und zwei Gläser auf den Tisch stellend. „Du hältst Selbstgespräche, junger Mann.“

      Michael errötete leicht, spürte es und ärgerte sich sofort. Wieso habe ich nur einen solchen übertriebenen Respekt vor diesem Mann. Na egal, ich möchte seinen Rat.

      „Es geht um Nürnberg“, fing er einfach an. „Ich will versuchen, bei den Fuggern unterzukommen und möglichst viel lernen. Vater wird Ihnen berichtet haben. Ist es ruhig um Nürnberg? Wissen Sie da etwas und überhaupt interessiert mich ihre Meinung zu meinem Vorhaben.“

      „Das dachte ich mir schon und ich freue mich, dass du meinen Rat suchst. Weißt du, Michael, du musst tun, was du tun musst. Das hat dir sicher deine Mutter auch schon gesagt. Sie ist eine kluge Frau.“

      „Woher wissen Sie das?“

      „Ich weiß es nicht, aber ich sagte ja schon. Sie ist eine kluge Frau. Um Nürnberg herum ist es zurzeit ruhig. Aber man weiß natürlich nie. Weißt du, ich werde dir ein wenig Hintergrund zur aktuellen Entwicklung geben. Vielleicht unsere letzte Unterhaltung oder sollte ich sagen mein Vortrag, zur Geschichte und Politik. Ich werde das vermissen. Du warst immer ein geduldiger Zuhörer.“

      Michael nahm einen Schluck Wein und saugte jedes Wort des Gelehrten auf.

      „Ich will nicht über den Prager Fenstersturz reden, der letztlich 1618 zum Kriegsausbruch geführt hat. Angefangen hat meiner Meinung nach alles schon viel früher. Das Ende der Reformationszeit war wohl endgültig mit dem Augsburger Frieden gekommen. Frieden hat der Reichstag, der im Jahre 1555 in Augsburg abgehalten wurde, offensichtlich nicht gebracht. Seit damals gilt der Grundsatz ‚Cuius regio, eius religio‛.“

      „Wessen Herrschaft, dessen der Glaube“, übersetzte Michael mühelos.

      „Die Lateinschule scheint dir gut getan zu haben“, versetzte Camann doch etwas erstaunt und fuhr fort. „Also, das bedeutet, dass nicht dem einzelnen Menschen, sondern den Fürsten die freie Entscheidung zwischen dem alten und dem neuen Glauben gesichert wurde. Andersgläubige durften seitdem allerdings das jeweilige Territorium verlassen. Das aber ist in der Regel doch praxisfremd. Seitdem sind auch wir Braunschweiger mal evangelisch - unsere eigentliche Konfession - und aus pragmatischen Gründen, wenn der Herzog es will, auch mal „gut katholisch“. So viel zu den grundsätzlichen Dingen. Na, aber dann kam es eben doch, aus angeblich religiösen Gründen, zum Kriegsausbruch. Das war, als Kaiser Matthias sich anschickte, die Religionsfreiheit aufzuheben, die sein Bruder und Vorgänger Rudolf II. den überwiegend protestantischen Ständen in Böhmen und Mähren gewährt hatte. In Prag begann also 1618 der Krieg.

      Ich glaube allerdings, dass dieser Krieg oder besser gesagt diese Kriege, die seitdem geführt wurden, keine Religionskriege sind. Die Religion wird nur benutzt. Benutzt für ganz klare Machtinteressen der Habsburger oder jetzt auch Gustav Adolfs von Schweden, der vorgibt, für die protestantische Sache einzutreten.“

      „So auf den Punkt gebracht habe ich das noch nie gehört“, meldete sich Michael.

      „Nun noch mal zu deinem Vorhaben.“

      Michael, schon etwas weinselig, wurde hellwach. „Was hältst du davon, wenn ich in meiner Funktion als Syndikus der Stadt Braunschweig und Freund der ehrenwerten Familie des Büchsenschmiedes Heinrich Schlachmann, den Fuggern in Nürnberg einen Brief schreibe und dich als einen blitzgescheiten jungen Mann schildere, dem man bitte ein Praktikum gewähren möge.“

      Im Grunde habe ich doch noch gar keine endgültige Entscheidung getroffen, ging es Michael rasend durch den Kopf. Lena und … Was will ich eigentlich?

      „Das wäre eine große Hilfe“, antwortete Michael etwas steif.

      „Wann willst du denn eigentlich aufbrechen?“

      Jetzt war es passiert. „Nach der Hochzeit von Anna und Karl. Vermutlich im Juli.“

      Michael sollte später noch an dieses Gespräch