Hellen Scheefer

Aufenthalt bei Mutter


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zwar oft und laut miteinander, liebten sich aber dennoch. Die Wohnung war eingerichtet. Sie hatten alles, was sie zum Leben brauchten.

      Bedeutete solch ein Leben Harmonie? Beth musste manchmal an ein Gespräch mit Vater denken, das Jahre zurück lag. Es war kurz vor Beth Hochzeit mit Karl gewesen. Vater hatte beim Abendbrot beiläufig gemeint, man solle die Harmonie beachten. Wenn es in einer Beziehung keine Harmonie gäbe, solle man die ganze Sache besser bleiben lassen. Beth hatte ihn damals prompt gefragt: „Was ist das, Harmonie? „ Vater hatte wortlos sein Brot weiter gekaut, und war ihr die Antwort schuldig geblieben. Wusste er keine Antwort? Oder war ihm die Frage zu dumm erschienen? Nach all den Jahren hatte Beth sich selbst noch keine Antwort geben können.

      Ruhe bedeutete für Beth, dass ein Tag den geplanten Verlauf nimmt. Wenn sich die Tage einander ähnelten, dann war Ruhe in den Alltag eingezogen. Harmonie, das musste wohl das Übereinstimmen von Meinungen bedeuten. Gleicher Geschmack, gleiche Werte und Ansichten. Fremde Ansichten stießen Beth ab. Das gleiche erwartete sie von Anderen, wenn sie deren Meinung widersprach. Und weil Anderssein und Fremdsein ganz selbstverständlich zu Ablehnung führten, brachte Beth ihre Meinung stets hart und aggressiv vor. Ganz nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung! Widerrede war sinnlos oder aber nicht mehr interessant.

      Beth hatte es nie anders kennen gelernt. Selbst jetzt, als erwachsene Frau, erntete Beth Mutters Ablehnung, wenn sie nicht deren Meinung traf. Karl lachte sie lauthals aus, wenn sie ihm fremde Standpunkte näher begründete. Sie sei naiv und dumm! Jeder müsse sehen, wo er bleibt im Leben, sonst wird man untergebuttert. Streben nach Ehrlichkeit und Gerechtigkeit hätten keine Chance. Solche Sachen zählten nicht. Während Beth ihrem Idealismus nachhängt, erwirtschafteten Andere inzwischen stillschweigend ihren Vorteil. So argumentierte Karl. Wagte Beth dann immer noch zu widersprechen, so schnitt Karl ihr das Wort ab: Beth müsse alles anders machen, als die anderen Leute. Nur, um aufzufallen.

      Beth beschlich in solchen Momenten ein merkwürdiges Gefühl. Hatte er Recht? Sie kannte wirklich niemanden in ihrem Umfeld, der so dachte wie sie, mit dem sie über die Dinge des Lebens reden und sich verständigen konnte. Sie fühlte sich fremd und einsam unter den Menschen.

      Beim Erziehen der Kinder hatte Beth eine Art 'Strafenleiter' entwickelt. Beim ersten Mal ermahnte sie das Kind ruhig. Beim zweiten Mal wurde sie laut. Wagte das Kind einen dritten Versuch, schlug Beth zu. Beth war davon überzeugt, dass Kinder strenge, konsequente Regeln brauchten. So fühlte sie sich verpflichtet, ihre 'Strafenleiter' einzuhalten. Beth war der festen Ansicht, dass Kinder Ausnahmen von den Regeln nicht verstehen könnten. Ausnahmen würden sie nur als Schwäche, als ein Unterliegen der Eltern verstehen.

      Am Abend fand ein Ritual zum Schlafen gehen statt. Diesem Vorgang konnte sich keiner der Familie entziehen. Jeden Abend erfanden die beiden Kinder irgendeinen angeblich ganz wichtigen Grund, weshalb sie dringend noch einmal in die Stube kommen mussten. Mal war es ein Käfer im Zimmer, mal eine nasse Hose, Durst, Toilette gehen. Oder aber, das Geschwisterkind wollte nicht still sein und nun mussten die Eltern für Ruhe sorgen.

      Doch was konnte helfen, wenn der Tag zu kurz und das Bedürfnis der Kinder nach Nähe ungestillt geblieben war? Was geschah, wenn nach der fünften Runde nun ernsthaft die Blase drückte? Dann eskalierte Beths 'Strafenleiter'. Der Abend endete mit Geschrei und Weinen.

      Karl hielt sich bei diesem allabendlichen Kleinkrieg um das Zubettgehen der Kinder zurück. Er wollte seine Ruhe haben. Wenn das Abendprogramm im Fernsehen begonnen hatte, war er nicht mehr bereit einzugreifen. Meist brüllte er die Kinder dann nur aus dem Sessel heraus und überließ alles Weitere Beth. Ein anderes Mal, er hatte offensichtlich gute Laune, holte er die quengeligen Kinder zu sich heran, setze sie auf seinen Schoss und ließ sie ein Weilchen dem Fernsehprogramm zuschauen.

      Wenn Beth und Karl sich gestritten hatten, oder, schlimmer noch: wenn Beth sich verletzt fühlte, ohne recht zu wissen von wem und warum, dann hatten die Kinder keine gute Zeit. Beth hielt sich zwar an ihre 'Strafenleiter', aber ihre Strafen wurden dann unberechenbar und hart. Sie spürte nicht, dass eine tiefe, kalte Wut, ja beinahe Hass sie trieb und ihr jedes Augenmaß nahm. Sie verlor die Kontrolle über ihre Gefühle und Reaktionen. Ein kleines Necken erschien ihr unerhört und frech.

      Beth vermochte nicht, noch jung in ihrer Rolle als Mutter, sich in die Welt eines kleinen Kindes einzufühlen. Mehr noch: Beth bewertete alles Tun ihrer kleinen Tochter, als wäre die schon eine Erwachsene. Sie glaubte ernsthaft, ihre Tochter wolle sie ärgern, wenn diese eifrig alle Steinchen, Schnecken, Vogelkacke und Zigarettenstummel von der Straße aufhob, und schneller, als Beth ahnen konnte, sich in den Mund schob. Es dauerte Jahre, bis Beth begriff. Als das zweite Kind, das Söhnchen, ganz ähnlich seiner Schwester mit Begeisterung Dinge tat, so unverständlich für Erwachsene, um sie bald darauf ganz zu vergessen, begriff Beth endlich, dass Kinder nicht nur an ihrem Körper wuchsen.

      Eines Tages, Beth war gerade zu Besuch bei ihrer älteren Schwester, war sie mit dem Töchterchen unterwegs. Sie gingen einkaufen, was sonst? Die große Schwester wohnte in Berlin. Diese Stadt war der einzige Ort in der Republik, wo die übliche Mangelware im Ladenregal offen auslag. Berlin sollte halt Aushängeschild für die angebliche Wirtschaftskraft des Sozialismus darstellen. Das Einkaufen in dieser Stadt geriet jedes Mal zu einer Jagd. Die Gelegenheit bot sich selten und die Liste der Wünsche war entsprechend lang geworden.

      Beth hetzte. Sie hatte sich zu viel vorgenommen. Die Stadt war weitläufig. Die Entfernungen von Laden zu Laden waren tatsächlich viel größer, als der Blick vermuten ließ. Die weite Sicht und die breiten Straßen ließen die Strecke kürzer erscheinen, als sie tatsächlich war. Inzwischen hatte es zu regnen begonnen.

      Beth ging allein in den Laden hinein, um das Töchterchen nicht auch noch mit dem Gedränge der Menschen zu belästigen.

      Während Beth im Laden herum suchte, entdeckte die Kleine ein wunderbares Spiel. Der Regen hatte eben aufgehört und glitt nun als feiner Faden aus einer Dachrinne an der Häuserwand entlang. Unmittelbar am Kinderwagen vorbei rann er zu Boden. Als Beth eine Weile später aus dem Laden wieder heraus kam, fand sie das Töchterchen vor, wie es andächtig den Faden sich genau auf den Kopf rieseln ließ und dem Wasser nachspürte. Das Mädchen war bis auf die Haut durchnässt. Es war spät im Herbst. Die Luft war kalt, noch nass vom Regen. Der Rückweg würde beinahe eine Stunde brauchen. Beth sah ihre Tochter lächeln. Da schlug sie zu. Sie schlug solange, bis jemand sie ansprach: „Das ist ja schon Kindesmisshandlung, was sie da machen!“ Beth stutzte, hielt ein. Für die Dauer eines Augenblickes schämte sie sich. Dann aber sah sie auf ihre Tochter. Wie konnte ein vernunftbegabtes Wesen nur so dumm sein? Sich bei diesem Wetter so nass zu machen! Sie schlug nicht weiter, aber ihre Wut hielt noch an, bis das Töchterchen wieder trockene Sachen anhatte.

      Bei Mutter. Der Fernsehabend.

      Inzwischen hat eine politische Sendung begonnen. Ein Kommentar zum Tagesgeschehen. Die gescheiterte Abschaffung der Obamacare, eine soziale Pflichtversicherung in den USA, die der Vorgänger des jetzigen Präsidenten, Barack Obama, eingeführt hatte. Es war ein Wahlversprechen des neuen Präsidenten Donald Trump gewesen, diese Versicherung durch eine neue Regelung mit weniger Leistungen zu ersetzen. Es vergeht beinahe kein Tag, da der neue Präsident keine Schlagzeilen macht. Sein Verhalten tritt diplomatische Gepflogenheiten mit den Füssen. Er wettert gegen die Bündnisse mit den Europäern, die die USA eingegangen sind. Er will den Import von Waren maßgeblich herunter schrauben. „Amerika first“ heisst seine Devise. Mutter ergießt sich in ihrem Hass auf den neuen Präsidenten. Er ist so offensichtlich dumm und selbstverliebt und versteht das Amt des mächtigsten Mannes der Welt als Business, als sei es ein unternehmerischer Deal. Ich kann Mutters Verachtung gut verstehen. Aber sie spricht so laut und schnell, dass ich dem Kommentator in der Sendung nicht mehr folgen kann. Ich fordere sie mit einem energischen „Pscht!“ zum Schweigen auf. Meine Mutter hält einen Atemzug lang verdutzt inne. Dann ergießt sich der Redeschwall weiter ungebremst.

      Mit einem Blick auf die Uhr gebe ich mich geschlagen. Halb Elf ist nicht mehr lange hin. Ich erhebe mich und gehe in die Küche. Vorher inspiziere ich vorsichtig das Bad. Es stinkt. Aber der Fußboden ist bis auf zwei kleine braune Flecken sauber. Das Toilettenbecken ist gefüllt mit braunem Wasser. Mutter