Cristina Fabry

Kirche halb und halb


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IST MEINE TRAURIGKEIT, MEIN CHAOS, MEIN SCHMERZ.

      WENN MIR DAS ERST EINMAL GENOMMEN WIRD, HABE ICH JA GAR NICHTS MEHR.

      WIEDER ZU VIEL GEGESSEN.

      Schnee war gestern

      Schnee war gestern. Heute ist Fön. Morgen vielleicht eisige Luft aus Nordost, aber nicht eisig genug.

      „Lass uns auf den Berg fahren. Mal durch den Schnee laufen“

      Dreihundert Meter bringen es auch nicht voran. Mehr Matsch als Schnee. Dazu schneidender Nordwind im vom Klimawandel gelichteten Wald – die Tage der Fichtenplantagen sind gezählt, was rede ich, zu Ende.

      Die Laune genauso ungemütlich und um den Gefrierpunkt herum wie der Rest des Wetters.

      „Leon, ist das etwa der Schneemann?“ fragt eine Mutter im schneidend-gestrengen-überakzentuierten Ton ihren wohlgenährten, vollumfänglich wattierten Sohn im frühen Grundschulalter.

      „Nein.“ behauptet Leon und wirft den ersten der beiden Schneebälle in seinen Händen.

      „Natürlich ist das der Schneemann!“, straft ihn die Mutter Lügen. „Ich sehe den Schneemann nicht mehr und eben war er noch da.“

      „Aber die hier hab‘ ich gemacht.“ schwindelt Leon trumpesk und feuert das zweite Geschoss ab.

      „Leon, das finde ich jetzt wirklich total doof, dass du den Schneemann kaputt gemacht hast. Du gehst jetzt da hin und baust den wieder auf.“

      Bedauerlicher Fauxpas, einen Ypsilon-Chromosomenträger zur Welt zu bringen, denke ich. Mutter eines Sohnes sein müssen, ist wirklich eine Strafe. Lustlos schleppt die arme Frau das Spielzeug ihres Wonneproppens und muss sich dann auch noch von ihm bewerfen und veräppeln lassen. Welch ein Elend. Aber jetzt so ein generelles Männerbashing, das ist ja auch nicht richtig. Es gibt so viele Schwule und Transfrauen, die haben ja auch alle diesen Gen-Defekt mit dem Ypsilon-Chromosom und sind ganz anders als die handelsüblichen Testosteron-Schleudern.

      Und vielleicht ist diese Mutter ja auch total bescheuert und hat den Leon zu dem Empathie-befreiten Trampel gemacht, das er jetzt schon ist und möglicherweise bis zum letzten Atemzug bleiben wird. Ja und der Macho-Papa natürlich. Die war bestimmt so blöd, so einem tumben Vollmacho auf den Leim zu gehen und seine Gene freiwillig auszubrüten. Selbst Schuld. Und dann hat sie alles getan, damit der Kleine genauso wird wie der Große. Nein, nicht mit Absicht, aber so sind die Frauen: Beklagen sich ständig, reproduzieren aber trotzdem konsequent die bestehenden Verhältnisse.

      Männer und Frauen entstammen unterschiedlichen Kulturkreisen. Das wird es sein. Und die Homos und Transmenschen sind die Integrationsfiguren unserer Gesellschaft. Die vermitteln zwischen den Kulturen, darum – und nicht nur darum – sind sie so wertvoll und unverzichtbar.

      Gerade sinniere ich über politische Reformen im Zusammenleben der Geschlechter: Von den besonders empathischen, klugen und hübschen Hetero-Exemplaren Samenspenden entnehmen und für den Arterhalt sichern. Diese weiterhin unversehrten Exemplare der Weiblichkeit für gelegentliche Liebesakte zur Verfügung stellen, den Rest…

      Zack – bumm – dunkel.

      So tumb-trampelig ist Leon dann wohl doch nicht. Hat irgendwie gespürt, von wo eine existentielle Bedrohung für ihn ausgeht. Ich schwebe über meinem dahingeschiedenen Körper, meinem Werkzeug des Handelns, das nun von einem Siebenjährigen seiner Funktionsfähigkeit beraubt wurde. Blut sickert aus meiner Schläfe – ein scharfkantiger Stein im Schneeball – vielleicht hatte Leon diesmal tatsächlich nicht gelogen. Meinen Beitrag zu einer besseren Welt kann ich jetzt nicht mehr leisten. Leon und seine Spießgesellen werden auch die letzten Fichten vertrocknen, die letzten Fische ersticken, die letzte frische Quelle versiegen und die letzte bedrohte Art aussterben lassen. Und sich fortpflanzen und lauter kleine Terminatoren in die Welt setzen, die der Erde den Rest geben.

      Aber dafür bin ich nicht mehr zuständig. Ich schwebe mal ins Licht, bade in Champagner und inhaliere Wollust und im nächsten Leben werde ich auf einem anderen Planeten geboren.

      Selbstaufgabe

      Am liebsten hätte er sie alle erschossen. Die ganze selbstgerechte Mischpoke samt und sonders. Haben einfach seinen Vertrag nicht verlängert. Meinten, sie wüssten es besser als er.

      Er hatte sich ausgemalt, wie das Projektil Beyers Brust zerfetzte und seine fischigen Glubschaugen noch deutlicher hervortraten als sie es ohnehin schon taten; wie er blutend über seinen Zahlenkolonnen zusammenbrach und nach einem letzten Zucken das Atmen einstellte.

      Er sah Struck, wie er die knochige Hand auf seinen langen Hals presste, zwecklos, weil das Blut pulsierend aus seiner verletzten Aorta schoss, vielleicht dreißig Sekunden, dann brach er ohnmächtig zusammen. Nie wieder selbstgefälliges Geschwafel aus seinem Mund, was für eine Wohltat.

      Und die dumme Kirschstein, die immer alles abnickte, einmal direkt in die Schläfe und Schluss. Sagte nur noch einmal wortlos ja und zwar zum eigenen Tod.

      Doch das passierte nur in seiner Phantasie. Er war das Opfer, fügte sich still in sein Schicksal und verzweifelte an dieser Welt. Die anderen machten weiter.

      Wir sind im Schwarz-Weiß-Zeitalter angekommen. Grautöne verschwinden. Farben auch. Nicht die grellbunten, die digital oder chemisch generierten, die in den Augen brennen, sich festsetzen in unseren reizbaren Gehirnen und uns emotional erblinden lassen.

      Nein, die warmen Farben, die sanften Zwischentöne, das Ungefähre, der Zweifel.

      Jeder ist sich sicher. Alle wissen Bescheid. Man hat es schon immer gewusst. Dieses ist richtig, jenes ist falsch. Wer das nicht versteht, muss eingenordet werden. Ins Wort fallen, immer lauter reden, Argumente abfeuern wie Maschinengewehrsalven, Links setzen, Verbündete dazu holen. Und wenn das alles nicht hilft: rausschmeißen, aussperren oder einsperren, ignorieren, blockieren, auslachen, entwerten.

      Was gar nicht mehr geht: Zuhören. Braucht zu viel Zeit. Gibt auch viel zu viel. Man muss sich entscheiden, wählt man lieber das Bekannte, das Bestätigende. Man will sich schließlich wohlfühlen.

      Was außerdem nicht mehr geht: Nachdenken. Langweilig wie ein alter Film mit starrer Kameraeinstellung, praktisch ohne Schnitte. Gefangen im eigenen Kopfkino, in dem die ganze Zeit Arthouse-Filme laufen, die man nicht versteht. Das macht nervös, unzufrieden, zieht so runter. Nein. Action ist angesagt. Machen machen machen. Kurze Instant-Info und dann reden reden reden. Oder posten. Hauptsache: raushauen. Eine Meinung haben. Einen unerschütterlichen Standpunkt. Darauf kommt es an.

      Das Hamsterrad rast auf eine Feuersbrunst zu. Es wird immer heißer und alle wissen Bescheid.

      „Das ist, weil wir alle so in Action sind.“

      „Das ist manchmal einfach so.“

      „Das kommt von den Karierten.“

      Die Karierten. Endlich haben wir einen Schuldigen gefunden. Wenn wir die Karierten rauskicken, ist es nicht mehr so heiß. So nach und nach sehen immer mehr von uns das ein. Die es nicht einsehen wollen, kicken wir auch raus. Dann wird es noch kühler.

      Läuft doch.

      Ja, läuft.

      Keine Gnade

      Regina wollte eigentlich zu Hause bleiben. In der Frühschwangerschaft musste sie sich schonen, zu groß war das Risiko einer Fehlgeburt. Aber Vater hatte gemeint, sie müsse sich mal wieder im Gottesdienst blicken lassen. In der Gemeinde munkele man schon über sie.

      Regina liebte die Gemeinschaft, den geschützten Raum, die emotionale Sicherheit, die die Gemeinde ihr bot. Sie glaubte aber nicht daran, dass eine Versammlung zum Gebet einem Virus die Stirn bieten konnte. Vielleicht verbesserte es die Immunabwehr und half einem, schwere