Eberhard Weidner

TODESSPIEL


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Augenblick, als ihr Herz wieder zu schlagen anfing, was sie nur beiläufig, aber dennoch mit großer Erleichterung zur Kenntnis nahm, kam auch in den Rest ihres Körpers wieder Leben. Ohne lange darüber nachzudenken, was sie tun sollte, denn das hätte erneut wertvolle Zeit gekostet, die sie nicht hatte, tat sie drei Dinge gleichzeitig, um die sich anbahnende Katastrophe im letzten Moment noch abzuwenden. Erstens: Sie riss das Lenkrad nach rechts. Zweitens: Sie trat das Bremspedal durch, bis sie auf Widerstand traf. Drittens: Sie schickte trotz ihres Schwurs vor vier Jahren per Expresszustellung ein Stoßgebet gen Himmel, auf dass der Gott, an den sie sich damals zu glauben geweigert hatte, es bitte, bitte, bitte verhindern möge, dass sie diesen selbstmörderisch veranlagten Mann mit seinem dämlichen Hut über den Haufen fuhr.

      Doch das Fahrzeug reagierte nicht so, wie sie es sich erhofft und ausgemalt hatte. Durch den heftigen Regen war die Fahrbahn überspült worden und mittlerweile fast so glatt wie eine Seifenbahn. Dadurch geriet das Auto sofort ins Schleudern und kreiselte um die eigene Achse. Zoe wurde schon nach der ersten Drehung schwindelig. Sie versuchte, den Wagen zu stabilisieren, doch er reagierte überhaupt nicht mehr auf ihre Lenkbewegungen. Dann erhaschte sie einen kurzen Blick auf den Mann, der sich allem Anschein nach keinen einzigen Millimeter von der Stelle bewegt hatte, als ihr Auto ihn knapp verfehlte und an ihm vorbei kreiselte.

      Danke, lieber Gott!, dachte sie, als zum ersten Mal in ihrem Leben ein Gebet tatsächlich erhört wurde. Doch dann musste sie sich wieder auf das unkontrollierbare Fahrzeug konzentrieren. Sie spürte, wie es von der Straße abkam. Sobald die Vorderreifen den Asphalt verließen, hörte die Schleuderbewegung abrupt auf. Dennoch rutschte das Fahrzeug noch immer zu schnell über den leicht abschüssigen, unebenen Untergrund. Es brach durch mehrere Büsche, ohne dadurch allerdings merklich langsamer zu werden. Dann sah Zoe im Scheinwerferlicht einen Baumstamm vor dem Auto auftauchen. Sie wollte das Lenkrad herumreißen, um ihm auszuweichen, doch es war zu spät. Es krachte, splitterte und klirrte ohrenbetäubend laut, als die linke Frontseite des Wagens mit dem Baum kollidierte, und das Fahrzeug kam sofort ruckartig zum Stillstand.

      Den Bruchteil eines Augenblicks später gab es einen ohrenbetäubend lauten Knall, als die Airbags ausgelöst wurden. Unter ihnen auch der Frontairbag im Lenkrad, der sich in wenigen Millisekunden komplett entfaltete und aufblies und Zoes Körper, der durch den Aufprall nach vorn geschleudert worden war, zusammen mit dem Sicherheitsgurt stoppte.

      Zoe stöhnte laut, als sich der Gurt schmerzhaft in ihren Oberkörper grub und sie mit dem Gesicht gegen den prallen Airbag stieß. Doch der entleerte sich augenblicklich wieder, sobald er seine Aufgabe erfüllt hatte, und wurde schlaff.

      Nach all dem Lärm empfand Zoe die Stille, die nun folgte, zunächst als vollkommen. Doch dann konnte sie das Prasseln des Regens auf dem Dach und das Ticken des rasch abkühlenden Metalls hören.

      Sie stöhnte erneut, als sie, noch immer halb benommen, den Kopf hob. Ihr Brustkorb und ihr Gesicht taten weh; doch es war nicht sehr schlimm. Und ansonsten schien ihr nichts zu fehlen. Es sah also ganz danach aus, als hätte sie großes Glück gehabt und den Unfall dank Sicherheitsgurt und Airbag halbwegs unverletzt überstanden. Es hätte aber auch leicht anders ausgehen können.

      Und das alles nur, weil dieser Idiot mitten auf der Straße stand!

      Jäh wurde sich Zoe wieder des merkwürdigen Mannes bewusst, der den verhängnisvollen Geschehensablauf der letzten Minute erst ausgelöst hatte, indem er sich mitten auf die Fahrbahn gestellt hatte. Die alte, längst vergessen geglaubte Furcht vor dem Räuber aus einem Kinderbuch, dessen schlimmstes Vergehen es gewesen war, der Großmutter des Kasperls eine Kaffeemühle zu rauben, wurde erneut in ihr wach.

      Obwohl sie den Unfall nahezu unbeschadet überstanden hatte, fühlte sie sich noch immer in Gefahr. Gleichzeitig hatte sie plötzlich das überwältigende Gefühl, beobachtet zu werden.

      Zoe wandte den Kopf, um aus dem Seitenfenster zu schauen und blickte direkt in das Gesicht des Mannes, an den sie soeben gedacht hatte. Er stand gebückt neben dem Wagen, presste seine knollenartige Nase und beide Hände gegen die Scheibe und grinste wie ein debiler Irrer. Erst jetzt, aus unmittelbarer Nähe, sah Zoe, was die Hutkrempe, die Dunkelheit und der Regen bislang gnädigerweise vor ihr verborgen hatten. Und was sie sah, glich eher einem Albtraum als einem menschlichen Gesicht.

      Sie schrie gellend und wünschte sich, ihr Stoßgebet von vorhin wäre wie all die anderen ebenfalls nicht in Erfüllung gegangen und sie hätte den Mann überfahren.

      Das hast du jetzt davon, du dumme Kuh!

      Der Mann verzog bei Zoes Schrei das verunstaltete Gesicht zu einer Grimasse, einer Mischung aus Schmerz und Wut, und knurrte dabei laut. Dann trat er einen Schritt zurück, riss die Tür auf und schlug Zoe kurzerhand mit der rechten Faust gegen die linke Schläfe.

      Zoe verlor zwar nicht das Bewusstsein, verstummte aber dennoch. Sie war benommen. Ihr Kopf pendelte haltlos auf ihrem Hals hin und her, und sie stöhnte leise. Sie sah nur noch verschwommen und nahm jedes Geräusch gedämpft wahr.

      Der Hüne beugte sich in den Wagen und löste Zoes Gurt. Anschließend hob er sie ohne Mühe vom Fahrersitz. Als er sie aus dem Fahrzeug holte, fiel ihr Kopf nach hinten und kollidierte mit einem Gegenstand, der sich wesentlich härter als ihr Schädel anfühlte.

      Zoe spürte einen intensiven Schmerz und war überzeugt, dass ihr soeben die Schädeldecke gespalten worden war. Doch sie hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken oder auch nur Bedauern darüber zu empfinden, denn schon im nächsten Augenblick versanken der Angreifer, das Auto und alles andere um sie herum in tiefster Finsternis, die am Ende wie ein unersättliches Ungeheuer auch noch sie selbst verschluckte.

      1

      Auf die weiß lackierte Wohnungstür hatte jemand, der künstlerisch nur mittelmäßig begabt war, mit sämtlichen Farben, die ein gewöhnlicher Farbkasten hergab, die Vornamen der drei Bewohnerinnen gepinselt: Antonia, Katharina und Zoe. Auf dem Klingelschild neben der Tür standen hingegen die dazugehörigen Nachnamen: Bergmann, Richter und Wallner. Es sah aus wie der Name einer renommierten Anwaltskanzlei; in Wahrheit handelte es sich um drei Studentinnen. Aus der Akte der vermissten jungen Frau wusste sie, welcher Vorname zu welchem Nachnamen gehörte und setzte sie wie ein Puzzle zusammen: Zoe Bergmann, Antonia Wallner und Katharina Richter.

      Sie drückte auf die Klingel und wartete. Rasche Schritte näherten sich der Tür und verstummten unmittelbar dahinter; dann wurde sie geöffnet.

      »Hallo, ich bin Anja Spangenberg. Wir haben miteinander telefoniert.«

      Die junge Frau, die der Kriminalhauptkommissarin von der Vermisstenstelle der Kripo München die Tür geöffnet hatte, war etwas mollig und geradezu winzig. Anja schätzte ihre Größe auf höchstens eins zweiundfünfzig und überragte sie damit um ganze zwanzig Zentimeter. Sie konnte nicht älter als achtzehn Jahre sein, hatte kurz geschnittenes, dunkelblondes Haar und strahlend blaue Augen. Neben einer schlabbrigen grauen Jogginghose, die ihr ein paar Nummern zu groß war, trug sie ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift »Ich bin nicht klein, ich bin nur auf das Beste reduziert«. Sie hatte ein Tattoo am rechten Oberarm, von dem Anja allerdings nur einen Teil sah, und ein Piercing im linken Nasenloch.

      Die junge Frau kniff die Augen zusammen und beugte sich nach vorn, als sie gewissenhaft den Dienstausweis studierte, den Anja ihr entgegenhielt. Vielleicht benötigte sie eine Brille, war aber zu eitel, eine zu tragen. Sie schien zufrieden mit dem zu sein, was sie auf dem Ausweis gesehen hatte, denn schließlich nickte sie und erwiderte Anjas Blick. Dann streckte sie dieser ihre kleine, zierliche Hand entgegen und sagte mit einem Lächeln: »Wir haben sie bereits erwartet. Mein Name ist Antonia Wallner. Es war meine Mitbewohnerin Kati, mit der sie am Telefon geredet haben.« Sie sprach mit niederbayerischem Dialekt und hatte eine hohe Stimme, die einem vermutlich auf die Nerven ging, wenn man ihr länger zuhören musste.

      Aus der Vermisstenakte, die sie sich unter den linken Arm geklemmt hatte, kannte Anja zwar die Namen der beiden Frauen, mit denen Zoe Bergmann, die seit vorgestern vermisst wurde, in dieser Studenten-WG in der Balanstraße im Münchener Stadtteil Haidhausen zusammenlebte. Ansonsten wusste sie jedoch nicht viel über die Studentinnen.