Eberhard Weidner

TODESSPIEL


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an Anja vorbei einen Blick auf die Eingangstür der gegenüberliegenden Wohnung. »Herr Lamprecht von gegenüber klebt bestimmt schon wieder an seiner Wohnungstür, ein Auge am Spion und ein Ohr gegen die Tür gepresst. Anatomisch ist das zwar unmöglich, der Mann schafft es aber trotzdem irgendwie. Er ist Rentner, hat viel zu viel Zeit und ist darüber hinaus furchtbar neugierig. Außerdem verdächtigt er uns, wir würden hier ein illegales Bordell betreiben und Unmengen von Drogen konsumieren. Wenn er mitkriegt, dass Sie von der Polizei sind, fühlt er sich in seinen Vermutungen nur bestätigt und schreibt mal wieder einen seitenlangen Brief an die Hausverwaltung, die Polizei und den Bundespräsidenten.«

      Anja trat mit einem Lächeln ein und steckte ihren Dienstausweis in die Innentasche ihrer Lederjacke.

      Antonia streckte dem möglichen unsichtbaren Beobachter hinter der Tür zur Nachbarwohnung die Zunge heraus, kicherte ausgelassen und schloss die Tür.

      »Folgen Sie mir«, sagte sie dann und eilte so schnell davon, dass die Polizistin Mühe hatte, ihr zu folgen. Die junge Frau erinnerte Anja nicht nur wegen ihrer Größe an ein Kind, sondern auch aufgrund ihrer kindlichen Art und ihrer Lebhaftigkeit.

      »Die Polizistin ist da, Kati«, sagte Antonia, als sie an mehreren geschlossenen Türen vorbeigekommen waren und das Wohnzimmer betraten.

      Eine zweite junge Frau, die auf einem Ecksofa gesessen hatte, stand bei Anjas Eintreten auf und sah ihr gleichermaßen erwartungsvoll wie sichtlich nervös entgegen. Sie wirkte wesentlich älter als ihre kleine quirlige Mitbewohnerin, obwohl die beiden Studentinnen im gleichen Alter sein mussten. Auch sonst war sie das genaue Gegenteil von Antonia, denn sie war mindestens fünf Zentimeter größer als Anja und hatte eine schlanke, sportliche Figur. Ihr lockiges Haar, das bis über ihre Schultern fiel, war dunkelbraun, und die Farbe ihrer Augen bestand vorwiegend aus einem hellen Braun. Sie trug eine Brille mit blau-silbernem Rahmen und großen Gläsern, dunkelblaue Jeans und eine weiße Hemdbluse.

      Als Anja näher kam, sah sie, dass die Augen der jungen Frau gerötet waren. Allem Anschein nach hatte sie erst vor Kurzem geweint. Antonia hingegen schien sich entschieden weniger große Sorgen um ihre verschwundene Mitbewohnerin zu machen, denn sie wirkte eher unbekümmert.

      »Wir haben heute früh miteinander telefoniert«, sagte die zweite Studentin, als sie sich kurz die Hände schüttelten. »Ich bin Katharina Richter. Aber nennen Sie mich ruhig Kati, das tun alle.«

      »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Anja. »Schön, dass Sie beide die Zeit gefunden habe, mich zu empfangen und meine Fragen zu beantworten.«

      »Das ist doch selbstverständlich«, erwiderte Kati. »Wir machen uns nämlich große Sorgen um Zoe und wollen, dass sie so schnell wie möglich gefunden wird.«

      »Du machst dir große Sorgen um Zoe«, schränkte Antonia ein, die sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Eckcouch gesetzt hatte. »Ich hingegen denke, dass sie schon bald wieder auftaucht und wir uns keine allzu großen Sorgen um sie machen müssen.«

      »Was glauben Sie denn, warum Zoe vorgestern Nacht nicht nach Hause gekommen ist und wo sie steckt, Antonia?«, fragte Anja.

      Die Angesprochene zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt habe ich keinen blassen Schimmer. Aber ich glaube nicht, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist. Dafür ist Zoe viel zu vorsichtig.«

      »Im Gegensatz zu dir!«, versetzte Kati, die noch immer stand und die Arme vor der Brust verschränkt hatte.

      »Was willst du denn damit sagen?«

      »Dass du ständig unvorsichtig bist. Es ist ein Wunder, dass du noch nicht spurlos verschwunden bist.«

      »Pfft«, machte Antonia abfällig und schüttelte den Kopf. »Auch wenn es für Zoe und dich vielleicht nicht so aussieht, bin ich für meine Verhältnisse sehr wohl vorsichtig.«

      »Ach ja?«, fragte Kati. »Und wieso gehst du dann ständig mit fremden Männern mit oder schleppst sie hierher.«

      »Das sind keine fremden Männer«, widersprach Antonia. »Immerhin weiß ich ihre Vornamen, weil ich sie alle immer kurz vorher kennengelernt habe.«

      »Für mich ist das fremd!«

      »Kein Wunder. Für dich sind doch alle Männer Fremde.«

      Kati schnappte empört nach Luft und riss Mund und Augen auf.

      Anja beschloss, einzuschreiten, bevor der Streit eskalierte. Sie war nicht hier, um Zeuge einer verbalen Auseinandersetzung der beiden jungen Frauen zu werden. Sie konnten sich gerne weiter zanken, wenn sie wieder weg war. Aber so verschwendeten sie nur ihre Zeit.

      »Beruhigen Sie sich gefälligst, und zwar alle beide«, sagte sie und schenkte sowohl der einen als auch der anderen einen strengen Blick. »Wir sollten uns stattdessen über Zoe unterhalten.«

      Kati nickte. »Entschuldigen Sie. Sie haben vollkommen recht.« Sie wies auf den einzigen Sessel. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Wollen Sie etwas trinken? Viel Auswahl haben wir zwar nicht, weil wir noch nicht beim Einkaufen waren, aber ich kann Ihnen Pfefferminztee, Kaffee und Leitungswasser anbieten.«

      »Nein danke«, lehnte Anja das Angebot ab und setzte sich. Sie legte die Vermisstenakte auf den Tisch, klappte ihr Notizbuch auf und nahm den Kugelschreiber, der in einer Lasche steckte. »Erzählen Sie mir doch einfach, was am Sonntag passiert ist«, kam sie sofort zur Sache.

      Die beiden jungen Frauen sahen sich an, als wüssten sie nicht, welche von ihnen den Anfang machen und wo diejenige beginnen sollte. Der Streit von eben war scheinbar wieder vergessen. Wahrscheinlich kam das Thema öfter auf den Tisch, sodass es kein großer Aufreger mehr war.

      »Am besten fängst du an, Kati!«, sagte Antonia. »Du warst zu Hause, als Zoe angerufen hat.«

      Kati nickte. »Das stimmt.«

      »Wann war das?«, fragte Anja.

      »Es wurde schon dunkel, als sie anrief.« Kati überlegte kurz. »Ich würde sagen, das muss ungefähr um halb acht gewesen sein. Plus minus zehn Minuten.«

      Anja notierte sich die Uhrzeit. »Worum ging es bei dem Gespräch?«

      »Zuerst dachte ich, Zoe wollte nur Bescheid geben, dass sie bald da sei. Schließlich wissen alle, dass sie ungern mit dem Auto unterwegs ist, wenn es dunkel ist. Aber als ich fragte, wo sie sei, sagte sie, sie sei noch gar nicht losgefahren.«

      »Warum nicht?«

      »Ich weiß es nicht.« Kati zuckte mit den Schultern. »Sie wollte es uns später erzählen. Zoe meinte bloß, wir müssten nicht auf sie warten.«

      »Womit? Hatten Sie an dem Tag noch etwas vor?«

      »Sonntags ist immer unser gemeinsamer Filmabend«, antwortete Antonia, die nicht lange stillsitzen konnte und ständig auf dem Sofa herumzappelte und eine neue Sitzposition suchte, was Anja ein bisschen irritierte. »Das heißt, dass eine von uns dreien einen Film aussucht, den wir uns dann ganz klassisch mit viel Popcorn und Cola angucken. Und egal, wie grässlich der Film ist, jede muss ihn vom Anfang bis zum Ende ansehen.«

      »In letzter Zeit versucht jede von uns, die anderen zu übertreffen, indem sie den miserabelsten Film aussucht«, sagte Kati. »Dreimal dürfen Sie raten, wer von uns damit angefangen hat.«

      Anja wandte den Blick und sah Antonia an.

      »Richtig!«, sagte Kati.

      Antonia streckte ihrer Mitbewohnerin die Zunge heraus. »War doch eine supergute Idee, oder?«

      Kati wiegte den Kopf hin und her. »Ich wollte ja eigentlich nichts sagen, um euch beiden den Spaß nicht zu verderben, aber meiner Meinung nach könnten wir ruhig auch mal wieder einen guten Film nehmen und nicht immer nur diesen anspruchslosen Mist.«

      »Wenn du meinst«, sagte Antonia, schien aber alles andere als begeistert von dem Vorschlag zu sein und zog einen Schmollmund, der sie noch jünger wirken ließ.

      »Lassen Sie uns auf Zoes Anruf zurückkommen«, meinte Anja. »Was erwiderten Sie auf ihren Vorschlag,