Sie sehen müde aus,“ sagte die Frau, stand auf und schob sie in ein ihr unbekanntes, großes Haus. Wo war sie hier? War das die Realität oder träumte sie nur? Maja versuchte, die Umgebung wahrzunehmen. Je länger sie durch die Gänge geschoben wurde, desto mehr war sie davon überzeugt: Das war ein Krankenhaus! Was zum Teufel machte sie in einem Krankenhaus? Sie war noch nie in ihrem Leben krank gewesen und hatte es sogar bei den Entbindungen ihrer Kinder strikt abgelehnt, in ein Krankenhaus zu gehen. Ihre Kinder! Wo waren sie? Ging es ihnen gut? Sie wurde unruhig, was die Frau, die sie nun in ein Bett legte, zu bemerken schien.
„Bleiben Sie ruhig, Frau Ettl. Alles ist in Ordnung. Ich gebe Ihnen eine Spritze und dann können Sie sich ausruhen.“
Hilflos musste Maja mit ansehen, wie die Frau eine Injektion in die Kanüle in ihrem Handrücken spritzte. Sie wollte sich wehren, hatte aber keine Kraft. Sie spürte, dass sie langsam müde wurde. Nein, sie durfte nicht schlafen! Sie wollte wach bleiben und versuchen, hier irgendwie wegzukommen.
„Sehen Sie Frau Ettl, alles wird gut. Schlafen Sie! Ich sehe ab und zu nach Ihnen. Hier bei uns sind Sie in besten Händen. Dr. Salzberger kommt morgen und kümmert sich um Sie. Nicht mehr lange, und es wird Ihnen bessergehen.“
Maja hörte die letzten Worte der Fremden nicht mehr und fiel in einen traumlosen Schlaf.
5.
„Wo ist meine Frau?“, rief Sandro Ettl ins Telefon. „Ich möchte sie sehen!“
„Das kann ich leider nicht erlauben. Besuche sind in dem momentanen Zustand Ihrer Frau nicht angeraten.“
„Ich bin der Ehemann und ich bestehe darauf, meine Frau besuchen zu dürfen.“ Sandro war außer sich. Maja war seit drei Tagen weg und er vermisste sie. Die Kinder fragten ständig nach ihr und er wusste nicht mehr, was er ihnen sagen sollte. Gestern früh erfuhr er von seiner Mutter, wo Maja hingebracht wurde. Er war überrascht, dass sie in einer Privatklinik am Chiemsee war. Eine vernünftige Erklärung bekam er von seiner Mutter nicht. Sie betonte immer nur, dass Maja dort in besten Händen sei. Seine Mutter gab sich fürsorglich und das machte ihn misstrauisch. Vor allem, weil sie und Maja sich noch nie verstanden haben. Hatte er seine Mutter falsch eingeschätzt? Sorgte sie sich mehr um Maja, als er es erwartet hatte? Nachdem Sandro mehrmals vergeblich versucht hatte, Dr. Salzberger telefonisch zu erreichen, war er heute früh zum Chiemsee gefahren, der nur knapp eine Stunde entfernt war. Man hatte ihn nicht zu seiner Frau gelassen. Ging es ihr so schlecht? Was zum Teufel war mit ihr los? Wütend und voller Sorge fuhr er unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Dabei nahm er sich fest vor, sich nicht mehr abwimmeln zu lassen. Er bestand darauf, mit Dr. Salzberger zu sprechen, was ihm nach mehreren Anläufen endlich gelang.
„Ich verstehe Ihre Sorgen, Herr Ettl. Aber in erster Linie muss ich an Ihre Frau denken. Sie braucht absolute Ruhe, die wir ihr zugestehen sollten. Besuche kann ich noch nicht erlauben. Ich melde mich bei Ihnen.“
„Wenn ich bis morgen früh keine Informationen von Ihnen bekomme, hetze ich die Polizei und die Presse auf Sie.“ Noch während Sandro sprach, wusste er bereits, dass er das niemals tun würde. Am Telefon war er stark, aber der Mut verließ ihn schnell wieder.
Dr. Salzberger legte auf und atmete tief durch. Wie lange würde sich Sandro Ettl noch hinhalten lassen? Er konnte den Aufenthalt der Patientin in seiner Klinik ohne schlechtes Gewissen verantworten, obwohl die Medikation an der Grenze war. Was sollte er tun? Ihm waren die Hände gebunden.
„Der Ehemann macht Schwierigkeiten,“ sagte Dr. Salzberger, nachdem er die vertraute Nummer gewählt hatte. „Er drängt auf einen Besuch und droht mit Polizei und Presse.“
„Sandro? Nie im Leben! Der spielt sich nur auf. Machen Sie Ihre Arbeit und belästigen Sie mich nicht mit Kleinigkeiten.“
„Polizei und Presse sind für mich keine Kleinigkeiten. Mein guter Ruf und der meiner Klinik steht auf dem Spiel.“
„Wenn Sandro zur Polizei gehen will, was ich bezweifle, dann soll er das tun. Was kann er schon ausrichten? Sie sind der Arzt und entscheiden, ob die Patientin Besuch empfangen kann, oder nicht. Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Und die Presse hat ganz sicher kein Interesse an einem Krankheitsfall. Was macht das Gutachten?“
„Der Termin ist am 10. August. Ich habe einen der renommiertesten Fachärzte gewinnen können: Dr. Aicher. Seine Gutachten wurden vor Gericht noch nie angezweifelt.“
„DER Dr. Aicher aus Trier?“
„Genau der,“ sagte Dr. Salzberger nicht ohne Stolz. „Jetzt gilt es, die Patientin darauf vorzubereiten, dass Dr. Aicher das attestiert, was wir uns wünschen.“
„Das ist Ihre Aufgabe und dafür werden Sie fürstlich belohnt. Der Termin am 10. August ist perfekt.“
„Sie können sich nicht vorstellen, was ich unternommen habe, um Dr. Aicher für unsere Sache zu gewinnen.“
„Auch dafür werden Sie bezahlt.“
„Ihnen ist klar, dass die Patientin nach dem Gutachten und dem zu erwartenden Gerichtsentscheid die nächsten Jahre ihres Lebens in geschlossenen Anstalten verbringen wird?“
„Ja, das wird wohl so sein. Armes Ding! Aber das ist nicht mein Problem. Ich brauche dieses Gutachten und dafür müssen Opfer gebracht werden.“
Dr. Salzberger hatte einen Anflug von Skrupel. Seit Dr. Aicher zugesagt hatte, bekam er nach anfänglicher Euphorie Bauchschmerzen. Was, wenn der Spezialist den Schwindel durchschaute? Dann wäre er ruiniert und würde nie wieder seinen Beruf ausüben können. Welche andere Wahl hätte er denn?
Die Schadensersatzansprüche aus einem Behandlungsfehler, den er aus seiner Sicht nicht zu verantworten hatte, brachen ihm das Genick. Er hatte alles beleihen müssen, was in seinem Besitz war, um die horrende Summe begleichen zu können. Und dann war die Heizung seiner kleinen Privatklinik kaputtgegangen. Wie hätte er die Reparatur, geschweige denn eine neue Heizung bezahlen sollen? Die Bank gab ihm keinen Cent mehr und Freunde hatte er keine, die er um Geld bitten konnte. Das würde er auch nie wagen, dafür schämte er sich zu sehr. Er hatte sich in den Jahren einen sehr guten Ruf erarbeitet, den er durch einen finanziellen Engpass nicht aufs Spiel setzen wollte. Aber die Geldsorgen lasteten schwer auf ihm und er würde nicht mehr lange durchhalten können. Als er schon aufgeben wollte, bekam er dieses verlockende Angebot, dem er nicht widerstehen konnte. Mit der Summe könnte er eine Heizung und sogar einen kleinen Urlaub finanzieren, den er sich redlich verdient hatte. Hoffentlich lief alles so, wie er es sich vorstellte. Er nahm die Akte Maja Ettl und besah sich die Medikamentenliste, die Dr. Aicher natürlich niemals zu Gesicht bekam. Für ihn lag bereits eine Akte für die Patientin bereit, an der er lange gearbeitet hatte. Dr. Salzberger schüttelte langsam den Kopf. Die Medikation musste bis zum Eintreffen Dr. Aichers zurückgeschraubt werden, um sie dann kurzfristig wieder zu erhöhen. Nur so konnte gewährleistet werden, dass die Patientin so reagierte, wie sie sollte. Er gab sofort eine entsprechende Anweisung an die Pflegekraft Silke.
6.
Wie viel Zeit war vergangen? Maja war erstaunt, dass ihre Gedanken immer klarer wurden, und dass sie ihren Körper mehr und mehr unter Kontrolle bekam. Sie achtete darauf, dass die Frau, die sich um sie kümmerte, ihre Veränderung nicht bemerkte. Sie hatte aus dem letzten Vorfall gelernt und musste sich davor hüten, sich irgendwie auffällig zu benehmen. Sie wusste, dass sie dann wieder ruhiggestellt wurde, und das durfte sie nicht riskieren. Sie musste jetzt taktisch klug vorgehen und durfte nicht unüberlegt handeln. Die Pflege ließ sie über sich ergehen. Auch, dass sie gefüttert wurde, nahm sie hin. Sie achtete darauf, sich so zu benehmen, als sei sie nicht ganz bei sich, obwohl sie klarer und klarer wurde. Sie benahm sich wie eine hilflose Patientin, und diese Schwester nahm ihr das ab. Die Stunden vergingen und ihr ging es langsam immer besser.
Schwester Silke wunderte sich zwar darüber, dass sich die Patientin trotz der Herabsetzung der Medikamente sehr ruhig verhielt, schob das dann aber auf ihre Erkrankung. Frau Ettl war nach den wenigen Tagen ihres Aufenthalts zu