finden. Es war nach 16.00 Uhr. Wie lange war sie weg? Egal. Sie musste das dem Chef beichten und fürchtete seine Reaktion.
Als Dr. Salzberger hörte, dass Frau Ettl verschwunden war, war er außer sich. Er schimpfte und fluchte, dazu schrie er Schwester Silke fortwährend an und machte ihr Vorwürfe. Er gab Schwester Silke nicht den Hauch einer Chance, sich zu rechtfertigen. Schon vor Monaten wurde dringend benötigtes Personal aus Kostengründen entlassen. Sie und ihre Kolleginnen mussten sehr viele Überstunden machen, wofür alle aufgrund der drohenden Arbeitslosigkeit gerne bereit waren. Aber sie konnten nicht rund um die Uhr überall sein.
Dr. Salzberger wusste um die Situation, aber er war trotzdem wütend. Das hätte nicht passieren dürfen. Die Patientin hätte nicht einfach verschwinden dürfen.
„Die Patientin Ettl ist abgehauen,“ musste Dr. Salzberger am Telefon zugeben.
„Sie ist weg? Wie konnte das geschehen?“
„Wir sind personell unterbesetzt…“ versuchte sich Dr. Salzberger zu rechtfertigen.
„Das ist mir doch völlig egal! Ich habe mich auf Sie verlassen.“
„Ich kann mich nur dafür entschuldigen. Frau Ettl hat kein Geld und keine Papiere bei sich. Außerdem ist sie im Nachthemd ohne Schuhe unterwegs. Ich gehe davon aus, dass sie nicht weit kommt. Die Polizei ist bereits informiert.“
„Unterschätzen Sie die Frau nicht. Ich bin mir sicher, dass sie es schafft, nach Hause zu kommen. Ich kümmere mich darum. Wenn ich sie finde, melde ich mich bei Ihnen. Halten Sie sich bereit. Sollte sie tatsächlich nach Hause gelangen, müssen wir schnell handeln.“
Maja musste warten, bis es dunkel wurde. In Mühldorf kannte sie jeder und sie zog es vor, in diesem Aufzug nicht durch ihre Heimatstadt zu spazieren. Nach 22.00 Uhr konnte sie nicht mehr warten, die Sehnsucht nach ihren Kindern wurde übermächtig. Sie ging los und gelangte endlich auf das Grundstück ihres Hauses. Sie ging durch den Garten, den sie liebevoll angelegt hatte und stets selbst pflegte. Alles hier war ihr vertraut. Obwohl ihre Glieder schmerzten und sie großen Hunger und vor allem Durst hatte, war ihre Euphorie groß. Die Nacht war warm. Wie lange war es schon warm? Die Tage gingen an ihr vorbei, ohne dass sie Notiz davon genommen hatte.
Das Fenster des Esszimmers stand offen und sie erkannte ihren Mann. Er war hier! Gleich konnte er ihr erklären, was passiert war und warum sie in dieser schrecklichen Klinik war. Nur noch wenige Augenblicke und sie konnte endlich ihre Kinder in die Arme nehmen.
Sie trat näher ans offene Fenster. Mit wem sprach ihr Mann? Telefonierte er? Nein, er hatte Besuch. Sie vernahm eine Stimme, die ihr sehr vertraut war: Ihre Schwiegermutter war hier! Elfriede kam nie zu Besuch. Was wollte sie von ihrem Sohn? Die beiden sahen sich jeden Tag im Büro. Was gab es so Wichtiges zu besprechen, was nicht im Büro geklärt werden könnte? Hier stimmte etwas nicht. Maja bekam Angst und trat näher ans Fenster.
„Maja ist verrückt geworden, sieh das endlich ein!“, sagte Elfriede Ettl viel zu laut.
„Sie ist nicht verrückt. Vielleicht ist sie überarbeitet oder gestresst. Morgen werde ich sie besuchen. Wenn es nötig ist, nehme ich die Polizei mit.“
„Sei doch vernünftig Sandro. Maja ist krank und braucht Hilfe, das hat Dr. Salzberger bestätigt. Gib ihr noch ein paar Tage. Gib ihr die Chance, in Ruhe gesund zu werden.“
„Trotzdem möchte ich meine Frau sehen.“
„Das wirst du, sobald sie sich erholt hat,“ sprach Elfriede Ettl jetzt sanfter und strich ihrem Sohn dabei über den Kopf. Seit wann war ihre Schwiegermutter so fürsorglich? Maja hatte bei der herzlosen, kalten Frau nie punkten können. In ihren Augen war Maja die falsche Partie, sie hatte sich für ihren Sohn eine bessere gewünscht. Von Anfang an waren die beiden aneinandergeraten. Immer mischte sie sich in Dinge ein, die sie nichts angingen. Dann hatte sie ihr nach einem heftigen Streit die Wahrheit gesagt. Für einen Moment hatte Elfriede die Fassung verloren und hatte geweint. Nur ganz kurz. Und dann war sie gegangen. Sie und ihre Schwiegermutter gingen sich seitdem aus dem Weg. Wenn sie ihre Enkel sehen wollte, was nicht sehr oft vorkam, fuhr Sandro mit den beiden allein zu ihr. Zu Familienfesten wurde Elfriede zwar eingeladen, hatte aber immer eine passende Ausrede parat. Und jetzt war sie hier. In ihrem Haus. Was wollte sie hier?
„Wer ist dieser Dr. Salzberger? Woher kennst du ihn?“
„Dein Vater nahm vor seinem Tod dessen Hilfe in Anspruch. Du wirst dich daran erinnern, dass es deinem Vater psychisch nicht gutging und er in eine Klinik musste?“
„Ja, ich erinnere mich.“
„Dr. Salzberger hat deinem Vater helfen können. Obwohl ich den Mann nicht mag, scheint er sehr gut zu sein. Bei Majas Zustand war ein Facharzt die bessere Wahl als ein normaler Arzt, deshalb rief ich Dr. Salzberger an. Außerdem ist es auch für die Firma besser, wenn Maja nicht in Mühldorf oder in unmittelbarer Nähe behandelt wird. Einen Skandal oder Gerede können wir uns nicht leisten. Die Wogen nach dem Tod deines Vaters haben sich geglättet. Der Unfall hat der Firma nicht so sehr geschadet, wie wir befürchtet haben. Die Firma hat sich gerade erst erholt. Weiteres Gerede wäre Gift für uns.“ Elfriede Ettl sprach mit Engelszungen auf ihren Sohn ein. Sie musste ihn davon abhalten, eine Dummheit zu begehen. Maja war am Chiemsee sehr gut aufgehoben. Elfriede hatte die Kinder zu sich genommen und sorgte dafür, dass es ihnen gut ging, Sandro war dazu nicht in der Lage. Es machten bereits Gerüchte die Runde, die aber nicht so schlimm waren. Sollte Sandro jetzt überreagieren, goss er damit Öl ins Feuer. Und wenn Maja hier auftauchte, war die Katastrophe komplett. Sie musste ihren Sohn beruhigen. Es war jetzt wichtig, dass er sich zurückhielt. Sandro war schon immer ein Sorgenkind gewesen. Seine labile, unterwürfige Art war nicht gut fürs Geschäft. Ja, sie hatte sich für ihn eine passendere Partie gewünscht. Aber Maja hatte ganz im Gegensatz zu ihrem Sohn eine starke Persönlichkeit. Sie wusste genau, was sie wollte und widersetzte sich ihr, wo sie nur konnte. So wie sie war ihre Schwiegertochter ein Alpha-Tier, das konnte auf Dauer nicht gutgehen. Sie stritten über jede Kleinigkeit, was ihr sogar Vergnügen bereitete. Es gab nicht viele Menschen in ihrem Umfeld, die ihr die Stirn boten. Vor drei Jahren hatte sie dann die schreckliche Wahrheit erfahren und Maja tat ihr unendlich leid. Schockiert hatte sie sich zurückgezogen. Hätte sie sich anders verhalten sollen? Hätte sie auf Maja zugehen und mit ihr sprechen sollen? Das schaffte sie nicht. Sie war ja selbst völlig am Ende und musste sich darum kümmern, das Problem aus der Welt zu schaffen, und das hatte sie getan. In den letzten drei Jahren war alles gut. Die Firma lief hervorragend und man sprach nicht mehr über den Unfall. Warum gab es jetzt schon wieder Schwierigkeiten? Es war ihre Pflicht, alles dafür zu tun, um Sandro zurückzuhalten.
„Maja ist krank und braucht professionelle Hilfe,“ sprach Elfriede Ettl weiter auf ihren Sohn ein. „Ich flehe dich an meine Junge: Lass sie in Ruhe gesund werden.“
„Gut, ich gebe ihr noch ein paar Tage,“ sagte Sandro schließlich und schenkte sich ein Glas Wein ein.
„Es gibt ein Problem,“ sagte Elfriede. Jetzt musste sie ihm die Wahrheit sagen. Wie wird ihr Sohn reagieren? Am liebsten wäre sie davongelaufen, aber sie musste stark bleiben. Irgendjemand musste stark bleiben, ihr Sohn war dazu nicht in der Lage. Sie holte tief Luft und stützte sich an der Tischplatte ab. „Ich bekam einen Anruf aus der Klinik. Maja ist verschwunden. Die Polizei ist bereits informiert und sucht nach ihr. Es könnte sein, dass sie hierherkommt. Sollte sie hier auftauchen, müssen wir sofort Dr. Salzberger anrufen. Er kümmert sich darum, dass sie wieder in die Klinik gebracht wird.“
„Maja ist abgehauen?“
„Ja, bitte beruhige dich. Niemand kann sich erklären, wie sie das geschafft hat. Zuhause ist sie nicht gut aufgehoben. Hier bekommt sie nicht die Pflege, die sie braucht. Dr. Salzberger befürchtet sogar, dass sie eine Gefahr für die Kinder darstellt. Es war richtig gewesen, dass ich die Kinder zu mir genommen habe. Bei mir kommen sie zur Ruhe und sind sicher.“
Sandro Ettl schloss plötzlich das Fenster und Maja erschrak. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre erwischt worden. Ihre Kinder waren nicht hier! Warum? Warum kümmerte sich Sandro nicht um sie? Ihre Schwiegermutter war für die Einweisung in die Klinik verantwortlich,