Gutachten über die Patientin Ettl erstellen wollte. Warum diese Eile? Normalerweise würde die Patientin lange behandelt, bevor ein Gutachten erstellt wurde. Sie besah sich die Akte genauer. Bis jetzt wurden bei der Patientin nur wenige Untersuchungen vorgenommen, wobei nichts herauskam. Das war ungewöhnlich. Bis Samstag wurden zu den Medikamenten, die sie der Patientin gab, von Dr. Salzberger persönlich weitere Medikamente verabreicht. Was war nur mit der Frau? Warum wurde sie mit so vielen, starken Medikamenten ruhiggestellt? Bisher hatte sie nicht den Eindruck, dass das nötig war. Aber sie war nur Krankenschwester und keine Ärztin. Seit Sonntag wurden die Medikamente auf ein Minimum reduziert, aber trotzdem änderte sich der Zustand der Patientin nicht. Sie schlief und war apathisch wie die Tage zuvor. Schwester Silke hoffte auf das Gutachten von Dr. Aicher. Sobald er die Patientin untersucht hatte, ging es mit ihr sicher schnell wieder bergauf. Sie sah sich die schlafende Patientin lange an. Dann wurde sie zu einem Notfall gerufen.
Maja war wach und tat nur so, als würde sie schlafen. Wann ging die Frau endlich? Nicht mehr lange, und sie würde sich verraten. Sie fühlte sich immer besser. Letzte Nacht ging sie einige Schritte im Zimmer auf und ab, was sehr anstrengend war. Aber sie biss die Zähne zusammen und zwang sich dazu, denn der Kreislauf hatte durch das ständige Liegen sehr gelitten. Sie musste wieder zu Kräften kommen, bevor sie an eine Flucht denken konnte. Sie wollte nach Hause zu ihren Kindern.
Schwester Silke war weg. Endlich! Maja setzte sich auf und streckte ihre Glieder. War das ihre Akte, die auf ihrem Nachttisch lag? Mit zitternden Händen nahm sie die Mappe an sich. Ja, das war ihre Akte, in der sie nur als Patientin bezeichnet wurde. Sie hatte keine medizinischen Vorkenntnisse und verstand nicht viel von dem, was drinstand. Die Medikamentenliste erschreckte sie. Sie zählte die vielen Positionen und hörte bei der Hälfe auf. Das brachte nichts, das kostete nur unnötig viel Zeit. Sie nahm das Blatt aus den Unterlagen und steckte es in ihre Socke. Hektisch blätterte sie in den Unterlagen und suchte nach dem Namen ihres Mannes, der aber nirgends auftauchte. Hatte sie von ihm keinen Besuch bekommen? Wusste er, wo sie war? War er für ihre Einweisung verantwortlich? Endlich fand sie eine Seite, mit der sie etwas anfangen konnte: Sie wurde am 3. August hier eingeliefert. Welcher Tag war heute? Sie hatte das Gefühl, schon eine Ewigkeit hier zu sein. Wie viele Tage, Wochen oder gar Monate war sie bereits hier? Sie blätterte bis zum letzten Eintrag, den Schwester Silke offensichtlich heute vorgenommen hatte: Heute war der 9. August!
Schwester Silke bemerkte nach dem Notfall sehr schnell, dass sie die Patientenakte Ettl in deren Zimmer vergessen hatte. Das war strengstens verboten und der Chef konnte sehr ungehalten sein, wenn er davon erfuhr. Rasch ging sie zu Frau Ettl, die ruhig in ihrem Bett lag. Gott sei Dank! Die Akte lag genau dort, wo sie sie liegengelassen hatte. Instinktiv fasste Schwester Silke an die Stirn der Patientin und wunderte sich. Sie war viel zu warm. Dann maß sie ihren Blutdruck. Der war viel zu hoch.
Maja wurde nervös. Was, wenn Schwester Silke wieder mit Medikamenten reagierte, wenn ihr ihr Zustand nicht gefiel? Sie musste umgehend reagieren und öffnete die Augen.
„Besuch…? Mein Mann…? Kinder…?“, stammelte Maja und sah Schwester Silke dabei flehend an.
„Sie dürfen noch keinen Besuch empfangen,“ sagte Schwester Silke und nahm ihr Handy. „Dr. Salzberger? Die Patientin Ettl ist aufgewacht und verlangt nach Besuch. Ihre Stirn ist heiß, der Blutdruck ist bei 150:100. Soll ich ihr etwas zur Beruhigung geben?“
Bitte nicht! Maja schloss die Augen und zwang sich, ganz ruhig zu bleiben, vielleicht gab sich die Frau damit zufrieden.
Dr. Salzberger saß im Restaurant des Golfclubs. Hier, zwischen all den Bekannten konnte er nicht frei sprechen. Er musste jedes einzelne gesprochene Wort sorgsam auswählen.
„Wie ist ihr Allgemeinzustand?“
„Sie ist ruhig. Es sieht so aus, als wäre sie wieder eingeschlafen.“
„Dann brauchen Sie ihr nichts geben,“ sagte Dr. Salzberger und war beruhigt. Scheinbar wirkten die bisherigen Medikamente noch nach. Zwar hatte er so eine Reaktion bisher noch nie erlebt, schob das aber auf die Tatsache, dass die Patientin keine Medikamente gewohnt war.
Dr. Salzberger nahm das Gespräch mit seinem Gegenüber wieder auf. Diese Schwester Silke war zwar fleißig und zuverlässig, nahm ihren Job aber manchmal viel zu genau. Er konnte es nicht riskieren, der Patientin am Tag vor dem Gutachten nochmals Medikamente zu geben. Die Dosen der ersten Tage waren schon viel zu hoch gewesen und er konnte keinen Kreislaufzusammenbruch riskieren. Er musste auch damit rechnen, dass Dr. Aicher eine Blutprobe von der Patientin verlangte, was ihm Kopfschmerzen bereitete. Das musste er unbedingt verhindern. Den Medikamenten-Cocktail, den er bei besonders schwierigen Patienten gerne einsetzte, hatte er selbst kreiert. Er hatte bisher sehr gute Erfolge damit erzielt. Niemand hatte ihn bislang dahingehend kontrolliert, was ein großes Glück war, denn die Zusammenstellung war grenzwertig. Warum wohl saß er immer wieder mit Leuten zusammen, die für solche Überwachungen zuständig waren? Entsprechende Medikamentenrechnungen ließ er verschwinden, einige Präparate wurden ihm von den Pharmareferenten kostenlos überlassen. Seine Unterlagen waren sauber. Niemand käme auf die Idee, ihn kontrollieren zu wollen oder ihm zu misstrauen. Und wenn, dann konnte man ihm nichts nachweisen.
Bis morgen früh durften der Patientin keine Medikamente verabreicht werden. Erst dann bekam Frau Ettl kurz vor Dr. Aichers Eintreffen ein starkes Beruhigungsmittel. Er brauchte ihm die hohe Dosierung ja nicht auf die Nase binden. Dr. Salzberger war sich sicher, dass die Patientin genauso reagieren würde, wie er sich das wünschte. Er war schon immer ein glühender Fan der Pharmaindustrie gewesen und nutzte jedes Präparat, das neu entwickelt wurde. Für ihn war es erstaunlich, welche Neuerungen immer wieder für den Markt entwickelt wurden.
Er war euphorisch und bestellte sich ein weiteres Glas Champagner, das er sich eigentlich nicht leisten konnte.
Schwester Silke ging. Sie ging tatsächlich! Maja konnte ihr Glück kaum fassen. Sie musste hier weg, und zwar so schnell wie möglich. Länger wollte und konnte sie nicht mehr warten. War sie für eine Flucht fit genug? Das musste sie riskieren.
Sie wartete bis nach der Essensausgabe. Dann machten die Pflegekräfte ganz sicher auch eine Mittagspause. Schwester Elke fütterte ihr geduldig die gewürzarme Kost, die optisch nicht zu identifizieren war. Geduldig ließ sie die Prozedur über sich ergehen. Dann ging Schwester Elke und Maja tat so, als würde sie schlafen.
Als die Tür geschlossen wurde, stand sie auf und öffnete den Schrank, in dem aber leider keine Kleidungsstücke verstaut waren. Was hatte sie angehabt, als sie eingeliefert wurde? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Es blieb ihr keine andere Wahl, sie musste mit dem Nachthemd und auf Socken flüchten.
Maja war sehr wacklig auf den Beinen, als sie vorsichtig und umsichtig durch die sterilen, fast leeren Gänge des Krankenhauses schlich. Nur ab und zu begegnete sie Patienten, die aber keine Notiz von ihr nahmen. Zielgerichtet ging sie weiter, wobei sie sich an den Hinweisschildern orientierte. Der Ausgang war nicht mehr weit, sie konnte ihn bereits sehen. Am liebsten wäre sie sofort losgelaufen, aber das wäre viel zu auffällig gewesen. Am Empfang neben der Eingangstür saß eine ältere Frau. Mist! Maja musste warten und einen günstigen Moment abwarten. Dann klingelte das Telefon am Empfang. Die Frau stand auf und verschwand im angrenzenden Zimmer. Das war die Gelegenheit! Maja lief los so schnell sie konnte. Dass sie gerade noch einer Pflegerin entkam, wusste sie nicht. Unerkannt lief sie über den Parkplatz, wobei sie mehrmals stolperte und drohte, hinzufallen. Ihre Beine wurden schwerer und schwerer, ihre Schritte wurden kleiner. Aber sie riss sich zusammen, sie dachte nur an ihre Kinder. Mehrmals musste sie stehenbleiben und durchatmen. Am liebsten hätte sie sich hingelegt und würde sich ausruhen, aber das durfte sie nicht. Sie musste weg hier, und zwar so schnell und so weit wie möglich.
Maja hatte großes Glück und wurde mitgenommen. Natürlich wunderte man sich über ihr Aussehen. Maja erfand eine Geschichte, dass sie vor einem gewalttätigen Mann davongelaufen wäre, was ihr alle abnahmen und wofür sie sich schämte. Sandro war ihr gegenüber niemals grob geworden. In der Hinsicht war er harmlos. Aber wie sonst hätte sie ihr Aussehen erklären sollen? Sie wollte nur nach Hause und ihre Kinder in die Arme schließen. Und dafür war ihr jede Ausrede recht.
Schwester