Irene Dorfner

Die Jagd nach dem Serum


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      Die Männer reagierten gelassen. In den letzten Wochen wurden vermehrt Angriffe gemeldet, die dann aber meist ausblieben.

      „Danke,“ sagte einer der Männer und der Gefreite verschwand. Alle hatten die Angst in seinen Augen gesehen. Wie alt er wohl war? Ganz sicher noch keine zwanzig.

      „Sollten wir das nicht ernst nehmen?“ Der Obergefreite Sebastian Demmelhuber war irritiert über die lässige Nonchalance, mit der mit dieser für ihn brisanten Nachricht umgegangen wurde.

      „Sie sind erst wenige Stunden hier, Demmelhuber. Was glauben Sie, wie viele Fehlalarme wir schon hatten? Die Alliierten machen sich einen Spaß daraus, uns zu erschrecken. Bleiben Sie locker, Demmelhuber. Selbst wenn die Nachricht stimmen sollte, brechen wir nicht in Panik aus. Was glauben Sie, wie oft wir schon bombardiert wurden? Unzählige Male. Seit dem ersten Angriff der Engländer am 17. und 18. August 1943 haben wir die Produktionsstätte unterirdisch verlegt. Sicher sind wir als Heeresversuchsanstalt immer noch Ziel der Angriffe und uns könnte großer Schaden entstehen. Aber die wichtigen Entwicklungen und Produktionen finden alle unterirdisch statt und dort können die Bomben der Alliierten nichts anrichten. Sollten wir tatsächlich angegriffen werden, sind wir schnell in den Luftschutzbunkern, die es hier zu Hauf gibt. In Ihrer Unterkunft liegt ein Lageplan bereit, damit Sie für den Ernstfall gewappnet sind.“ Leutnant Mooser sprach sehr ruhig und bestimmt, obwohl ihm die Ängste der Neulinge auf die Nerven gingen. Aber auch er hatte schließlich irgendwann angefangen und konnte die Gefühle Demmelhubers nachvollziehen.

      „Sollten wir nicht wenigstens Dornberger oder von Braun benachrichtigen?“ Demmelhuber gab nicht auf. Hier stand sehr viel auf dem Spiel. Er war vom Oberkommando des Heeres extra nach Peenemünde gesandt worden, um die Arbeiten an der neuen Bombe voranzutreiben. Außerdem hatte er das Serum dabei, das für die Produktion von enormer Wichtigkeit war und welches unter Hochdruck hergestellt wurde. Die Arbeiten an der Produktionsstätte „Weingut I“ bei Mühldorf am Inn kamen gut voran. Es war nur eine Frage der Zeit, wann dort endlich mit der Produktion der Messerschmitt Me262 begonnen werden konnte. Mit diesem Flugzeug und der neuen Bombe könnte man den Krieg noch gewinnen. Die Alliierten hätten mit dieser neuen Erfindung keine Chance mehr. Demmelhuber war überzeugt davon und hatte sein Leben riskiert, um die Pläne und das Serum nach Peenemünde zu den Verantwortlichen zu bringen. Nichts durfte dieses Vorhaben behindern.

      „Nein, wir werden von Braun und Dornberger nicht damit belästigen,“ sagte Mooser bestimmt und widmete sich wieder den auf dem Tisch ausgebreiteten Plänen.

      „Wie stellen die da oben sich das vor? Es herrscht Materialknappheit und wir haben mit unseren laufenden Produktionen schon große Schwierigkeiten. Woher sollen wir das Material für diese zusätzliche Aufgabe nehmen?“ Mooser war genervt von den ständigen Forderungen, die sich in den letzten Monaten mehrten. Er war kein Zauberer und konnte unmöglich die Mengen an Material für diese neue Bombe beschaffen. Überall herrschte Chaos und man konnte spüren, dass es zu Ende ging. Einen Sieg des Deutschen Reiches hielt er bis gestern nicht mehr für möglich. Aber mit dieser neuen Bombe gab es noch den Hauch einer Chance, so barbarisch sie sich auch anhörte. Sie mussten handeln, und zwar so schnell wie möglich. Irgendwie musste er es schaffen, das Material dafür zu organisieren. Er musste Wernher von Braun von dem Befehl unterrichten. Wie würde er darauf reagieren? Ganz sicher war er gegen eine Produktionsumstellung, aber der Befehl war eindeutig. Sollte er ihm die Wahrheit sagen? Nein. Von Braun war für diese Bombe sicher nicht zu haben, das wusste Mooser, schließlich kannten die beiden sich schon seit vielen Jahren. Das Deutsche Reich brauchte diese Bombe, und zwar so schnell wie möglich. Sollte man den Gerüchten glauben, dann war der Feind weiter vorgerückt, als allgemein bekannt war. Wieder und wieder studierte Mooser die Pläne. „Zeigen Sie mir den Stoff,“ forderte er Demmelhuber auf.

      Der zögerte, denn den Behälter mit der farblosen Flüssigkeit behandelte er wie ein rohes Ei. Aber Mooser bestand darauf und es blieb ihm nichts Anderes übrig, als ihn ihm zu geben. Vorsichtig zog er den Lederbehälter aus der Tasche, woraufhin alle sofort einen Schritt zurücktraten. Langsam wickelte Demmelhuber den Glasbehälter aus mehreren Stofftüchern und gab ihn Mooser.

      „Das ist alles? Das bisschen soll ausreichen?“

      „Natürlich nicht. In meinem Wagen befinden sich noch weitere Ampullen mit weit größerem Inhalt. Dieses Teil hier,“ und dabei zeigte er auf den Plan, “ist kein Bauteil. Dieses wird durch einen eigens dafür vorgesehenen Glasbehälter ersetzt, dessen Plan Ihnen vorliegt.“

      Mooser studierte erneut den Plan. Tatsächlich! Hier inmitten der Sprengladung soll ein kleiner Glasbehälter mit wenigen Tropfen platziert werden. Allein die Menge, die er in Händen hielt, reichte für viele Bomben aus.

      Demmelhuber begann zu schwitzen, denn wenn Mooser den Glasbehälter fallen ließ, wären sie alle infiziert und damit dem Tode geweiht. Bei jeder unbedachten Handbewegung Moosers stöhnte nicht nur Demmelhuber, sondern auch alle anderen auf.

      „Man sollte die Kiste aus meinem Wagen so schnell wie möglich in Sicherheit bringen.“

      „Ich kümmere mich darum,“ sagte Mooser und hielt den Glasbehälter ins Licht.

      „Man sollte sich damit beeilen. Wie wir eben vernommen haben, droht ein Angriff der Alliierten. Ich bitte Sie inständig,…“ flehte Demmelhuber.

      „Ich sagte doch, dass ich mich darum kümmern werde!“, sagte Mooser unfreundlich. Er war Widerworte nicht gewohnt und mochte es nicht, wenn man ihm sagte, was er zu tun hatte. Vor allem nicht von einem Untergebenen.

      Demmelhuber hielt sich zurück. Er war die ganze Nacht gefahren und hatte sich durch nichts aufhalten lassen. Dieses Serum war unter strengster Geheimhaltung im KZ Sachsenhausen produziert worden und konnte dort nur an einzelnen Probanden getestet werden. Die waren sofort tot gewesen. Für weitere Tests war keine Zeit mehr. Alle Hoffnungen lagen auf dieser Bombe, die schnellstmöglich gebaut werden musste.

      Mooser betrachtete den Glasbehälter lange von allen Seiten. Am liebsten hätte er es vor einer kompletten Produktionsumstellung ausgiebig getestet, aber dafür hatte er keine Genehmigung. Der Befehl war unmissverständlich.

      Plötzlich öffnete sich die Tür und Wernher von Braun trat ein. Ehrfürchtig verbeugte sich Demmelhuber, er war ein großer Bewunderer des Mannes. Für ihn war er ein Genie, ein Idol. Bis jetzt kannte er ihn nur von Fotografien und aus Bildern der Wochenschau, aber jetzt stand er leibhaftig vor ihm. Vergessen waren die Ängste vor einem Angriff der Alliierten. Allerdings hatte er auch den Glasbehälter vergessen, von dem von Braun nichts wissen durfte. Mooser reagierte umgehend und steckte ihn in seine Jackentasche. Wohlwissend, dass das bei einem Leck seinen sofortigen Tod und den Tod vieler in Peenemünde bedeutete.

      Wernher von Braun sprach nicht viel. Mooser übergab ihm mit einer tiefen Verbeugung den Befehl, den von Braun wütend las. Dann sah er sich die Pläne an. Würde er das Bauteil entdecken, das eigentlich keinen Sinn machte? Der Plan war relativ klein gehalten, wodurch dieses Bauteil in der Menge unterging. An von Brauns Wangenknochen konnte man sehen, dass er mit dieser Bombe nicht einverstanden war.

      „Wir könnten in wenigen Tagen mit der Produktion der Bomben anfangen,“ sagte Mooser. „Ihnen ist klar, dass wir dafür das Arbeitslager Dora brauchen?“

      „Das kommt überhaupt nicht in Frage,“ rief von Braun verärgert. „In Dora werden nur A4 gebaut, sonst nichts. Das habe ich mit Speer abgesprochen und er hat mir eine ungestörte Produktion zugesichert. Suchen Sie sich für die Produktion der N1-Bombe eine andere Produktionsstätte.“

      Jetzt kam Demmelhuber ins Spiel, der sofort eine Akte aus seiner Tasche zog.

      „Das soll ich Ihnen geben,“ sagte er zu Wernher von Braun.

      Widerwillig las von Braun die Anweisung des Oberkommandos des Heeres, die persönlich an ihn gerichtet war. Wütend warf er die Akte auf den Tisch.

      „Jeden Tag gibt es neue Anweisungen, die sich nicht selten widersprechen. Wissen die da oben überhaupt noch, was sie wollen? Dora muss sich auf die Produktion der A4 konzentrieren. Wenn wir diese unterbrechen, wirft uns das Monate zurück. Das können wir uns nicht leisten.