Irene Dorfner

Die Jagd nach dem Serum


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Wenn wir mehr Zeit hätten, können wir es schaffen, diese zu perfektionieren und damit den Gegner zu schlagen.“

      Alle waren von dem Erfindungsgeist, der Begeisterung und den Entwicklungen von Brauns begeistert und überzeugt. Allerdings waren die Ergebnisse der Angriffe der A4 nicht so, wie ursprünglich erwartet und versprochen.

      „Die A4 ist zu ungenau,“ sagte Mooser.

      „Das weiß ich auch. Wir arbeiten daran und brauchen mehr Zeit.“

      Mit der Aggregat 4, kurz A4, konnte man eine Tonne Sprengstoff ans Ziel bringen. Sie hatte eine enorme Reichweite und eine sehr hohe Geschwindigkeit. Allerdings war die Zielgenauigkeit sehr gering und richtete hauptsächlich in der Zivilbevölkerung großen Schaden an. Aber daran arbeiteten von Braun und seine fähigsten Mitarbeiter. Er brauchte mehr Zeit und mehr Geld. Beides hatte er nicht.

      „Die Produktion der N1-Bombe geht vor. Sie haben den Befehl selbst gelesen,“ sagte Mooser, der von dieser neuen Erfindung überzeugt war. Außerdem saß ihm sein Vorgesetzter im Nacken, der keine Widerrede zuließ.

      „Es ist überall bekannt, dass die N1-Entwicklung noch nicht ausgereift ist. Das hier ist nur ein Vorentwurf. Wir konnten noch keinen einzigen Test vornehmen. Wir wissen noch nicht einmal, ob und wie die Bombe funktioniert.“

      „Trotzdem wird die N1 gebaut. Und zwar in Dora.“

      „Und mit was soll die N1 abgeworfen werden? Dafür braucht man ein wendiges Flugzeug, und zwar in großer Stückzahl. Meines Wissens nach sieht es mit der Luftwaffe sehr dürftig aus. Der Mangel an Flugzeugen und an Treibstoff ist doch bekannt.“

      „Die Produktion der Me262 läuft auf Hochtouren. An einer neuen Produktionsstätte wird gebaut. In drei bis vier Monaten sind genügend Flugzeuge einsatzfähig,“ sagte Demmelhuber, der von dieser Aussage überzeugt war. Warum auch nicht? Nur mit dieser Maschine funktioniert die Bombe einwandfrei.

      „Sind Sie sicher? Sie sprechen von dem neuen Werk im bayerischen Mühldorf? Soweit ich informiert bin, steht das Werk noch nicht einmal. Es wird Monate dauern, bis man dort mit dem Bau der Me262 beginnen kann. Sauckel hat vor Monaten versprochen, täglich bis zu eintausend Maschinen in seiner unterirdischen Anlage zu bauen. Und wie viele hat er bisher geliefert? Nur einen Bruchteil davon. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass die Me262 ein reines Jagdflugzeug und kein Bomber ist. Das habe ich auch zu Speer gesagt, der mir sofort zustimmte. Aber der redet dem Führer nach dem Mund und traut sich nicht, ihm zu widersprechen.“

      „Die Baumaßnahmen im Mühldorfer Hart sind bereits weit fortgeschritten. Der Bunker für den Bau der Me262 wird rechtzeitig fertig werden,“ wiederholte Demmelhuber. Er hatte die Pläne im riesigen Waldstück bei Mühldorf selbst gesehen und glaubte an den Erfolg.

      „Nein, das wird er nicht! Und wir alle wissen das. Selbst wenn genügend Flugzeuge vorhanden wären, besteht immer noch das Treibstoffproblem. Womit sollen die Flugzeuge betankt werden? Außerdem ist doch hinlänglich bekannt, dass Ersatzteile und vor allem ausgebildete Piloten fehlen. Wer soll diese Maschinen fliegen? Bis genügend Me262 und die dazugehörigen Piloten zur Verfügung stehen, sollten wir uns auf die Produktion der A4 konzentrieren. Alles andere wäre Wahnsinn.“

      Mooser schüttelte den Kopf.

      „Die Entscheidung steht fest, darüber zu diskutieren ist zwecklos. Die Produktion der A4 wird unterbrochen. Stattdessen wird die N1 produziert. Die Umstellung muss so schnell wie möglich vonstattengehen.“

      Wütend ging von Braun ans Telefon. Es folgte eine lautstarke Auseinandersetzung, die er offensichtlich verlor. Er legte wütend auf und wählte eine weitere Nummer.

      „Ab nächste Woche Montag wird die N1 in Dora gebaut,“ wies von Braun an. „Ja, ich weiß, dass das Schwachsinn ist, aber die Anweisung kommt von oben. Ich fahre nach Berlin und spreche mit Speer, vielleicht kann ich ihn doch noch umstimmen. Sobald ich einen anderslautenden Befehl bekomme, melde ich mich umgehend. Bis dahin gilt der aktuelle Befehl, die N1 zu bauen. Kümmern Sie sich darum.“

      Von Braun stürmte wütend aus dem Zimmer. Alle sahen vom Fenster aus zu, wie er davonfuhr. Von Braun wollte nach Berlin und die Oberste Heeresleitung umstimmen. Ob ihm das gelang? Mooser selbst hatte dem Befehl zunächst widersprochen und biss auf Granit. Alle Hoffnung lag auf der konzentrierten Produktion der Me262 und dieser Bombe, um deren Produktion er sich nun kümmern musste.

      Mooser übergab Demmelhuber das Serum. Alle Umstehenden waren erleichtert, als sie zusahen, wie der Glasbehälter behutsam eingewickelt wurde und im Lederetui verschwand.

      „Vergessen Sie bitte nicht das Serum im Fahrzeug,“ wiederholte Demmelhuber.

      „Sie gehen mir mächtig auf die Nerven! Ich sagte bereits mehrfach, dass ich mich darum kümmere,“ schrie Mooser wütend.

      Sebastian Demmelhuber wurde ein kleines Zimmer in der Mannschaftsunterkunft zugeteilt. Die Einrichtung war spartanisch, aber ausreichend. Sein Aufenthalt in Peenemünde war aufregend. Alles war aufregend, seit er von der russischen Front zurückbeordert wurde. Das war sein großes Glück gewesen, denn die Lage dort war katastrophal. Er hatte viele seiner Kameraden sterben sehen und noch niemals vorher hatte er so großen Hunger verspürt. Die Brutalität einiger Kameraden hatte ihn anfangs erschreckt und er hatte mehrere Meldungen gemacht, die alle ins Leere liefen. Je größer seine eigene Verzweiflung und Not war, desto mehr sank auch seine eigene Hemmschwelle, wofür er sich heute schämte. Ob das an dem Pervitin lag, das an alle Kameraden ausgegeben wurde? Möglich. Durch dieses Medikament war das Leben als Soldat leichter. Pervitin wurde Panzerschokolade, Stuka-Tabletten, Hermann-Göring-Pillen oder Fliegermarzipan genannt. Das Mittel diente zur Dämpfung des Angstgefühls, sowie zur Steigerung der Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit und war bei allen Soldaten, Piloten und Fahrzeugführern beliebt. Es ging das Gerücht um, dass man davon abhängig oder gar krank werden konnte, aber das interessierte kaum jemanden. Mit Pervitin war das Leben als Soldat leichter und nur das zählte.

      Aber das lag hinter Sebastian Demmelhuber. Er war jetzt hier in Peenemünde und konnte sein Glück immer noch nicht fassen. Bei einem Einsatz an der russischen Front hatte er großen Mut bewiesen und acht Kameraden in Sicherheit gebracht, wofür er die Tapferkeitsmedaille verliehen bekam, die er mit Stolz trug. Das hatte großen Eindruck auf seinen Vorgesetzten von Michel gemacht, der ihn lobend erwähnte. Das war seine Fahrkarte für diesen Einsatz gewesen. Wäre er damals nicht so mutig gewesen, wäre er vermutlich längst tot. Nachts verfolgten ihn schreckliche Bilder, weshalb er nicht mehr gerne schlief. Er hoffte inständig, dass er irgendwann mit den Bildern leben konnte. Jetzt war nicht der Moment, sich Gedanken darüber zu machen. Seine Aufgabe in Peenemünde war sehr wichtig. Er hatte die endgültigen Pläne überbracht und hatte das Wundermittel dabei, womit die neue Bombe bestückt werden sollte. Nur Mooser und drei seiner engsten Mitarbeiter wussten davon, und dabei sollte es auch bleiben. Die neue N1-Bombe unterlag strengster Geheimhaltung. Das war die große Hoffnung, auf die die deutsche Führung baute. Der Bau des Bunkergeländes mit dem Decknamen „Weingut I“ bei Mühldorf lief auf Hochtouren und war für Demmelhuber persönlich jetzt schon ein Erfolg. Nicht mehr lange, und er konnte wieder bei seiner Familie leben, denn er selbst wurde in Mühldorf geboren und wuchs dort auf. Vor zwei Jahren hatte er geheiratet, seine Tochter wurde letztes Jahr geboren. Er kannte die kleine Erika nur von Bildern, die ihm seine Frau an die Front geschickt hatte. In zwei Wochen konnte er sie endlich sehen, sie fühlen, riechen und endlich ein Vater für sie sein. Wie würde er seiner Frau begegnen, die er kaum kannte? War die Zuneigung noch so groß, dass sie es schaffen würden, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Ganz sicher. Warum nicht?

      Durch das plötzliche Aufheulen der Sirenen erschrak er. Ein Luftangriff! Wo war der nächste Luftschutzbunker? Hektisch suchte er in seinem Zimmer nach dem Plan, den Mooser erwähnt hatte. Aber er fand keinen. Er musste raus hier, und zwar so schnell wie möglich. Er nahm seine Tasche mitsamt dem Serum und der dazugehörigen Anleitung; er orientierte sich an den anderen, die in eine Richtung liefen. Die ersten Bomben fielen. Eine Druckwelle riss ihn zu Boden. Er rappelte sich auf und fiel gleich darauf wieder hin. Um ihn herum herrschte Chaos. Der beißende Qualm nahm ihm die Luft. Der Wagen! Hatte Mooser Wort gehalten? War die Kiste mit den Ampullen in Sicherheit