er? Hektisch suchte er das ganze Areal ab, wobei er die Bomben der Tiefflieger nicht mehr wahrnahm. Auf dem Boden lag ein Stück Holz, das eindeutig von seiner Kiste stammte. Verdammt! Mooser hatte sein Wort nicht gehalten. Dann entdeckte er das Wrack seines Wagens, von dem nicht mehr viel übrig war. Sofort hielt er sich ein Tuch vors Gesicht, er durfte die Luft nicht einatmen, das würde seinen Tod bedeuten.
Seine Gedanken galten nur dem Schutz des Serums, das sich zusammen mit einer Liste der Inhaltsstoffe in seiner Tasche befand. Als der Jude Schönfeld im KZ Sachsenhausen das Serum endlich fertiggestellt hatte, jagte er das Labor in die Luft, wobei auch Schönfeld ums Leben kam. Nur dieses Muster, die Liste der Inhaltsstoffe und die Ampullen konnten gerettet werden. Und jetzt gab es nur noch die klägliche Menge in seiner Tasche. Wie viele Bomben konnten mit dem Rest bestückt werden? Es war klar, dass das viel zu wenig sein würde. Gab es die Möglichkeit, anhand der Liste der Inhaltsstoffe die genaue Zusammensetzung herzuleiten? Ganz sicher konnte man das. Demmelhuber umklammerte die Tasche. Um ihn herum brannte es und der Qualm nahm ihm die Sicht. Wo waren die anderen? Er war auf sich allein gestellt und beschloss, einfach loszulaufen. Wohin er lief, wusste er nicht. Er wollte nur weg. Er nahm wahr, dass die Flugzeuge in Scharen über Peenemünde flogen, der Lärm war ohrenbetäubend. Die Detonationen wurden nicht weniger. Demmelhuber rannte um sein Leben, wobei er mehrmals nur knapp dem Tode entkam. Leichen und Leichenteile säumten seinen Weg, Verwundete riefen um Hilfe. Er konnte nicht helfen, er musste sich und den brisanten Inhalt in seiner Tasche aus der Gefahrenzone bringen. Die Augen der Verwundeten sahen ihn flehend an, aber er musste sie ignorieren. Auch diese Bilder würden ihn in den Nächten nicht mehr in Ruhe lassen. Er rannte unvermittelt weiter, seine Aufgabe war zu wichtig. Nach zwei Stunden hatte er es geschafft, er war aus der Gefahrenzone. War er das wirklich? Wie viel hatte er von dem Serum abbekommen? Welche Auswirkungen hatte es? Das war Demmelhuber im Moment gleichgültig. Jetzt galt es, den Inhalt seiner Tasche so schnell wie möglich nach Mühldorf zu bringen. Dort würde man sicher wissen, was zu tun war.
Sebastian Demmelhuber war längst im Fokus der Alliierten. Vor allem die Engländer machten Jagd auf ihn. Als klar war, dass er sich in Peenemünde aufhielt, mussten sie ihn unbedingt stoppen. Auch deshalb wurden die Luftangriffe verstärkt. Als die Angriffswelle vorbei war, brauchten britische Agenten zwei Tage um festzustellen, dass Demmelhuber nicht unter den Opfern war. Er war ihnen entwischt.
Drei Tage später war Demmelhuber endlich in Mühldorf angekommen. Die Reise von Peenemünde bis hierher war ein Abenteuer gewesen. Nur mit viel Mühe konnte er einen Wagen beschaffen, wobei der Sprit sehr viel schwieriger zur organisieren war. Viele Brücken und Straßen waren unpassierbar gewesen, wodurch er große Umwege in Kauf nehmen musste. Trotzdem hatte er es geschafft. Die Fahrt durch Mühldorf erfüllte ihn mit einem wohligen Gefühl. Hier vorn war er zur Schule gegangen, dort wohnten seine Großeltern. Es hatte sich in den zwei Jahren, seit er fort war, nicht viel verändert. Dort hinten, nur vier Straßen weiter, lebten seine Frau und seine kleine Tochter. Wie gerne wäre er zuerst nach Hause gefahren, aber das durfte er nicht. Er musste das Serum und die Papiere dem Kommandanten im Mühldorfer Hart übergeben, der dann die weiteren Schritte veranlassen würde.
Sein Husten wurde stärker, er hatte Probleme beim Atmen. Er bremste an der Hauptstraße und ließ eine Kolonne Wehrmachtsfahrzeuge passieren. Er betrachtete sein Gesicht im schmutzigen Rückspiegel. Was war das für ein entsetzlicher Ausschlag?
Als er im Mühldorfer Hart eintraf, blickte er sich erschrocken um. Das war alles, was bisher gebaut wurde? Die Anlage befand sich noch mitten im Bau und nichts deutete darauf hin, dass hier in Kürze Flugzeuge gebaut werden konnten. Nur sieben der zwölf geplanten Außengewölbe waren bisher fertig. Noch bevor Demmelhuber mit einem Verantwortlichen sprechen konnte, fuhren mehrere Lkw vor. Es folgte eine hektische Betriebsamkeit, die er nicht verstand.
„Was ist hier los?“, fragte er einen Gefreiten.
„Die Amerikaner sind nicht mehr weit weg. Hier wird alles evakuiert.“
„Und was ist mit der Produktionsstätte? Was ist mit der Me262?“
„Hast du es immer noch nicht verstanden? Der Krieg ist vorbei! Sieh zu, dass du dich in Sicherheit bringst!“
Demmelhuber konnte es nicht fassen. War wirklich alles zu spät? Gab es für das Deutsche Reich keine Hoffnung mehr? Was würde werden? Ging jetzt alles in Feindeshand über? Nein! Das konnte und durfte nicht sein! Die vielen Opfer konnten nicht umsonst gewesen sein. Er suchte nach einem Verantwortlichen, um diesen Wahnsinn hier zu beenden. Die Me262 musste gebaut werden, er hatte doch das Serum und die Liste mit den Inhaltsstoffen! Für einen Mann mit chemischen Fachkenntnissen dürfte die Herstellung des Serums eine Kleinigkeit sein.
Niemand wollte mit ihm sprechen, alle wimmelten ihn ab. Er fand ein Telefon und brauchte mehrere Anläufe, bis er endlich eine Verbindung nach Berlin bekam. Wiederholt verlangte Demmelhuber, einen Verantwortlichen zu sprechen.
„Verstehen Sie nicht?“, schrie der Mann ihn an. „Hier ist niemand mehr, alle sind abgehauen oder haben sich ergeben.“
„Ergeben?“
„Die Russen sind in Berlin, die Amerikaner und Engländer haben bereits große Teile des Deutschen Reiches besetzt. Der Krieg ist vorbei.“
Jetzt hatte Demmelhuber endlich verstanden. Resigniert legte er auf und beobachtete das Chaos um sich herum. Sollte er nicht einfach auf einen der Lkw aufspringen? Nein! Auch für ihn war der Krieg vorbei. Er setzte sich in den Wagen, startete, aber er kam nur wenige Meter weit. Der Tank war leer. Hier in diesem Chaos Sprit zu finden, war zwecklos. Er beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Nur eine Stunde trennte ihn von seinen Lieben.
Ihm ging es immer schlechter. Er begann, stark zu schwitzen. Der Ausschlag hatte sich über den Körper ausgebreitet. Sein Körper juckte fürchterlich und die dicken Pusteln begannen zu nässen. Seit er losgelaufen war, musste er sich mehrfach übergeben.
Demmelhuber kam nicht weit. In einem Waldstück des Mühldorfer Harts hielt unweit ein Jeep: Die Amerikaner waren bereits hier! Nein, das waren Engländer! Er musste nicht nur sich selbst, sondern vor allem das Serum und die Liste der Inhaltsstoffe in Sicherheit bringen. Trotz seiner zunehmenden Schwäche rannte er los, aber zwei Uniformierte liefen ihm hinterher; auch der Jeep folgte ihm. Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich rasch. Nicht mehr lange, und sie hatten ihn. Das Serum und die Liste durften nicht in Feindeshand gelangen. In Berlin bekam er den Befehl, beides mit seinem Leben zu verteidigen. Und Befehl war Befehl. Wohin damit? Mit zitternden Händen öffnete er die Mappe und riss die wichtige Seite heraus. Dann nahm er den Glasbehälter aus dem Lederetui und wickelte ihn aus den Tüchern. Er steckte nur die eine Seite und das Serum ein, alles andere warf er in hohem Bogen weit von sich. Es war ihm klar, dass die Verfolger ihn beobachteten, darauf hatte er es abgesehen.
„Das muss er sein,“ rief Captain Monroe zu seinen Männern. Er hatte es sich persönlich zur Aufgabe gemacht, Demmelhuber und dieses wahnsinnige Vorhaben zu stoppen. „Hinterher, Männer!“ Er selbst fuhr den Jeep und ließ Demmelhuber nicht mehr aus den Augen. Er lenkte den Jeep waghalsig durchs Gelände und riskierte einen Unfall. Das war gleichgültig. Sollte Demmelhuber das Serum bei seiner Flucht verlieren, waren sie sowieso alle dem Tod geweiht, das wussten er und seine Kameraden, als sie sich freiwillig meldeten. Monroe beobachtete, wie Demmelhuber die Tasche weit von sich warf. Sie war offen und der Inhalt verteilte sich übers Gelände. „Dort hinten! Holt die Tasche und sammelt den Inhalt ein!“, befahl Monroe.
„Was ist mit dem Deutschen?“, rief der junge Corporal Johnson.
„Erst die Unterlagen! Den Mann kriegen wir später!“
Während die Engländer die Tasche und den Inhalt einsammelten, rannte Demmelhuber weiter. Wohin mit der Liste und dem Serum? Er konnte sie nicht einfach im Wald verstecken, das war zu gefährlich. Die Verfolger würden jeden Zentimeter absuchen und würden beides finden. Er musste sich dringend etwas einfallen lassen. Dann sah er ein Marterl mit einer Marienfigur. Wann wurde diese aufgestellt? Und vor allem warum? Er wusste, dass viele dieser Marterl an Stellen aufgestellt wurden, an denen Familienmitglieder verunglückten. Einige wurden auch aus Dankbarkeit oder als Fürbitten aufgestellt. Der Unterschied war wichtig, denn wenn