Lars Hermanns

VIRUS – Im Fadenkreuz


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      »Bakterien? Ist das nicht gefährlich?«

      »Nein«, antwortete sie. »Nicht in meinem Bereich. Für die Arbeit mit potenziell gefährlichen Viren bräuchte ich eine besondere Freigabe, und die möchte ich auch gar nicht haben.«

      Jan nickte und leerte sein Glas.

      »Möchtest du noch eins?«, fragte Natascha, doch Jan winkte ab.

      »Wieso ich?«, fragte er sie plötzlich.

      »Was meinst du?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage und trank danach ebenfalls ihr Glas leer.

      »Wieso hast du mich angesprochen? Wieso wolltest du mit mir essen gehen?«

      »Wieso nicht?« Sie lächelte ihn herausfordernd an.

      »Ich bin fünfundvierzig Jahre alt, Natascha. Deshalb. Wie alt bist du? Fünfundzwanzig?«

      »Ich bin neunundzwanzig. Was hat das bitte mit dem Alter zu tun?«

      »Du bist sehr attraktiv, könntest vermutlich jeden Mann haben, den du willst.«

      »Danke.«

      »Wieso suchst du dir also ausgerechnet mich aus?« Jan spürte, als er die Frage fertiggestellt hatte, dass die Stimmung kippen könnte.

      »Es war nicht geplant, es kam spontan über mich. Du hattest so verträumt ausgesehen, so melancholisch. Und außerdem: Für was soll ich dich denn bitte ausgesucht haben?«, fragte sie und schmunzelte ihn an.

      »Ich weiß es nicht. Sag du es mir.«

      »Wieso machst du es uns so schwer, Jan? Ich bin erwachsen, du bist erwachsen, ich finde dich sympathisch und nett, und ich scheine dir auch nicht unsympathisch zu sein.«

      »Das ist es nicht …«, antwortete er verunsichert. Verdammt nochmal, dachte er bei sich, was tue ich hier eigentlich? Zudem spürte er, wie ihm langsam die Glieder schwer wurden, obwohl er doch nur einen einzigen Gin Tonic hatte.

      »Sondern?«, bohrte Natascha indes nach.

      »Es ist nur ……… Ich bin verwitwet.«

      Nun war selbst Natascha sprachlos. Damit hatte sie nicht gerechnet. Eine gefühlte Ewigkeit lang saßen sie bloß stumm nebeneinander, wobei sie immer wieder versuchte, ob sie ihm wieder in die Augen blicken konnte. Doch Jan blickte betrübt nach unten auf den Boden.

      »Sie starb vor knapp drei Jahren an einem Aneurysma, ist einfach umgefallen und war tot.«

      »Das tut mir ehrlich leid, Jan.«

      »Wir kannten uns schon seit unserer Kindheit, waren die besten Freunde, dann wurde es mehr, bis wir schließlich im April 2000 geheiratet hatten. Sie war meine erste und einzige Frau …«

      »Ich verstehe«, sagte Natascha leise.

      »Sag mal«, wandte sich Jan schließlich an sie. »Könnte ich bitte ein Glas Wasser bekommen?«

      »Natürlich. Ich hol dir eins …«

      Als Natascha aus der Küche zurück ins Wohnzimmer kam, lag Jan auf der Couch und schlief.

      »Jan?«, fragte sie und schüttelte ihn an seinem Arm. »Jan?«

      Doch er antwortete nicht, schlief seelenruhig auf der Couch und ließ sich nicht wecken.

      »Na, Gott sei Dank«, sagte Natascha leise zu sich selbst, während sie Jans Puls am Hals maß. Ruhig und gleichmäßig … er schlief einfach tief und fest.

      Sofort machte sie sich an die Arbeit, was ein wahrer Knochenjob war. Zwar war sie durchtrainiert und hielt sich mit Kampfsport und Jogging fit, doch Jan wog mit Sicherheit an die hundert Kilo, und dieses Gewicht würde sie nun allein bewegen müssen. Sie packte ihn, hob vorsichtig seinen wuchtigen Oberkörper an und lehnte ihn an sich, um ihm sein Poloshirt auszuziehen. Als das geschafft war, lehnte sie den Oberkörper vorsichtig wieder zurück auf die Couch und öffnete den Gürtel, um Jan die Hose und Unterhose auszuziehen. Zuletzt zog sie ihm die Socken aus und war froh, dass er seine Schuhe bereits beim Betreten der Wohnung ausgezogen hatte.

      Als Natascha nun auf den völlig nackten Mann hinabblickte, sah sie, dass er in früheren Jahren mal recht sportlich gewesen sein musste. Brust, Schultern und Arme waren noch immer recht gut trainiert, doch sein Bauch war deutlich gepolstert.

      Nun kam der schwerste Teil der Arbeit: Sie packte Jan vorsichtig, hob den Oberkörper an, griff seitlich schräg von hinten unter seinen Achseln durch und ergriff vor dem Brustkorb seine Unterarme, um den schweren Körper unbeschadet in ihr Schlafzimmer zu ziehen. In diesem Moment bedauerte sie, dass Jan so ein anständiger Kerl war. Ein Aufreißer und Draufgänger, der jetzt bereits mit ihr im Bett gelegen hätte, wäre ihr in diesem Moment deutlich lieber gewesen.

      Nach wenigen Momenten hatte sie es jedoch geschafft. Sie hievte den Körper auf das Bett, drehte ihn entsprechend zurecht und vergaß auch nicht das wichtigste Detail: Sie zog noch einmal ihren Lippenstift nach und beugte sich schließlich über seine Lenden, um eindeutige und unmissverständliche Spuren von Leidenschaft zu hinterlassen. Und sie war heilfroh, dass er sehr gepflegt war und auf regelmäßiges Duschen zu stehen schien. Danach deckte sie ihn vorsichtig mit dem Satinlaken zu und ging zurück ins Wohnzimmer.

      Aus der Jeans förderte sie sein Portemonnaie hervor, daraus seinen Führerschein, seine Kreditkarte und seinen Personalausweis, die sie allesamt mit ihrem Smartphone fotografierte und direkt an Odysseus schickte. Sie wusste, dass er sofort mit den Nachforschungen über Jan beginnen würde. Dann würde es hoffentlich nicht mehr lange dauern, bis sie mehr erführe.

      Anschließend zog sie sich selbst aus und kroch zu Jan ins Bett. Sie küsste ihn ungestüm, um ihren Lippenstift noch in seinem Gesicht zu verteilen. Mit einem »Es tut mir leid« gab sie ihm noch einen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange und legte sich schlafen. Sie hatte Jan Gamma-Hydroxybuttersäure in seinen Gin Tonic gegeben, eine Substanz, die in Deutschland seit 2002 verboten und unter dem Begriff GHB oder Liquid Ecstasy bekannt geworden war. Natascha wusste, dass die Wirkung der k.o.-Tropfen nach etwa einer Viertelstunde einsetzen und mindestens neunzig Minuten anhalten würde. Jetzt hoffte sie, dass Jan durchschlief und nicht in anderthalb Stunden wieder aufwachte. Falls doch, würde sie zu weiteren Mitteln greifen müssen.

      Samstag, 5. Oktober 2019

      Natascha hatte in dieser Nacht kaum ein Auge zugemacht. Odysseus hatte bereits nach weniger als einer Stunde auf ihre SMS geantwortet gehabt und ihr mitgeteilt, dass sie Jan Wagner mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ›bei Laune‹ halten solle.

      Sie wusste sofort, was dies bedeutete.

      Sie war eine so genannte Venusfalle, die ihren Körper dazu einsetzen sollte, wenn es für ihren Auftrag vonnöten war. Bereits vor ihrer Einstellung hatte man sie zahlreichen Tests unterzogen, um sicherzustellen, dass sie auch wirklich alle Register zog, wenn es darum ging, einen Auftrag bis zum Ende durchzuziehen. Sie hatte gewusst, dass dies auch bedeuten konnte, Sex mit Fremden zu haben, die man normalerweise nicht einmal mit einer Kneifzange anfassen würde.

      Zwar war Jan Wagner nicht unbedingt ihr Traummann – dafür hatte er eindeutig zu viel Speck auf den Rippen und zu viele Lebensjahre auf dem Zeiger –, doch sie wusste, dass es sie auch schlimmer hätte treffen können. Sie wusste, dass männliche Kollegen sich bereits auf homoerotische Abenteuer hatten einlassen müssen, obwohl diese absolut heterosexuell waren. Doch Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, hatten sie früher gewitzelt. Heute war sie plötzlich selbst in der Situation, jeden Moment vielleicht Dinge tun zu müssen, die sie anekelten.

      Wie würde sich Jan verhalten?

      War er weiterhin der zurückhaltende Mann, als den sie ihn kennengelernt hatte?

      Würde er vielleicht Dinge von ihr erwarten, die ihr absolut zuwider waren?

      Nein, sagte sie sich in Gedanken immer wieder, er wird weiterhin lieb und nett sein. Wir werden ein wenig vögeln, vermutlich werde