Lars Hermanns

VIRUS – Im Fadenkreuz


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      Danach wählte er die Kurzwahlnummer von Schmitt und sagte bloß: »Am Dienstag fliegen Sie nach Frankfurt und treffen sich mit Venus am Flughafen. Übergeben Sie ihr das Päckchen und die neuesten Instruktionen. Geben Sie mir Ihre Flugdaten, damit ich Venus informieren kann.« Danach legte Odysseus auf, ohne auf eine Reaktion von Schmitt zu warten.

      Montag, 7. Oktober 2019

      Karben

      Jan und Natascha hatten das gesamte Wochenende bei ihr zuhause verbracht. So viel Spaß hatte Jan seit dem Tod seine geliebten Steffi nicht mehr gehabt. Natascha war so prickelnd, voller Energie und Leidenschaft, überlegte er, während er seinen weißen Opel Kadett das letzte Stück nach Roggau lenkte, wo er sein kleines Häuschen auf dem Land hatte.

      Natascha hatte heute an der Uni zu tun, was ihm etwas Zeit verschaffte, um sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Im Haus hatte er schon lange nichts mehr gemacht, und eigentlich hatte er vor, die kommenden zwei Wochen Urlaub zu machen und ein paar Tage zur Entspannung wegzufahren. Gegenbach im Schwarzwald, Waltenhofen, Uffing am Staffelsee und Bad Tölz wären ursprünglich die möglichen Ziele einer kurzen, spontanen Rundreise geworden. Leider sah Petrus dies im Moment anders und hielt mit leichtem Regen und Temperaturen von knapp unter 10°C ein Wetter bereit, das Jan nicht wirklich für einen Ausflug gebrauchen konnte. Erst das kommende Wochenende versprach derzeit eine Besserung.

      Als Jan sein Haus betrat, bemerkte er nicht, dass ein schwarzer Mercedes mit zwei Gestalten darin in Sichtweite zu ihm blieb und man ihn beobachtete.

      Da es weiterhin beständig regnete, wenn auch nicht mehr allzu stark, hatte Jan sich darauf beschränkt, innerhalb des Hauses für Klarschiff zu sorgen. Er saugte die Zimmer, lüftete und wischte Staub, wo es dringend nötig war. Zeitgleich liefen Waschmaschine und Trockner, zumal er auch dringend die Bettwäsche einer gründlichen Reinigung unterzog.

      Die vergangenen Wochen waren sehr kräftezehrend gewesen. Zwar hatte er genügend Geld verdient, um bequem über die Runden zu kommen und sich ein paar Tage Auszeit zu gönnen, doch dafür hatte er auch beinah täglich mindestens zehn Stunden gearbeitet – sieben Tage die Woche! Das war eben der Nachteil, wenn man selbständig war und ehrlich bleiben wollte. Doch alles war besser als sein früherer Job im Einzelhandel und später gar bei einer Autovermietung. Kurz vor Steffis Tod hatte er sich selbstständig gemacht, doch seitdem funktionierte er bloß noch. Ackern von früh bis spät, um später ja einen angenehmen Lebensabend verbringen zu können. Zeit für eine Freundin hatte er dadurch praktisch nie … und dann kam Natascha und wirbelte alles durcheinander.

      Sie meinte vorhin zu ihm, dass sie gegen vier Uhr nachmittags fertig würde und gegen fünf zuhause sei. Sie liebte Fastfood, was Jan – mit Hinblick auf ihren tollen Körper – völlig paradox vorkam. So hatten sie am Wochenende praktisch von Pizza und Brathähnchen gelebt. Später, so hatte sie ihn gebeten, solle er bitte etwas vom Türken mitbringen.

      Zum Glück kannte Jan eine sehr gute Imbissbude in Dortelweil, direkt vor einem Möbel- und Einrichtungshaus. Er würde ihr daher einen Döner Kebab und für sich ein Lahmacun besorgen. Doch bis dahin gab es hier, zuhause, noch sehr viel zu erledigen. Seine Kakteen verlangten nach Wasser – in der letzten Oktoberwoche würde er sie zum letzten Mal gießen, bevor es zur Winterruhe ging –, und wenn alles erledigt war, würde er sich vielleicht endlich wieder mal eine Pfeife gönnen. Zwar rauchte er nicht viel, doch zu Zeiten der Entspannung war eine Pfeife mit einer süßlichen DTM-Mischung ganz nach seinem Geschmack.

      Frankfurt

      Kaum hatte sich Jan liebevoll von ihr verabschiedet, da hatte Natascha auch schon alle Hände voll zu tun. Sie duschte ausgiebig und begab sich später zur Zeil, der berühmten Fußgängerzone der Mainmetropole. Hier sollte sie sich mit Mitarbeitern des Frankfurter Büros treffen, das für ihre Sicherheit verantwortlich war.

      Auch wenn Natascha noch immer nicht wusste, was eigentlich von ihr erwartet wurde, so hatte sie dennoch Kontakt zu ihren Kollegen aufzunehmen. Odysseus hatte ihr vorgeschlagen, dies an einem öffentlichen Platz mit vielen Menschen zu tun, wo sie einfach in der Menge untertauchen konnte. Zwar rechnete niemand damit, dass jemand sie in Frankfurt kannte, doch konnte eben dies dennoch nie gänzlich ausgeschlossen werden.

      Am vereinbarten Treffpunkt sah sie eine Kollegin, die als Erkennungszeichen einen beigen Trenchcoat trug und einen Zigarillo rauchte, während sie auf sie an der Konstablerwache wartete und scheinbar beiläufig den Verkehr auf der Konrad-Adenauer-Straße beobachtete.

      Natascha näherte sich ihr, stellte sich neben sie, zog eine Schachtel Dannemann Moods heraus und fragte: »Dürfte ich mir kurz bitte ihr Feuerzeug leihen?«

      »Ich benutze ein Zippo.«

      »Das ist noch besser.« Natascha zündete den Zigarillo an und dachte über den dämlichen Erkennungsspruch nach, der – leicht abgewandelt – einem James Bond Film entliehen war. Sie hielt sowas für affig und überholt, doch Odysseus hatte nun einmal darauf bestanden.

      »Sie sind Venus?«

      »Ja. Und wie nennt man Sie?«

      »Andromeda. Lassen Sie uns in Richtung Hauptwache flanieren, damit wir nicht auffallen.«

      »Was haben Sie für mich?« Natascha rauchte privat tatsächlich Zigarillos, sodass die Tarnung tatsächlich realistisch wirkte.

      »Jan Wagner. Der Mann ist sauber. Hat vor drei Jahren seine Frau verloren, lebt seitdem allein. Seine Eltern sind Rentner und leben in Karben, er hat noch einen Bruder in NRW. Jans Beruf ist sein Leben, er hält sich Kakteen und besitzt ein kleines Einfamilienhaus in Roggau. Musste seinen Vectra verkaufen, weil er Geldprobleme hatte, fährt seitdem einen alten Kadett. War von 1995 bis 1996 bei der Luftwaffe, hat jedoch nie an Reserveübungen teilgenommen. Laut SCHUFA ist er wieder solvent und hat lediglich eine Resthypothek von rund hunderttausend Euro abzubezahlen. Sein Freundeskreis ist überschaubar, da er keine Zeit für soziale Kontakte hat. Er ist aus der Kirche ausgetreten, war in seiner Jugend Judoka und hat eine blütenreine Weste. Eben ein ganz normaler, langweiliger Durchschnittsdeutscher der Mittelschicht.«

      »Sonst gibt es nichts?«, hakte Natascha nach.

      »Nein. Ich sagte doch: Ein Langweiler.«

      »Haben Sie schon Näheres zu meinem Auftrag?«

      »Nein. Wir haben bloß Order, den Zivilisten zu beschatten. Zwei unserer Leute sind an ihm dran, seit er Ihre Wohnung verlassen hat.«

      »Gibt es sonst noch etwas?«

      »Nein. Odysseus wird sich bei Ihnen melden. Es wird sonst keinerlei Kontakt mehr geben.«

      »Gut.« Natascha wandte sich ohne ein weiteres Wort von ihrer Kollegin ab und ging nach Süden in Richtung Berliner Straße.

      So hatte sie sich ihren Auftrag nicht vorgestellt.

      Man hatte ihr gesagt, dass es ein bedeutender Auftrag sei, dass alles von ihrem Einsatz abhänge. Gleich zu Beginn hatte man ihr gesagt, dass sie als Venusfalle dienen und einen wildfremden Mann verführen solle – mit allen möglichen Konsequenzen. Doch niemand hatte ihr gesagt, wie lange der Auftrag dauern solle. War am Dienstag vielleicht alles schon vorbei? Oder würde sie dann erst den eigentlichen Zweck ihres Auftrags erfahren? Einen unscheinbaren Zivilisten zu vögeln, der ganz offensichtlich keinerlei Verbindungen zu irgendwelchen ausländischen Nachdiensten hatte, konnte doch wohl kaum der ach so bedeutsame Auftrag sein. Dazu hätte man ebenso gut eine Professionelle bestellen können, und Natascha weigerte sich, etwaige Parallelen zu ihrem eigenen Verhalten zu ziehen.

      Wieso sollten ihre männlichen Kollegen die Helden sein, wenn es ihnen gelang, feindliche Agentinnen zu verführen und gegebenenfalls sogar umzudrehen, und eine Agentin mit ähnlichem Aufgabengebiet nicht? Vögelte ein Mann fremde Frauen, war er den Hengst, der Könner – war er bei allen Leuten angesehen. Vögelte eine Frau hingegen fremde Männer, war sie gleich ein Flittchen – wenn nicht gar Schlimmeres. Nein, von solchen Gedanken wollte sie sich gekonnte distanzieren.