Lucia Bolsani

Vico - Il Conte


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sucht Zuneigung. Aufmerksamkeit könnte ich ihr schenken. Ein paar Stunden lang. Für eine Nacht voller Lust und Schmerz, die alle ihre Bedürfnisse befriedigt – alle, außer der Sehnsucht nach Liebe.

      Ich würde sie am nächsten Morgen fortschicken und die Demütigung für sie nur schlimmer machen. Aber ich hätte keine Wahl. Denn die Frau, die alles war, was ich brauche, gab es nur ein einziges Mal auf dieser Welt.

      Ich beuge mich zu Nina herunter, lege behutsam zwei Finger an ihr Kinn und zwinge sie so, mich anzusehen. Ihre Augen sind groß und blau wie zwei Gebirgsseen in der Mittagssonne.

      »Es gibt irgendwo einen Herrn, dessen Herz schneller schlagen wird, wenn er dich sieht, dessen Brust weit wird vor Stolz, wenn er deine Unterwerfung empfängt. Gib dich nicht für weniger her. Ich wünschte, ich könnte dieser Herr sein, aber ich bin es nicht, Nina.«

      Ihre Lippen zittern, und ich neige mich noch weiter vor und küsse sie. Einen Augenblick ist sie wie erstarrt, dann erwidert sie den Kuss. Sie küsst, als hätte sie jahrelang keine anderen Lippen auf den ihren gespürt. Sie schmeckt süß, und einen Moment verfluche ich mich für meine verdammte Anständigkeit, dann löse ich mich von ihr und schicke sie fort.

      Ich atme tief durch, dann greife ich wieder nach meinem Glas und kippe den teuren Whiskey in einem Zug hinter. Das brauche ich jetzt, bevor ich mir meinen Rüffel bei Sonja abhole.

      Kapitel 10

      München-Giesing, 18. Oktober 2019, nachts

      Ein leichter Nieselregen hat eingesetzt, und ich zittere. Nicht die Kälte und die Nässe lassen mich erschaudern. Ich habe das dünne Kleid gegen ein paar Leggings und einen Pulli getauscht, darüber trage ich den dicken Mantel. Den mit der Kapuze, den mein Meister für mich ausgesucht hat.

      Doch heute wärmt mich das kuschelige Stück nicht. Die Kälte kommt von innen, von der Angst vor der Strafe, die mein Meister verhängen wird. Ich habe versagt. Der fremde Herr wollte mich nicht.

      Es wundert mich nicht, dass er mich abgewiesen hat. Mein Meister wird nie müde, meine Unzulänglichkeiten aufzuzählen: zu groß, zu dünn, zu blass, zu empfindlich. Aber nicht nur das. Viel zu selten kann ich es ihm recht machen. Bin nicht das perfekte Spielzeug, das er verdient. Jeden Tag versuche ich, meinem Meister eine Freude zu bereiten. Ständig scheitere ich.

      Doch dann brachte mein Meister mich zu IHM. ER sagte, dass ich meinem Meister einen großen Dienst erweisen würde, wenn ER mich ausleihen dürfte. ER wollte mich nicht für sich. Sondern für den Fremden mit der Maske. Dem würde ich gefallen.

      Ich stimmte sofort zu. Endlich bekam ich die Chance, meinem Meister seine Güte zu vergelten.

      ER befahl mir, mich von allen Männern fernzuhalten, während ich darauf wartete, dass der Fremde in den Salon käme. Unberührt und unschuldig solle ich aussehen. Dafür gab ER meinem Meister Geld, viel mehr, als ich je gesehen habe, und mein Meister schien zufrieden zu sein.

      ER sagte mir auch, was ich dem Fremden über mich erzählen sollte, und ich machte es genau so. Dennoch wollte der mich nicht.

      Aber der Unbekannte hat mich für die Anmaßung, mich ihm überhaupt anzubieten, nicht verspottet. Stattdessen hat er so getan, als sei er es, der unzulänglich sei. Dabei ist er so ein vornehmer Herr, viel zu gut für mich.

      Nina, hat der Fremde mich genannt. Fast fiel mir mein Name nicht ein, als Lady Sonja mir empfahl, meinen Namen zu nennen, falls der Herr mich danach fragte. Bitch, sagt mein Meister zu mir, weil ich gar keinen eigenen Namen verdient habe. Doch als der Fremde Nina sagte, schien das nicht mehr zu stimmen. Weil es sich aus seinem Mund anhörte, als seien diese beiden langweiligen Silben eine bezaubernde Melodie.

      Überhaupt hat er so wunderschöne Sachen gesagt. Dann der Kuss. Vanillakram. Mein Meister würde mich bestrafen, wenn ich mir einen Kuss wünschen würde – zu Recht. Ich habe mich nicht für derlei Dinge zu interessieren. Die Wünsche meines Meisters sind, was mich kümmern sollte. Ich bin dazu da, ihm zu gefallen, ihm zu dienen und von ihm benutzt zu werden. Aber jede Strafe, die mich für einen derartigen Wunsch ereilt hätte, wäre nichts im Vergleich zu der, die mich jetzt erwartet.

      Denn ich habe keine Fotos. Fotos davon, wie der Fremde mich fesselt oder auspeitscht oder benutzt. ER wusste gar nicht, welche Wünsche der Unbekannte haben würde. Ich sollte gehorchen, egal was er von mir verlangen würde, die kleine Kamera in meiner Halskette aktivieren und Bilder machen. Aber einen Kuss kann ER nicht gemeint haben.

      Doch das bringt mich auf eine Idee. Ich würde die Erinnerung an diese Begegnung gerne für mich behalten wie einen kleinen Schatz, an dem ich mich erfreuen kann, wenn mein Meister mich stundenlang in die winzige Strafkiste sperrt. Aber vielleicht wird ER mir ja gestatten, den fremden Herrn noch einmal anzusprechen, wenn ich ihm von dem Kuss erzähle. Denn der Unbekannte kann mich nicht völlig abstoßend finden, wenn er mich so küsst.

      Wahrscheinlich weist er mich erneut ab. Doch möglicherweise küsst er mich zuvor ja noch mal. Sagt noch einmal so schöne Sachen. Danach könnte ich jede Strafe ertragen, die mein Meister sich ausdenkt, ganz bestimmt.

      Ja, so mache ich es.

      Der Regen wird stärker, und ich stehe vor der Adresse, die ER mir genannt hat. Hierhin soll ich kommen, wenn es mir gelungen ist, Kontakt zu dem Unbekannten aufzunehmen. Aber was ist das hier? Schmutzige große Scheiben, hinter denen die Dunkelheit lauert. Ein zerfetzter roter Teppich vor einer Eingangstür, die von zwei verdorrten Pflanzen in fleckigen Kübeln flankiert wird. Hier soll ER sein? Ich habe mich in der Adresse geirrt. Was jetzt? Mein Meister wird wissen, wo ER ist. Doch ich habe erneut bewiesen, wie unfähig ich bin. Nie und nimmer bekomme ich eine zweite Chance.

      Ich lege meine zitternden Hände an die Tür und versuche, hineinzusehen, da ertönt ein Zischen. Ich zucke heftig zusammen, als über mir eine blaue Neonröhre in Form eines Papageis zum Leben erwacht. Stehe ich vor einer Zoohandlung?

      Fast gleichzeitig gibt die Eingangstür nach und schwingt vor mir auf. Erschrocken schnappe ich nach Luft. Drinnen ist es stockdunkel. Nein, ganz weit hinten scheint ein Licht zu sein. Bin ich doch richtig?

      Ängstlich verharre ich auf der Schwelle, als sich aus der Schwärze des Raumes eine scheußliche Gestalt herausschält. Groß und breit wie ein Schrank, massiger noch als mein Meister. Doch nicht deswegen entkommt mir ein entsetztes Keuchen. Sondern weil trotz der Dunkelheit unverkennbar ist, dass das Gesicht des Mannes furchtbar entstellt ist. Seine rechte Wange ist ein einziges runzeliges Narbengewebe, das rechte Ohr und die Haare auf dieser Seite fehlen komplett. Der Mann muss einen schrecklichen Unfall gehabt haben. Dennoch schaffe ich es nicht, Mitleid zu empfinden, zu abstoßend sieht er aus. Ich taumle einen Schritt zurück.

      Der Mann schnaubt nur unwillig und winkt mich wortlos herein. Ich wage es nicht, mich zu widersetzen. Das ist genau so ein Mann, den ER in seinem Gefolge haben würde. Mit weichen Knien mache ich ein paar Schritte in den Raum hinein. Bleibe stehen und versuche, irgendwas zu erkennen.

      Die Luft ist abgestanden und schal. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich stehe in einem riesigen leeren Raum, einer Halle nicht unähnlich. An einer Wand stapeln sich Möbelstücke, bedeckt von einer Plastikfolie. Das Licht scheint kilometerweit entfernt zu sein. Ich mache zwei zögernde Schritte in diese Richtung, als hinter mir die Eingangstür mit einem Knall zufällt. Ich fahre zusammen, mein Herz setzt einen Moment aus, bevor es wie verrückt in meiner Brust hämmert. Nur mühsam kann ich ein Zittern unterdrücken. Das ist alles so unheimlich hier.

      Der furchterregende Mann ist jetzt hinter mir, ich höre seinen schweren Atem, rieche kalten Zigarettenrauch und Schweiß. Angetrieben von meinem schweigenden Verfolger, stolpere ich vorwärts.

      Unsere Schritte hallen unheimlich durch den Raum, während wir immer weiter nach hinten gehen. Außer dem Schnaufen in meinem Rücken höre ich jetzt auch die zarten Klänge eines Klaviers,