Helfried Stockhofe

Der Sommelier


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      Weil er das gemeinsame Ziel ihrer Bahnreise gut kannte, war er weniger überrascht als sie, dass beide im Hotel zur Glashütte Zimmer gebucht hatten. Trotz des fortgeschrittenen Abends wurden sie mit dem hoteleigenen Kleinbus abgeholt. Die Fahrt dauerte noch einmal 20 Minuten in Richtung tschechischer Grenze. Die Bäume rasten nun langsamer vorbei und ließen ab und zu eine Lücke, in der der Mondschein den Blick auf abgeerntete Felder und Wiesen ermöglichte. Unwillkürlich dachte Alina an die gutenachtsagenden Fuchs und Hase.

      Beide schwiegen und Walter schnaufte tief durch. So als würde er sich innerlich auf einen schweren Gang vorbereiten.

      „Hab ich vorhin etwas Falsches gesagt?“, fragte Alina, die Walters Bedrückung bemerkte.

      „Was?“, antwortete er geistesabwesend. „Nein, wenn ich meine Aufmerksamkeit für draußen nicht mehr brauche, dann richtet sie sich nach innen. Und da kommen halt mal Gedanken und Erinnerungen.“

      „Da hätte ich Sie wohl nicht ausfragen dürfen?“

      „Ach nein, Alina, das werde ich doch oft gefragt!“

      Alina zuckte zusammen. Er sprach sie mit Vornamen an. Hatte sie ihm den verraten? Vielleicht schon, als sie von sich in der dritten Person sprach, von der kleinen Alina, die als Kind ihre erste Bahnreise antrat. Und doch war es seltsam, von diesem kaum vertraut gewordenen Fremden mit dem Vornamen angesprochen zu werden.

      Beide versanken sie in ihren Gedanken. Der Bus wurde von einem Tschechen gefahren, der sich wohl auch seinen Gedanken hingab. Er fuhr trotzdem aufmerksam die Straße entlang in Richtung seiner Heimat. Der Hotelangestellte verstand sehr wohl, was geredet wurde, und er konnte die Innenschau seiner Fahrgäste gut nachempfinden. Es sind die Wälder, sagte er sich, die Wälder, die leeren Fluren und die Stille. Da muss man ja melancholisch werden. Bei der Melancholie verstanden sich die Menschen diesseits und jenseits der Grenze. Und beide Sprachen hatten dasselbe Wort für dieses Gefühl: Melancholie! Trotzdem musste František, den sie hier nur Franz nannten, aufpassen, dass er nicht zu viel Melancholie aufkommen ließ. Urlauber sollen ja Spaß haben!

      „Wir sind schon da!“, riss er seine Fahrgäste aus ihren Gedanken. „Ich hoffe, Sie haben einen schönen Aufenthalt!“

      Während er schnell ausstieg und das kleine Gepäck der Urlauber an sich nahm, verließen auch die beiden anderen den Wagen.

      „Danke, Franz! Ihnen noch einen guten Abend. Vielleicht kommen wir morgen einmal zum Plaudern!“

      „Gerne, Herr Walter. Ahoj!“ Dabei grinste er, weil er wusste, wie gerne die Deutschen diesen Gruß haben. Ahoj ist selbst bei den Bewohnern der Grenzregion das einzige tschechische Wort, das ihnen vertraut ist.

      Auch Alina verabschiedete sich höflich von Franz, der sich schon beim Einsteigen mit seinem Namen vorgestellt hatte. Ihr war klar, dass der Blinde und der Tscheche sich schon vorher gekannt hatten. Ihrem Gesprächspartner reichte sie die Hand. Sie hatte dabei ganz vergessen, dass er die nicht sehen konnte. Deshalb griff sie nach seiner Rechten und nahm sie in ihre beiden Hände.

      „War schön, mit Ihnen zu reden. Vielleicht sehen wir uns ja wieder. Beim Frühstück oder irgendwann.“

      „Ja, sehr gerne. Ich bin der Walter!“

      „Und ich die Alina, aber das wissen Sie ja schon!“

      Walter schmunzelte und ging mit leisen Zungenschlägen Richtung Hotel.

      „Warten Sie, ich möchte Sie noch ein Stück begleiten!“, reagierte Alina auf sein vorsichtiges Vorangehen und Hin- und Herschwenken seines Stocks. Sie hakte sich bei ihm ein – und Walter ließ es sich gerne gefallen, von dieser wohlriechenden Frau durch die Eingangstür zur Rezeption geführt zu werden.

      3

      Das Frühstücksbuffet war reichlich. Kaffee oder Tee? Kaffee! Butter aus Oberbayern, Marmelade aus Niedersachsen, Eier aus Käfighaltung. Haben die hier keine vernünftige Landwirtschaft? Alina sah sich um und bemerkte, dass fast alle Hotelgäste früher aufgestanden sein mussten als sie. Die letzten verließen gerade ihren Tisch. Sie war allein. Auch ihr blinder Gesprächspartner war nicht zu sehen.

      Sie hatte sich das Ausschlafen gegönnt. Die Arbeitswoche, die sie hinter sich hatte, war anstrengend gewesen. Schwierige Patienten mit schweren Schicksalen hatten ihr ihre Belastungsgrenze aufgezeigt. Sie tat sich schwer, die vielen Psychotherapieanfragen zurückzuweisen, insbesondere, wenn speziell sie empfohlen worden war von den Ärzten, die ihre mehr oder weniger motivierten psychisch Kranken loswerden oder der angemessenen Behandlung zuführen wollten. Wie bei vielen Psychotherapeuten gab es auch bei ihr lange Wartezeiten. Besonders hart fiel Alina der Hinweis auf die lange Wartezeit, wenn die Anfragenden von ihren eigenen ehemaligen Patienten eine Empfehlung hatten. Und so kam es, dass in ihrem Terminkalender immer zu viele Namen standen.

      Sie schaute hinaus in die immer noch verschlafene Landschaft. Das Hotel stand am Rande eines Dorfes, das sich wohl hinter der Unterkunft befinden musste. Sie sah über den chinesischen Gräsern des Wellness-Oase-Gartens auf eine durch einen Wald abgegrenzte Wiese. Vom Ort bekam sie nur den Glockenschlag der Kirche mit, der sie schon in der Nacht genervt hatte.

      Daheim saß ihr Mann Bernd jetzt wohl auch über dem Frühstück oder schon beim Ausarbeiten von Angeboten. Er hatte es vorgezogen, den Samstag zu einem Arbeitstag zu machen. Nicht einmal ein Gutenachtsagen hatte es gestern gegeben. Alina schrieb ihm eine SMS. Immerhin, der Handy-Empfang war gut. Sie hatte keine Lust zu einem Telefonat. Waren ja auch nur ein paar Tage … Du wirst wohl den ganzen Tag wellnessen, hatte er gemeint, da will ich nicht stören. Vermutlich hatte er nicht nachgedacht oder er kannte seine Frau zu wenig. Alina waren die Wellnessangebote herzlich egal, sie wollte nur einmal raus, weg von daheim. Und sie würde natürlich lieber in der Natur herumlaufen, als im Hotel den Spa-Bereich aufzusuchen.

      Als erstes war die Erkundung der näheren Umgebung dran. Das ging schnell. Eine Kirche, ein Friedhof, zwei verlassene Lebensmittelläden, ein leerstehendes Wirtshaus, Bauernhäuser mit leeren Betonwannen, in denen einmal der Mist lagerte, noch einige Leerstände - mit herabbröckelndem Putz, sich biegenden Dächern und offenen Türen, durch die Mäuse und Katzen verkehrten – aber auch renovierte Häuser, die von kläffenden Hunden bewacht wurden, die ihre Besitzer an die Fenster lockten oder von der Gartenarbeit aufschauen ließen. Etwas abseits war eine Siedlung zu erkennen. Auf billigem Grund gab es dort auch neugebaute Häuser. Vielleicht das Hotelpersonal, dachte sie. Die ganze Verwandtschaft hilft beim Bauen mit.

      Ihr Weg führte zur Kirche. Die sind doch alle gleich, war der Spruch von Bernd. Aber Alina erkannte mehr das Gegenteil: Alle Kirchen sind unterschiedlich! Ob am Samstagmorgen Gottesdienst ist? Barocker Kirchturm mit Schindeldach, lindgelbe Fassade, eine schwere honigbraune Eingangstür. Als Alina die Tür öffnen wollte, hörte sie hinter sich ein leises Klacken. Sie schaute sich um und sah nicht weit entfernt den blinden Walter durch die Grabreihen gehen. Sollte sie ihn begrüßen oder würde sie ihn damit stören oder gar erschrecken? Sie schaute ihm nach.

      Walter ging den Weg, den er jedes Jahr ging. Er ging hinter den Gräbern entlang und klopfte mit dem Stock an die Rückseite der Kreuze und Steine. Er kannte den Klang eines jeden Steines und wenn er unsicher war, dann schnalzte er mit der Zunge, um etwas mehr zu erfahren. Schließlich war er angekommen. Er zwängte sich zwischen zwei Gräbern hindurch und wandte sich von vorne einem großen Familiengrab zu. Es wurde umfasst von einer Begrenzung aus

      Granitsteinen und war überwuchert von Mispeln. Walter

      kniete sich neben das Gefäß mit dem Weihwasser und tastete das Grab ab: Wie immer lag ein Blumenstrauß auf dem Bodendecker. Was er nicht wahrnahm, waren seine Zuschauer, Alina an der Kirchenmauer und ein dicker Mann, der abseits schon auf Walter gewartet hatte.

      4

      Der dicke Robert war den ganzen Tag schon aufgeregt gewesen. Wie jeden Tag musste er exakt 11 Mal die Heizplatte seines Elektroherdes an- und ausschalten. Obwohl er morgens nie seinen Herd brauchte, immer nur einen Wasserkocher in Betrieb nahm, das heiße Wasser auf 11 Gramm Kaffeepulver schüttete, sich ein Brot mit Butter und Honig bestrich, darauf 11 Bananenscheiben drapierte und dazu seine Tasse Kaffee genoss.