Helfried Stockhofe

Der Sommelier


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      „Wie kam der denn ums Leben?“, fragte Alina, ohne auf das Bild zu sehen.

      „Es war ein Unfall. Ein Verkehrsunfall.“

      Nun wagte sie einen zweiten Blick. Der Mann war wohl etwas jünger als sie. Er hatte ein rundes dickliches Gesicht. Seine toten Augen schauten ins Leere. Dem Kopf schien ein Stück zu fehlen, er war auch deformiert, aber kaum blutverschmiert.

      „Ich kenne den nicht. Es ist keiner meiner Patienten!“ - und schon wandte sie sich wieder ab. „Vielleicht wollte er zu mir in Therapie“, fügte sie noch an.

      „Das habe ich auch schon überlegt. Aber stünde dann nicht vor allem Ihre Telefonnummer auf dem Zettel?“

      Das leuchtete ihr ein. „Ich muss mir zuerst einmal etwas zum Trinken holen!“, sagte sie. „Wollen sie auch ein Wasser!“

      „Ja gerne“.

      Während Alina aus dem Wartezimmer zwei Gläser und eine Flasche Mineralwasser holte, schaute sich der Kommissar ein wenig im Raum um. Sehr wohnlich. Ganz anders als eine Arztpraxis. Alina machte einen guten Eindruck auf ihn. Aber sie musste den Toten doch kennen!

      „Also, wenn ich einmal mitspekulieren darf“, redete die zurückkehrende Alina weiter, „der muss meine Adresse von jemand erhalten haben. Denn offenbar wusste er nicht, wo ich wohne!“

      „Klar, aber die Adresse könnten ja auch Sie ihm gegeben haben!“

      Jetzt schaute Alina verblüfft – was der Kommissar sehr wohl bemerkte. Und er schwächte ab: „Deswegen müssen Sie ihn ja nicht unbedingt gut kennen. Vielleicht hat er Sie bei irgendeiner Gelegenheit einmal angesprochen.“

      „Nein, in letzter Zeit habe ich niemand meine Adresse gegeben. Vielleicht irgendwann einmal vor Jahren.“ Aber vielleicht eine kurze Begegnung? Sie dachte nach. Glaubte ihr dieser Flinker womöglich nicht?

      „Zeigen Sie mir noch einmal das Foto!“, bat sie ihn.

      Dann schaute sie doch etwas länger. „Wie schaut der denn sonst aus? Ich meine figurmäßig.“

      „Der ist dick, untersetzt“, erwiderte der Kommissar gespannt.

      „Er könnte es wirklich sein!“, flüsterte Alina. Sie war sich nun fast sicher.

      9

      Der dicke Robert war von einem Auto überfahren worden. Mitten in der Stadt. Zeugen hatten ihn schon vor dem Unfall den Straßenrand entlanglaufen sehen, als sie an ihm vorbeifuhren. Er kam ihnen verwirrt vor und sie fragten sich, ob er womöglich in suizidaler Absicht so herumsprang. Einige Schritte ging er auf dem Gehsteig, dann wieder etliche Schritte auf der Straße. Ein Passant hatte ihn angesprochen, aber statt zu antworten, lief Robert erschreckt davon. Ein Autofahrer hatte sogar die Polizei darüber informiert. Als die aber zum Nachschauen kam, lag der Robert schon tot vor einem schwarzen Toyota. Der Fahrer saß schockiert am Straßenrand. Kommissar Flinker fragte sich später, warum der nicht hat ausweichen können, so wie es die anderen Autofahrer auch geschafft hatten. Vielleicht war der Fahrer unaufmerksam gewesen oder Robert hatte sich tatsächlich unvorhersehbar vor das Auto geworfen.

      Flinker hatte sich von Alina die Begegnung mit dem dicken Robert auf dem Friedhof in der Oberpfalz erzählen lassen. Sie erwähnte auch den blinden Walter Bellitzka. Der Robert musste durch das Treffen auf dem Friedhof einen handfesten Grund bekommen haben, der Psychotherapeutin nachzureisen, aber welchen? Flinker kannte sich: Solange er nicht Licht in das Dunkel gebracht hatte, konnte er diesen Unfall oder Suizid nicht zu den Akten legen.

      Er genehmigte sich eine Dienstreise in die raue Oberpfalz.

      Die 100-minütige Autofahrt brachte ihn in der melancholischen Grenzregion zu dem Entschluss, doch eine Nacht in dem annavigierten Hotel zu verbringen. Er ahnte, dass es länger dauern würde. Hier schien nämlich alles entschleunigt. Die Polizeikollegen stammten alle aus der Region. Sie bemühten sich aber, ihr wenig gebrauchtes Hochdeutsch hervorzukramen. Die Hotelangestellten sprachen hochdeutsch. Sie waren darauf getrimmt, auswärtige Gäste zu begrüßen. Das als Spezialität angebotene Zoiglbier schmeckte Flinker, ebenso die vorzügliche Küche des Küchenchefs, der hier eine weitere Stufe seiner Karriereleiter erklomm, bevor er woanders eine wohlhabendere Kundschaft beglückte.

      Alle kannten den dicken Robert und den blinden Walter. Die Kollegen wussten viele Geschichten über den seltsamen Dicken. Der sei zwar etwas verrückt, aber im Übrigen völlig harmlos gewesen. Sie zeigten dem Kommissar den Weg zu Roberts Eltern. Über den Verbleib von Walter wussten die Kollegen nichts. Der sei vor 13 Jahren weggezogen. In der Gemeindeverwaltung könnte man ihm vielleicht weiterhelfen. Und der Walter tauche nur selten hier auf. Und ja, die beiden hätten sich sicher gekannt. Hier kenne jeder jeden. Ein paar Jahre Altersunterschied machten da nichts aus.

      Nach dem Besuch bei Roberts Eltern, die ein solches Schicksal ihres ungewöhnlichen Sohnes vorausgeahnt hatten, ging Flinker auf den Friedhof. Die Eltern des verstorbenen Robert wussten nicht, warum er sich in der entfernten Stadt aufgehalten hatte, vielleicht barg der gemeinsame Treffpunkt der drei Beteiligten auf dem Friedhof einen Hinweis. Flinker fand das Familiengrab der Bellitzkas. Es waren Walters Eltern, die dort lagen. Sie waren bei einem Unfall am 11.09.2000 verstorben. Was sollte so aufregend daran sein, dass Robert entdeckt hatte, dass Frau Winner ihn beobachtete, während er dem Bellitzka am Grab zuschaute? So aufregend, dass er sich Frau Winners Adresse besorgt und ihr umgehend nachgereist war? War das etwa ein Eifersuchtsdrama? Flinker hatte bei seinen hiesigen Kollegen Andeutungen herausgehört, die auf eine Homosexualität des Opfers hinwiesen. Hatte Robert die Befürchtung, die Psychotherapeutin könnte ihm seinen blinden Liebhaber ausspannen? Vielleicht hing aber alles mit dem Unfall der Bellitzkas zusammen. Er musste sich die Akten des Unfalls besorgen, den Blinden ausfindig machen und ihn befragen.

      10

      Walter war auf halber Strecke umgestiegen, um in seinen Wohnort weiterzureisen. Er arbeitete dort als eine Art freiberuflicher Geschmackstester für Getränke und für verschiedene industriell hergestellte Speisen. Es war nach dem Unfall ein mühsamer Weg gewesen, bis er zu dieser Tätigkeit fand. Es vergingen Monate, ja Jahre, bis er nach mehreren Kopfoperationen körperlich wieder einigermaßen hergestellt war. Und psychisch? Er gab sich immer die Schuld an dem Unfall, zumal die Polizei- und Gutachterberichte ihm diese nahelegten. Er selbst hatte keine Erinnerung an das Geschehene. Er wusste nur noch, wie er mit seinen Eltern ins Auto gestiegen und losgefahren war. Dann war er irgendwann im Krankenhaus aufgewacht. Im Dorf war er bekannt als schneller Fahrer. Das Auto sei rechts von der Fahrbahn abgekommen, er habe nach links gezogen und sei übersteuert über die Straße geschossen. Der Wagen habe sich einen kleinen Abhang hinunter mehrfach überschlagen und sei schließlich in einem Sonnenblumenfeld gelandet.

      Walter hatte sich nach mehrwöchigem Koma, Klinikaufenthalten und Rehabilitationskuren nicht mehr ins Dorf getraut. Still und leise hatte er das geregelt oder regeln lassen, was nach dem Tod seiner Eltern dort noch zu regeln war, das Haus verkauft und sich in ein Blindenheim zurückgezogen. Dort war er vor Jahren wieder ausgezogen in seine jetzige behindertengerechte Mietwohnung. Nur einmal im Jahr besuchte er seinen Heimatort und ging auf das Grab seiner Eltern. Anfangs hatte er Angst, man könnte ihn kritisch auf den Unfall ansprechen, aber offenbar schützte ihn seine bemitleidenswerte Blindheit vor verbalen Attacken. Im Verlauf der Jahre gab er sich das Recht, mehr und mehr zum Leben zurückzukehren. Er erwarb sich Fähigkeiten, die ihm das Zurechtkommen erleichterten und wagte sich schließlich sogar ins Berufsleben. Keinen Zugang fand er aber zu einer engeren partnerschaftlichen Beziehung. Hier hinderte ihn schon innerlich seine Behinderung und körperliche Entstellung, die er aber mit Sonnenbrille und verdeckenden Frisuren zu verbergen wusste. Als er Glasaugen bekam und man ihm bestätigte, wie gut er damit aussehe, traute er sich wieder mehr unter die Leute.

      Er war immer sehr eitel gewesen. Den Mädchen stieg er schon als 15-Jähriger nach. Ein richtiger Angeber! Wenn er in ruhigen Zeiten nach dem Unfall darüber nachdachte, kam ihm die Vermutung, dass ihm seine sexuellen Erfahrungen mit dem dicken Robert geschadet hatten, dass er kompensatorisch umso mehr hinter den Mädchen her war und seine Attraktivität von denen immer bestätigt sehen wollte.

      Seine diesbezüglichen