Helfried Stockhofe

Der Sommelier


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      Robert wartete schon eine halbe Stunde. Walter hatte sich dieses Jahr verspätet. Vielleicht verschlafen. Oder beim Frühstück mit jemand geplaudert? Schon das machte Robert unruhig. Er legte seinen Strauß schon immer vorher aufs Grab, seit 2002, also seit genau 11 Jahren. Letztes Jahr war er sich sicher: 2012 war nach 11 Jahren wieder ein Jahr erhöhter Sonnenaktivität. Selbst die Sonne hat den 11-Jahres-Rhythmus! Dieses Jahr war er sich aber total unsicher: Sollte er die Blumensträuße oder die Jahre zählen? Es war heuer sein 12. Strauß. Was würde geschehen? Er spürte, wie sich seine Aufregung zu einer richtigen Angst auswuchs, als Walter am Grab kniete. Aber nichts Ungewöhnliches passierte. Der tastete wie üblich das Grab ab, bemerkte den Strauß, erkannte die Sonnenblumen, alles wie jedes Jahr. Nach einer Weile stand der Blinde auf und suchte sich wieder mit Hilfe seines Stocks den Weg nach draußen. Der dicke Mann atmete auf. Auch er machte sich davon. Aber da entdeckte er das Ungewöhnliche: Er sah, dass an der Kirchenmauer eine Frau lehnte, die offenbar die ganze Szene beobachtet hatte. Er wurde von ihr direkt angeschaut. Er kannte sie nicht. Sie grüßte mit einem Kopfnicken. Er nickte kurz zurück und verschwand.

      Seinen Weg nach Hause fand er unbewusst, gedanklich war er beschäftigt mit verunsichernden Fragen. War das nach dem 11.9.01, der zweite Wink des Schicksals? Wer war diese Frau? Was hatte sie gesehen? Was wird die denken? Was hatte sie mit Walter zu tun? Sollte er ihr nachgehen?

      Bevor er die Haustür aufschloss, drehte er um und ging wieder zurück in Richtung Kirche. Vorsichtig lugte er in den Friedhof hinein, schlenderte dann harmlos durch die Grabreihen, umrundete das Gotteshaus, traute sich sogar in den Innenraum. Die Frau war verschwunden. Aber der blinde Walter konnte ja so schnell noch nicht in seinem Hotel sein, auch wenn es gar nicht so weit entfernt stand. Der dicke Mann ging also Richtung Hotel. Wenn die beiden etwas miteinander zu tun haben, könnten die sich unterwegs begegnen. Und überhaupt – wo sollte eine Fremde schon wohnen, wenn nicht dort? Aber wenn alle zwei dort wohnen, dann haben die sich auf jeden Fall schon kennengelernt. Aber das macht doch nichts, wenn die sich kennen? Ist doch nicht schlimm, oder?

      Er bemerkte nicht die Leute, die hinter den Vorhängen hervorlugten und sich ihre Gedanken machten: Heute früh ist aber etwas los! Da fahren nicht nur die Hotelangestellten, der Zeitungsausfahrer und der Bäckerwagen vorbei, nein, auch Spaziergänger sind unterwegs. Zuerst eine junge Frau, die dahinschlendert, dann ein blinder Mann. Ist das nicht der Walter? Ist der auch wieder einmal da! Und dann auch noch der Robert! Der ist auch wieder dicker geworden. Hoppla: die Frau spricht den Walter an! Die kennen sich! Hat der Walter endlich eine gefunden? Da muss doch die Nachbarin gegenüber auch wieder neugierig hinter dem Vorhang herauslugen! Die lässt sich das nicht entgehen. Die glaubt wohl, man würde sie nicht sehen. Die hat auch nichts anderes zu tun! Und warum bleibt der Robert jetzt stehen? Der tut ja so, als ob er die beiden verfolgen würde und nicht gesehen werden möchte. Jetzt dreht der sogar um. Naja, die sind ja schon bald im Hotel. Oh, jetzt hat die Nachbarin mich entdeckt: Hast du des gsengn? Des is doch da Walter gween. Der haadt eetzt a Freindin. Naja meinetweng. I vaguns eahm. Und schaah hii, da Robert, da wird a ahwaal wampada.

      5

      Das Mittagessen war ausgezeichnet. Alina schämte sich für ihr neugieriges Beobachten und fragte Walter nicht aus. Aber sie unterhielten sich über das sterbende Dorf und über die gestorbenen ehemals deutschen Dörfer jenseits der Grenze.

      „Wir können da ja einmal hinfahren?“, schlug Walter vor.

      „Aber ohne Auto?“ Alina dachte, er habe das vergessen.

      „Aber nein, Franz würde uns sicher die kurze Strecke fahren!“

      Die jahrhundertealten Siedlungen waren in den 50er Jahren dem Erdboden gleich gemacht worden, nachdem als Folge des zweiten Weltkriegs die deutsche Bevölkerung dort vertrieben worden war. Aber einige Gebäude standen noch in dem einsamen Waldgebiet. Sie wurden nach dem Krieg von tschechischen Grenztruppen genutzt. Jetzt schienen sie leer zu stehen, waren aber seltsamerweise mit starken Vorhängeschlössern gesichert. Von anderen Gebäuden waren nur noch Grundmauern zu erkennen. Ein alter Friedhof wurde aber gepflegt. Alina schilderte Walter ihre Eindrücke und löste auch bei ihm eine gewisse Beklemmung aus. Die verstärkte sich noch, als ein tschechischer Wagen mit drei Männern auf dem Schotterweg vorbeifuhr. Was wollen die hier? Auf dem Friedhof grüßten sie einen Mann. Der wie viele Tschechen in der Grenzregion auch deutsch sprechende Mann pflegte die Gräber der Deutschen. Auch er schaute missbilligend dem Geländewagen nach. Aber er sagte nichts dazu.

      Von dem verlassenen Dorf aus wollte Walter auf einem Wanderweg zu einem Bergrücken hochsteigen.

      „Dort oben sind wir schon wieder in Bayern. Ich war in der Kindheit öfters dort.“

      „Aber wird das nicht zu anstrengend?“, warf Alina besorgt ein.

      „Ich habe eine gute Kondition und eine aufmerksame Begleiterin!“, gab Walter lachend zurück.

      „Also gut! Kommen Sie!“ Und dabei hakte sie sich wieder unter.

      An die ehemalige Grenze erinnerten hier nur noch ein Waldweg mit zwei geteerten Spuren, einige Grenzpfähle und ein breiterer waldfreier Streifen, den sie überqueren mussten.

      „Da waren früher mehrere Linien hoher Stacheldrahtzäune. Und so Betonklötze dazwischen. Das sollten wohl Panzersperren sein.“

      Nun wurde es steinig. Aber es waren Stufen erkennbar, aus Granitsteinen zusammengesetzt, die sich hier massenweise im Wald fanden. Wenn der Steig schmal wurde, ging Alina voraus und beschrieb die Schwierigkeiten des Weges. Walter war gerührt von ihrer Fürsorge. Manchmal lachte er in sich hinein, weil er sich viel sicherer fühlte, als es seine Begleiterin wohl glaubte.

      Dann veränderte sich alles. Die Tannen und Fichten traten immer mehr auseinander, der Wald öffnete sich. Riesige Granitfelsen drängten die Bäume beiseite, es kam Licht herein. Plötzlich mischten sich Buchen und Eichen in den Nadelwald. Das erste Herbstlaub ließ bunte Tupfer im Sonnenlicht leuchten. Und es schauten hohe Lärchen und Kiefern auf die beiden Wanderer herab. Der Weg wurde weich von herabgefallenen Blättern und Nadeln vieler Jahre.

      Alina ging staunend und tief atmend. Sie wurde von einer mystischen Stimmung erfasst. Und Walter an ihrem Arm spürte es. Vor seinem geistigen Auge sah er das Licht. Er roch die würzigen Kiefern. Auch nahm er das dampfende Moos war, das sich über die Felsen gelegt hatte. Alina beschrieb ihm die Wollsackverwitterung mancher Felsen, aus deren Spalten Farne wuchsen, und die alleinstehenden runden findlingsartigen Riesen mit ihren silbrig glänzenden Flechten.

      „Ich weiß, Alina“, sagte er leise und strich Alina über die Hand, die ihn immer noch fest geleitete. „Ich kenne mich hier aus. Ich war hier oft mit meinen Eltern.“

      Walter schob seinen Stock zusammen und steckte ihn ein.

      Langsam, ja fast andächtig, gingen sie weiter bis auf die letzte Anhöhe.

      „Hier war ein Windwurf. Schau, man hat einen wunderbaren Blick hinüber nach Tschechien“, sagte er. „Und man kann sogar bis zum Cerchov sehen!“

      Alina bemerkte, dass Walter sie geduzt hatte, aber das war in Ordnung. Den Cerchov kannte sie nicht und als sie danach fragen wollte, spürte sie ein leichtes Zittern an ihrem Arm. Sie schaute in Walters Gesicht und sah, wie sich seine Mimik zu einem Weinen verzog. Walter senkte seinen Kopf. Sein Oberkörper begann zu zucken. Mit dem linken Arm presste er Alinas Arm fest an sich und seine rechte Hand legte er über seine linke, so als wollte er sein Herz festhalten, damit es nicht herausspränge. Unter seinen Glasaugen quollen Tränen hervor. Alina stellte sich vor ihn hin und nahm ihn in die Arme. Sie ließ ihm Zeit für seine Tränen. Dann sagte sie:

      „Nichts ist mehr so, wie es war. Alles ist zugewachsen. Der Wald hat seine Wunden geschlossen. Die Sicht ist verstellt.“

      6

      Der dicke Robert war jetzt 39 Jahre alt. In der Küche der Glashütte arbeitete er als Spüler und tat darüber hinaus noch vieles, wofür man ihn gebrauchen konnte. Man hatte sich an ihn gewöhnt. Die Hänseleien hatten immer mehr abgenommen. Kein Vergleich zu früher. In seiner Kindheit hatten die Eltern gerne den Struwwelpeter als Erziehungsratgeber benutzt. Gegen die angeblich schlechte