würde, würde es ihn, den abgemagerten Suppenkaspar, wohl genauso davonwehen wie den Robert. Die Namensgleichheit war dem damals noch dünnen Robert sehr suspekt. Und da sein magisches Denken wesentlich ausgeprägter war als seine Intelligenz - heute würde man von einer Lernbehinderung sprechen – versuchte er schon in der Kindheit, die Gefahren durch allerlei Rituale zu bannen. Ab der Schulzeit gelang es ihm dann tatsächlich, durch Gewichtsaufbau – eine Adipositas wurde das schon damals genannt – eine Grundlage für Stabilität zu schaffen.
Mehr schlecht als recht bewältigte Robert die schulischen Anforderungen, wobei ihm der Spott vieler Mitschüler und Lehrer sicherlich eher abträglich war. Öfters versuchte er sich anzubiedern durch Gefälligkeiten, die er den anderen tat. Oder er ließ sich verführen zu Mutproben, deren Sinn er manchmal gar nicht verstand. So tappte er naiv in manche Falle und wurde einerseits zum Gespött der „Auftraggeber“, andererseits zu einem Ärgernis der Geschädigten. Seine Eltern hatten ihm einen weiteren Bestseller der eigenen Kindheit zugesteckt, Geschichten von Wilhelm Busch, die ihm aufzeigen sollten, was einem passieren kann, wenn man wie Max und Moritz den Mitmenschen Streiche spielt. Für Robert war das Zerstückeltwerden in einer Getreidemühle, wie viele ähnlich unsinnige Strafandrohungen, keine unrealistische Gefahr. Aber wie sollte er für sich ähnlich schlimme Folgen vermeiden, wenn er doch erst im Nachhinein bemerkte, dass er etwas angestellt hatte? So gewöhnte er sich mehr und mehr an präventive Schutzmaßnahmen, die ihm eigenes Fehlverhalten und schreckliche Bestrafungen ersparen sollten. Zwangsstörungen und paranoide Tendenzen hätte eine Diagnose in der Jugendzeit lauten können, wenn Robert jemals deswegen fachlich beurteilt worden wäre. Aber er galt bei den meisten als harmloser Tölpel, der einem hilfreich sein und mit dem man auch Spaß haben konnte.
Seine sexuelle Neugier und sein Durcheinander hielt er weitgehend verborgen. In der Pubertät bekam er von Älteren Einweisungen in Selbstbefriedigung und diverse, teils völlig seltsame Sexualpraktiken. Pornographische Zeitschriften und Filme ließen ihn überrascht und verängstigt zurück. Als er sich 16-jährig dem 12-jährigen Walter näherte, tat er es nicht, weil er sich zu Kindern wirklich hingezogen fühlte, sondern weil er sich dem 12-Jährigen nicht unterlegen fühlte. Und er tat das, was er selbst in den Jahren davor immer wieder bei Älteren erleben musste: gegenseitige Masturbation und Analsex. Auch das Experimentieren mit Gegenständen, die sich in die Analöffnung stecken lassen, ließ er nicht aus, obwohl ihm das noch seltsamer als alles andere vorkam und in ihm noch größere Ängste auslöste. Immerhin glaubte er, durch Strafandrohungen, die er dem kleinen Walter mitgab, dieselbe Verschwiegenheit zu erreichen, die auch bei ihm durch entsprechende Drohungen erreicht worden war.
Mit seiner Arbeitsaufnahme im Hotel verlagerten sich seine Aufmerksamkeit und sein Interesse auf einen Bereich, der endlich einmal keine Schuldgefühle auslöste. Robert erlebte eine gewisse Befreiung, ohne aber nachlassen zu können bei seinen Zwängen. Als eine bildhübsche 17-jährige Praktikantin im Hotel arbeitete - Robert war inzwischen schon 26 Jahre alt - konnte er nicht mehr die Augen von ihr wenden. Wann immer möglich, versuchte er, sie zu beobachten und sich vorzustellen, wie glücklich ihn eine Beziehung zu ihr machen könnte. Seine selten gewordenen homosexuellen Kontakte verloren jeglichen Reiz. Aber leider hatten auch andere Männer Augen für die schöne Michelle …
7
Alina Winner war wieder daheim. Sie berichtete ein wenig von ihrem Wochenende nicht nur ihrem Ehemann Bernd, sondern auch ihrer Patientin Michelle. Die 30-jährige Michelle hatte noch nichts von ihrer Ausstrahlung verloren, mit der sie seinerzeit die Männer betörte. Sie hatte Alina das Hotel zur Glashütte in der Oberpfalz empfohlen, in dem sie als Jugendliche ein Praktikum absolvierte und ihre ersten Erfahrungen mit Männern sammelte. Sie hatte sich sehr verliebt in einen allgemein sehr begehrten, einige Jahre älteren Mann, der scheinbar ihre Gefühle erwiderte, sie nach ihrem Praktikum aber vergaß. Er war ihre „erste große Liebe“. Und sie hatte einen anderen dort kennengelernt, der ihr folgte und bis heute ihr „ewiger Verlobter“ war. Und leider auch der Papa ihres 12-jährigen Sohnes Ben und außerdem der zukünftige Schwiegersohn ihres hoffnungsfrohen alten Vaters, der den Verlobten nun schon lange als Rezeptionschef in seinem Hotel Polder beschäftigte. Michelle hatte in der psychotherapeutischen Behandlung bei Frau Winner schnell kapiert, dass die Beziehung zu ihrem Verlobten der Grund für die häufige Obstipation war, unter der sie seit 13 Jahren litt. Sie setzte sich zu wenig mit sich, mit ihm und ihrer Enttäuschung auseinander. Sie war zu jung, hatte sich zu schnell an ihn gebunden, vielleicht weil sie den anderen nicht haben konnte, und glaubte, sich nicht mehr von ihm trennen zu dürfen. Immerhin gab er sich stets als großer Verehrer, was ihr anfangs auch schmeichelte, gab dort in der Glashütte sogar seine Stelle auf, reiste ihr nach, zeugte ein Kind mit ihr, der Naiven, und engagierte sich sehr im Betrieb ihres Vaters. Und wie das so ist bei einer unerfüllten ersten großen Liebe, die zweite Liebe reicht nie mehr an die erste, die verlorene und verklärte Liebe heran. Wer weiß, was daraus geworden wäre, tröstete sie sich. Der war doch ein Hallodri. Und ich war dumm und naiv. Das andere, das mit meinem Verlobten, das ist etwas Handfestes, Realistisches. Vielleicht sind die Gefühle, die ich habe, ausreichend, ganz normal für eine gute Beziehung und das andere war nur eine Spinnerei. So dachte sie zumindest vor der Therapie. Fast hätte sie den ewigen Verlobten geheiratet! Nun war sie aber ins Zweifeln gekommen. Jetzt befürchtete sie, dass sie sich mit zu wenig zufrieden gab und dass sie nur zu feige war, mit dem Verlobten Schluss zu machen. Freilich wusste sie auch nicht, wie sich eine Trennung auf den Sohn auswirken würde. Vielleicht würde auch ihr Verlobter bei einer Trennung ganz mit ihrer Familie brechen. Und je länger sie mit ihm zusammen war, umso schwieriger schien es ihr, das Ganze zu beenden. Sie war auch schon immer eine Hotelierstochter, die es sich nicht hätte verzeihen können, wenn sie das Ansehen der Familie und des Hotels gefährdet hätte. War doch ihre ungewollte Schwangerschaft schon schlimm genug. Zum Glück konnte diese durch eine Verlobung legitimiert werden ...
Die Therapeutin Alina erzählte ihrer Patientin Michelle nichts von dem Blinden. Das war zu privat. Sie berichtete Michelle aber von ihrer Begeisterung für die Natur dort an der Grenze, von dem guten Essen, von der Freundlichkeit des Hotelpersonals, der einsamen Landschaft und der Melancholie, die einen dort überfallen konnte. Und dabei dachte sie auch an ihre eigene Beziehung …
Ihrem Mann hätte sie gern mehr erzählt. Aber sie spürte nicht sein Interesse an ihren Erlebnissen. Nur bei der Echoortung des Blinden horchte er kurz auf. Später fragte er noch, ob die Dächer dort voller Fotovoltaikanlagen wären oder es mehr Biogasanlagen gäbe. Alina war sich nur sicher: Es gab viel Wind, aber keine Windräder. Und dann philosophierte der Energiefachmann über Vor- und Nachteile der grünen Energie. Und er betonte, dass er am Wochenende sehr gut ohne seine Frau ausgekommen sei.
8
Alina bekam in der Praxis Besuch von einem unscheinbaren, kleinen und blassen Menschen. Der hatte sich nicht angemeldet, sondern stand vor der Tür und fragte nach ihrem Namen. Er nannte sich Hauptkommissar Flinker und zeigte seinen Polizeiausweis. Alina bat ihn, nachdem er verneint hatte, dass etwas mit ihrem Mann oder anderen Verwandten passiert sei, sich etwas im Wartezimmer zu gedulden, die Therapiestunde sei gleich zu Ende. Aber sie konnte sich nicht mehr konzentrieren und schickte Michelle vorzeitig hinaus. Die ging noch durchs Wartezimmer auf die Toilette, grüßte den Kommissar und wunderte sich auch über dessen Blässe, über die sie aber erst auf dem Heimweg nachdachte. Alina bat den Polizisten in den Behandlungsraum und wartete gespannt auf seine Ausführungen.
„Frau Winner, wir haben diesen Zettel in der Jackentasche eines Toten gefunden.“
Dabei reichte er ihr einen Notizzettel, der in einer Klarsichtfolie steckte. Darauf stand in etwas kindlicher Schrift Alinas Adresse.
„Ja, das ist meine Adresse. Wer ist denn gestorben?“
„Das ist ja das Problem. Das wissen wir nicht. Also, wir können den Mann nicht identifizieren. Vielleicht ist es ja einer Ihrer Patienten.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Vielleicht könnten Sie ihn identifizieren.“
Alina erschrak. Sie dachte an die Fernsehkrimis, an eine sterile Pathologie mit großen Kühlfächern.
„Ich zeige Ihnen einmal ein Foto“, sagte der Kommissar und legte ihr die Aufnahme eines toten Gesichts vor. Alina wandte sich ab.
„Ich