Janet Borgward

Das Mädchen mit dem Flammenhaar


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alte Lord fähig war.

      „Ich mag alt sein, Manold, aber meine Sinne sind noch jung. Eure dagegen scheinen abzustumpfen, wenn eure Augen junge Mädchen mit kupfernem Haar übersehen.“

      Also war es doch keine Sinnestäuschung gewesen. Doch als er einen zweiten Blick gewagt hatte, waren die Köpfe in der aufgebrachten Menge verschwunden. Manold stand wie versteinert da, indes Neschwirr mit geschmeidigen, lautlosen Schritten zu ihm schlenderte und Mahilo-Esch ihn weiter unter Beschuss nahm.

      „Wie ich sehe, kommt die Erinnerung langsam. Doch zu spät, Manold. Die Zeiten sind schlecht und Frauen, gesunde Frauen, rar. Du weißt, dass wir nach der einen suchen, dem Mädchen mit dem Flammenhaar. Dich noch weiter durchzufüttern erscheint mir sinnlos.“

      Kaum hatte er die Worte ausgesprochen als Neschwirr, flink wie ein Geist, ein kleines juwelenbesetztes Langmesser unter seinem Überwurf hervorbrachte und Manold seitlich bis zum Heft in die Brust stieß. Ein sauberer Stoß. Absolut tödlich. Mit einer gereizten Grimasse quittierte Mahilo-Esch den Mord, der vor seinen Augen geschah.

      „Lass ihn verschwinden und sorg dafür, dass nichts von seinem unreinen Blut weiterhin meinen kostbaren Boden besudelt.“

      „Wie du wünschst, Vater.“

      Neschwirr deutete eine Verbeugung an. Das Messer war wieder in den langen Ärmeln seines Gewandes verschwunden.

      „Und ich will, dass du nach Gullorway reitest. Bring mir die Mädchen mit den roten Haaren. Eine von ihnen wird die Richtige sein und für die andere finden wir hier sicher auch noch Verwendung. Es ist mir egal, wie du das anstellst, aber sorge dafür, dass es niemanden aus dem Dorf mehr gibt, der darüber berichten könnte!“

      „Eine einfache Aufgabe und ganz nach meinem Geschmack, Vater.“ Neschwirr richtete sich voller Stolz auf. Sein Vater hatte längst das Potential erkannt, das in ihm steckte. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren war es für Neschwirr bald an der Zeit, dass er dessen Nachfolge übernahm.

      „Enttäusche mich nicht“, setzte Mahilo-Esch nach.

      Aufgebläht wie ein Gockel verließ Neschwirr den Raum. Er sprach zwei Männer aus seinem Gefolge an, auf deren Verschwiegenheit er vertraute. Kurze Zeit später war von dem törichten Manold nichts mehr zu sehen. Die dunklen Holzplanken aus geschliffenem Schiffsrumpf ließen nicht erkennen, was hier geschehen war.

      Doch bevor Neschwirr aufbrach, gab es noch einiges zu regeln. Schlafen konnte er später.

      „So spät noch auf den Beinen, Bruder?“

      Neschwirr rannte geradewegs in seinen Halbbruder Amarott, dem Sohn einer jungen Hure, an der sein Vater Gefallen gefunden hatte und die zu eine der ersten Gelblinge mutierte, so erzählte man sich. Überall stand der siebzehnjährige im Weg herum.

      „Genau das könnte ich dich fragen, Amarott. Ist es nicht schon längst Schlafenszeit für dich, kleiner Bruder?“

      „Irgendetwas hat mich aus dem Schlaf gerissen.“ Amarotts buschige Augenbrauen warfen sanfte Wellen. Ein Anflug von Spott umspielte seine Lippen.

      „Dann sieh zu, dass du dir von Benoe ein Schlafmittel geben lässt. Ein Aufguss mit Melisse soll Kindern bei Schlafstörungen helfen.“

      Amarott ließ sich diesmal nicht provozieren. Zu groß war seine Neugierde, um zu erfahren, was es mit dem großen, zugeschnürten Bündel auf sich hatte, das ein paar von Neschwirrs Vertrauten aus dem Esszimmer seines Vaters herausgetragen hatten.

      „Bei Kindern, mag sein. Aber Benoe hat noch andere Vorzüge, die einen schläfrig machen können.“

      „Sieh zu, dass du in dein Zimmer kommst, und steh mir nicht im Weg, kleiner Bruder.“ Langsam verlor Neschwirr die Geduld.

      Behände trat Amarott beiseite und ließ Neschwirr ziehen. Dieser schlug einige Umwege ein, um den Schatten seines Bruders abzuschütteln. Sein Weg führte ihn schließlich über den nun leeren Burghof, vorbei an den verschlossenen Fensterläden des Schmieds und weiter durch verschlungene Gassen, an den Mauern hochherrschaftlicher Häuser entlang.

      Die Burg bot mehreren hundert Menschen Platz, fast ausschließlich Männern. Die Frauen von Kandalar hingegen fielen seit Jahren einer rätselhaften Seuche zum Opfer oder mutierten zu Gelblingen, schauderhaften Wesen mit vogelartigen kahlen Köpfen und Klauen. Mahilo-Esch hatte verfügt, dass diese geisterhaften Wesen in den Verliesen der Burg gehalten wurden, an einem Ort, zu dem nur einige Auserwählte Zugang hatten.

      Auf leisen Sohlen und weiter im Schutz der Dunkelheit erreichte Neschwirr letztlich sein Ziel, das Haus des alten Färbers. Was er an ihm schätzte, war seine Verschwiegenheit, wenn auch sein Lohn immer unverschämter wurde. Aber ein in die Jahre gekommener Mann lebte schließlich nicht ewig.

      „Was führt Sie zu so später Stunde noch in meine bescheidenen Räumlichkeiten, Neschwirr-Guhl?“

      „Lassen wir das Theater. Du bist nicht bescheiden und ich bin in Eile. Ich brauche zehn Männer, die keine Fragen stellen und einen langen Ritt nicht scheuen. Vier Späher, die vorausreiten und das Gelände sichern. Dazu Gelblinge, die ihre letzten Gehirnzellen einzusetzen wissen und bedingungslos gehorchen. Kannst du mir da aushelfen?“

      Neschwirr befingerte ein Stück frisch gegerbtes Leder, das so weich war wie die Haut eines jungen Mädchens.

      „Der Zufall will es, dass mir einige Männer noch einen Gefallen schulden.“ Der Färber lächelte und ließ dabei ein paar faule Zahnstummel sehen. Das Gold der Zähne war nur den Lords von Kandalar vorbehalten. „Und bei den Gelblingen, nun ja. Sie werden immer nützlicher …“

      „Gut.“ Neschwirr gab noch weitere Anweisungen und machte dann einen Treffpunkt aus.

      „Da wäre noch eine Kleinigkeit, Neschwirr-Guhl.“

      „Wie viel?“

      „Nun, ich denke eintausend Platons wären eine angemessene Summe.“

      „Überspann den Bogen nicht, Färber. Mein Vater könnte sich wundern, woher dein plötzlicher Reichtum stammt. Einhundertfünfzig Platons jetzt und weitere zweihundert, wenn der Auftrag ausgeführt ist und ich zurück bin.“

      „Welche Garantie habe ich, dass ihr gesund zurückkommt, Neschwirr-Guhl? Die Herren von Kandalar sind nicht überall beliebt.“

      „Das ist mein Preis. Nimm an, bevor ich es mir anders überlege.“

      „Vierhundert jetzt und vierhundert nach eurer erfolgreichen Reise würden mein Gewissen beruhigen.“

      Neschwirr griff in die Falten seines Umhangs und zählte dreihundert Platons ab, die er dem Färber auf den fleckigen Holztisch warf. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er den stickigen Raum. Es würde der letzte Gefallen sein, um den er den alten Halsabschneider bat.

      Ein Meer von Fragen und leeren Karten

      Ich saß im Schatten unter dem Vordach unseres einfachen Hauses. Auf meinen abgeschürften Knien ruhte ein vergilbtes Blatt Papier, den eingetrockneten Federkiel bewegte ich zwischen meinen Fingern wie ein Taschenspieler. Seit heute hatten die Pforten der Schule wieder geöffnet. Nach Cyrians Tod waren sie tagelang zum Zeichen der Trauer verschlossen geblieben.

      Cyrian war der einzige Sohn von Recking, dem Bauern. Er hatte aus einem groben Holzblock Figuren von erlesener Schönheit schnitzen können, die unsere Händler für ihn verkauften. Seine Hände hingegen waren zu ungelenk, um Felder zu bestellen. Als die Ernte nicht genug einbrachte, nahmen die Herren von Kandalar seine Mutter und die kleinere Schwester mit auf die Burg. Und jetzt war er tot. Es war nicht so, dass der Ältestenrat von Gullorway tatenlos zusah. Unzählige Male hatte er die Hilfe von Abylane, Alebas oder der Goldenen Stadt Timno Theben erbeten, die über bewaffnete Kohorten verfügten. Doch waren diese mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Stattdessen gemahnten uns ihre Clanführer zur Vorsicht und das wir eben die Augen offenhalten sollten. Es gab keine Unterstützung. Im Umkreis von mehreren Tagen gab es kein einziges Dorf, keine Stadt. Während sich im Westen der Fluss Mukonor in den undurchdringlichen Sümpfen von Greenerdoor verlor, gab es im Osten nur das Bergmassiv der Ellar