Selina Harms

Illusionen


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überhaupt? Nehmen sie die vielen Menschen wahr, die sich hier aneinander vorbei bewegen?

      Keiner hält an oder zögert auch nur eine Sekunde. Stelle mir vor, wie es wäre, wenn irgendjemand mal auf

      die Idee kommen würde anzuhalten, in der Mitte der Kreuzung. Sich einfach dahinsetzen würde. Die

      Straße wahrnehmen, all die Menschen, die Fahrzeuge. Genau da sein, einfach nur sein. Von hier oben am

      Fenster, fühl ich mich, als wäre ich kein Teil davon, verstehe die Menschen nicht, die alle in ihren eigenen

      Welten versunken aneinander vorbei gehen, ohne sich gegenseitig zu sehen. Auf der anderen Straßenseite

      ist eine Häuserreihe verschiedener Wohnungen, die aneinander grenzen. Sehe in den Fenstern

      verschiedene Leben, die doch direkt nebeneinander und doch vollkommen getrennt verlaufen. In dem

      einen sitzt jemand vor seinem Computer alleine, die ganze Nacht, sehe das blaue Licht und sonst nicht

      viel. In der Wohnung daneben ist mehr Licht, jemand schaut Fernsehen, in welche Ferne sie wohl sehen.

      Frage mich, ob die beiden sich kennen, wissen, wie der andere ist. Stelle mir vor, wie es wohl wäre, wenn

      jemand mal aufhören würde, mit dem was er macht. Innehalten, jemandem in die Augen schauen und

      sagen “Hallo anderer Mensch, schön dass du auch hier bist. Wie ist dein Sein heute?”

      Ist es nicht komisch, dass nicht jeder mit jedem redet, jedem mit der gleichen Freundlichkeit und Offenheit

      begegnet als wäre es sein bester Freund? Sind wir nicht alle nur die gleichen Wanderer auf der Erde, genau

      gleich verwirrt, woher wir kommen und was das alles hier soll? Alle Teil des gleichen großen und Ganzen,

      aus dem selben Material, mit ähnlichen Zielen, Träumen, Wünschen und Ängsten. Wie Kekse aus ein und

      demselben Teig, die sich ein Backblech im Ofen teilen. Doch ein paar sind ein bisschen dünner oder dicker

      als die anderen. Sie sind alle gleich, aber eben ein wenig anders geformt, manche sind ein bisschen brauner

      gebrannt, aber kein Keks würde auf die Idee kommen, einen anderen Keks auszuschließen, weil er

      dunkelbraun ist und nicht hellbraun. Es sind trotzdem alle aus einem Teig. Und kein Keks würde auf die

      Idee kommen, auf dem Backblech Grenzen zu malen, welche die anderen nicht mehr übertreten dürfen

      und sonst als “illegal” bezeichnet werden. Auf ein und demselben Backblech!?

      Wie Wellen im riesigen Ozean, manche größer, manche kleiner oder schäumiger, Teil des Ganzen, keine

      Welle würde je denken sie ist nicht wie die anderen Wellen. Am Ende ist doch alles einfach Wasser. Alles

      eins. Ein System, eine Welt. Eine Einheit. Und aus diesem Einheitsgedanken heraus zu leben, sich das

      immer wieder vor Augen zu führen, erweckt eine unglaubliche Liebe, Mitgefühl und Verständnis für ein

      jedes Lebewesen auf der Erde.

      Vielleicht hätten wir nicht ganz so viele Probleme und ein bisschen mehr Verständnis und Mitgefühl,

      wenn wir uns alle nur als Menschen und nicht als Identitäten sehen und vergleichen würden. Und uns

      einfach nur aufs Mensch sein beziehen.

      Und so bewirkt das ganze Benennen und Definieren doch nur, dass unser Gefühl vom anders sein, der

      Seperation von den anderen, immer mehr zunimmt. Nicht, das Individualismus etwas Schlechtes sei, nur

      das wir eben nicht vergessen sollten, dass wir doch von der gleichen Masse abstammen. Dass die Frau vor

      mir im Supermarkt, die so nervtötend langsam ihre Lebensmittel auf das Fließband packt, vielleicht gerade

      erfahren hat, dass sie eine tödliche Krankheit und nicht mehr lange zu leben hat und sich daher so

      Gedankenversunken in einer Art Schockstarre bewegt. Dass die Blonde, für einen Montag viel zu gut

      gelaunte Kassiererin, vielleicht gestern die Liebe ihres Lebens kennengelernt und deswegen auf Wolke

      Sieben schwebt und all den Einkäufern ihr Lächeln schenkt. Dass so unfassbar viele verschiedene

      Realitäten auf kleinstem Raum, kaum sichtbar, direkt nebeneinander, miteinander ablaufen, von denen wir

      absolut keine Ahnung haben. Wir wissen nie, was sich in diesen anderen Welten abspielt, kennen nie die

      ganze Geschichte. Wissen nicht, wie es ist, er oder sie zu sein.

      Während ich dies schreibe, wandert mein Blick zufällig an meinem linken Arm entlang. Über die Tattoos,

      die Muttermale, ein paar Narben sind auch dabei. Merkwürdig, dass mir meine Tattoos gar nicht mehr

      auffallen, ich sehe sie gar nicht mehr richtig. Sie sind schon so ein fester Bestandteil meines Körpers

      geworden, als wären sie eigene Körperteile an sich. Ich hinterfrage sie gar nicht mehr und weiß, dass ich

      sie, entgegen fremder Erwartungen niemals bereuen werde. Gerade deshalb, weil sie so sehr zu mir

      gehören, dass ich sie mir nicht mehr wegdenken kann. Ntürlich sind sie auch einfach Kunst und mein

      Körper die Leinwand. Aber sie sind auch wie Erinnerungen, die einfach Teil von meiner

      Vergangenheit sind, nicht zu ändern. Aber genauso meine Zukunft, denn all meine Tattoos sind Symbole

      oder Mantras, die mich immer daran erinnern, was wichtige Lektionen und Werte für mich sind und

      diesen Werten und Visionen immer treu zu bleiben. Eines von diesen ist zum Beispiel “Sat Nam”, ein

      Mantra auf Sanskrit, das übersetzt bedeuted “ Ich bin Wahrheit” oder “ Wahrheit ist

      meine Identität”, was mich daran erinnert, immer, egal was kommt, ehrlich zu sein, in meinen Taten und

      Worten, aber auch immer zu meiner eigenen Wahrheit zu stehen und immer und überall die Wahrheit zu

      finden und zu lieben. Ein weiteres Tattoo ist ein Schriftzug überhalb meiner Armbeuge. Illusion steht da,

      auch wenn es recht schwer leserlich ist. Es erinnert mich an die Illusion des Dualismus. Die Illusion der

      Seperation. Dualismus ist die Theorie, dass alles Leben getrennt voneinander stattfindet und anders ist.

      Dass ich getrennt von der Welt und getrennt von anderen Menschen existiere. Und vielleicht mögen es

      auch verschiedene, kleine und eigenständige Systeme sein, aber dennoch sind sie alle Teil des großen

      Systems, des großen Kreislaufs und aus ein und demselben Material geschaffen.

      Das Tattoo erinnert mich daran, mir immer der Illusionen bewusst zu sein, die die Realität bereithält. Und

      immer wieder aus dem Wirrwarr an Illusionen und Labyrinthen in denen man -sich ach so häufig

      verfängt, zurückzukehren und zu erkennen, dass alles eins ist, dass wir alle eins sind.

      Und irgendwie ist mein Körper mit all den Tattoos als Erinnerungsstützen und Inspirationen auch ziemlich

      gut mit diesem Buch vergleichbar. Denn es ist, genauso wie diese eine Sammlung meiner wichtigsten

      Erkenntnisse, Symbole, Erinnerungen und Wegweiser, die mich immer wieder zurück zu mir selbst