Claudia Mathis

Geschichten des Windes


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forderte.

      Da! Ein reißendes Geräusch! Der Alptraum eines jeden Seemannes. Ein Segel war gerissen! Schon das Zweite! Aber welches?

      „Das Focksegel! Los, bergen!“, hörte Sean da jemanden rufen. Man musste das Segel schnell einholen und zusammenpacken, damit überhaupt eine Chance bestand, es später nähen zu können. Das wurde Sean auf seinen Reisen immer wieder eingebläut.

      Sean taumelte auf den schaukelnden, von Gischt überspülten Planken zum Bug des Schiffes und versuchte, mit seinen nassen Händen die Wanten am Fockmast emporzuklettern. Durch die tiefgrauen Wolken am Himmel war es fast so dunkel wie in der Nacht. Immer wieder rutschte Sean am Seil ab, schaffte es aber doch unter Ächzen und Stöhnen hinauf bis zum gerissenen Segel. Seine gebrochene Rippe bemerkte er durch das ausgeschüttete Adrenalin nicht. Er stand in schwindelerregender Höhe und hielt sich mühsam am Mast fest. Ein anderer Matrose, den Sean hinter dem Regenvorhang nicht erkannte, war vor ihm oben. Mit eiskalten, fast tauben und enorm schmerzenden Händen wickelten sie das glitschige, durch die Nässe unerhört schwere Leintuch zusammen und sicherten es mit einem Seil. Sean wurde schwindlig, doch er musste wieder hinunter.

      Plötzlich hörte er einen markerschütternden Schrei aus der Kombüse. Kaum am Boden angekommen, machte Sean sich auf den unter diesen Bedingungen fast unmöglich zu bewältigenden Weg zur Schiffsküche. Er öffnete vorsichtig die Tür, doch der Wind entriss sie ihm und sie knallte donnernd an die Wand. Sean schaute in die Kombüse, doch seine Augen mussten sich zuerst an die noch größere Dunkelheit im Inneren gewöhnen. Dann sah er das Chaos.

      Die Töpfe lagen überall verstreut herum. Der Sturm war erschreckend plötzlich über das Schiff hereingebrochen und es bestand anscheinend keine Möglichkeit, sie rechtzeitig zu sichern. Es sah aus, als ob eine Proviantkiste explodiert wäre. Auf den Schränken, an den Wänden und auf dem Boden, überall zermatschtes Gemüse, aufgeweichtes Brot, Stücke von gepökeltem Schweinefleisch, halb ausgenommene Fische. Doch all das war kaum die Ursache für den Schrei, dachte sich Sean.

      Erst jetzt hörte er ein Wimmern. Sean blinzelte durch den Raum, versuchte, das Geräusch zu orten. Das war nicht leicht bei dem ohrenbetäubenden Krach der Zeeland und des Sturms. Ächzendes Holz, prasselnde Segel und heulender Wind lärmten um die Wette. In einer Ecke sah er eine Gestalt liegen. Sean bahnte sich einen Weg durch die Lebensmittel und klammerte sich dabei an alles, was fest war. Bei der Gestalt angekommen, erkannte er, dass es sich um Piet, den deutschen Schiffskoch, handelte. Dieser streckte Sean eine Hand entgegen und schrie in schlechtem Englisch:

      „Oh, danke, dass du da bist, Mann! Mein Bein!“

      Und jetzt sah es Sean. Ein langes Messer zum Fisch filetieren ragte aus dem Oberschenkel des jungen Mannes. Auch das hatte man anscheinend nicht gesichert. Sean überlegte, was zu tun war. Eigentlich müsste er den Schiffsarzt holen. Doch wie sollte er herausfinden, wo sich Aderito in diesem Moment aufhielt? Ihn zu suchen war ausweglos. Aber Piets Wunde musste versorgt werden, jetzt.

      Unter Schmerzen kniete Sean sich hin. Die große Frage war, ob er das Messer herausziehen sollte. Denn dann würde das Blut nur so fließen. Sean wusste, dass im Oberschenkel besonders viel Blut war. Das hatte er schon selbst erlebt, als er einmal in Piräus, dem Hafen von Athen, in einer Hafentaverne in einen Kampf verwickelt worden war. Sean schüttelte diese Gedanken schnell ab und versuchte, sich wieder auf die Situation zu konzentrieren.

      Zuerst musste er etwas zum Verbinden und Blutstauen finden. Sean suchte in der Kombüse nach etwas Brauchbarem. Er durchstöberte die Schränke und fand zum Glück ein sauberes Tuch zum Geschirrtrocknen. Das Schiff schaukelte immer noch stark. Sean taumelte zurück zu Piet und kniete sich wieder hin. Er stöhnte auf. Meine Rippen!

      Sean konnte im Dämmerlicht erkennen, wie bleich Piets Gesicht war. Er musste starke Schmerzen haben. Aufgrund des Lärms konnte Sean dem Koch nicht sagen, was er als Nächstes vorhatte. Also deutete er zuerst auf das Messer und machte mit der Hand eine Bewegung nach oben, dann zeigte er auf das Tuch. Sean wusste nicht, ob Piet ihn verstand. Trotzdem setzte er seinen Plan um. Schaudernd nahm er das Messer in beide Hände, schaute Piet ins Gesicht und als dieser nickte, nahm Sean allen Mut zusammen und zog an dem Messer. Begleitet von Piets Schrei glitt es aus dem Fleisch und setzte eine tiefe Wunde frei. Ein Schwall Blut quoll heraus. Schnell legte Sean das Messer zu Boden und kniete sich darauf, damit es nicht noch mehr Schaden anrichten konnte. Dann presste er das Tuch auf die klaffende Wunde. Sofort war es blutdurchtränkt. Mist! Sean machte einen straffen Knoten und holte rasch noch mehr Tücher. Habe ich das Richtige getan? Das Messer verstaute er im verschließbaren Schrank.

      Wieder bei Piet sah er, dass dieser viel Blut verloren hatte. Sean wickelte ein Tuch zu einer Art Seil zusammen und Band das Bein straff oberhalb der Wunde ab. Erst jetzt schaute er zu Piet. Zu allem Unglück hatte dieser das Bewusstsein verloren. Sean musste schleunigst Hilfe holen. Er band ein weiteres Tuch über die Wunde und bewegte sich zur Tür.

      An Deck bemerkte er, dass der Sturm anscheinend etwas nachgelassen hatte. Er konnte mehrere Männer erkennen, die auf dem Boden saßen und sich ausruhten. Sean ging hin und suchte unter ihnen nach Aderito. Seine Augen leuchteten kurz auf, als er Arthur erkannte. Ihm ging es also gut. Gott sei Dank!

      „Hast du Aderito gesehen?“, rief Sean.

      „Ich bin hier!“, hörte er da die Stimme des Arztes. Sean fiel ein Stein vom Herzen.

      „Du musst sofort mitkommen! Piet ist verletzt! Schnell in die Kombüse!“ Damit zog er den älteren Mann mit sich. Arthur und noch ein Matrose gingen mit.

      Als sie Piet erreichten, war das ganze Bein voller Blut und der Koch immer noch bewusstlos. Aderito bedeutete den Seeleuten, den Verletzten in seine Kammer zu bringen. Zum Glück wurde der Sturm immer schwächer und sie erreichten ihr Ziel ohne größere Probleme.

      In der Kammer des Arztes legten sie Piet auf die Pritsche. Mit Hilfe der anderen entkleidete ihn Aderito und wickelte ihn in warme Decken. Dann säuberte er die Wunde und nähte sie zusammen. Piets Zustand war kritisch.

      Sean hingegen saß vor der Kammer auf den Planken und machte sich große Vorwürfe. Hätte ich das Messer im Bein lassen sollen? Diese Frage quälte ihn schrecklich. Grausam klopfte sie immer wieder an seine Hirnrinde. Klopf, klopf… Sean war verzweifelt. Er wusste nicht, ob er Piet geholfen oder alles noch schlimmer gemacht hatte.

      Da setzte sich Arthur erschöpft zu ihm. Zaghaft fragte Sean: „Wie geht es Piet?“

      „Das Bein ist genäht, aber er hat viel Blut verloren. Piet ist noch nicht aufgewacht.“

      Sean sackte in sich zusammen. Er war völlig fertig. Hoffentlich würde er für die spätere Schicht zum Auspumpen des Wassers eingeteilt, das sich im Schiff angesammelt hatte.

      Da riss der Himmel etwas auf und zögerlich ertasteten helle Sonnenstrahlen das gepeinigte Schiff. Sean drehte sein Gesicht zur Sonne und spürte seit einer Ewigkeit wieder ein wenig Wärme. Das tat gut. Ein winziger Hoffnungskeim entfaltete sich in seiner Brust. Die Dauerspannung viel von ihm ab und er war nur noch müde. Sean rappelte sich auf, drückte seinen Freund kurz am Arm, stieg die Luke hinunter und ging langsam zu seiner Kammer. Das Treppensteigen bereitete ihm große Schmerzen. Alles fühlte sich wie in Zeitlupe an. Ohne sich zu entkleiden plumpste er in seine Hängematte und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

      Fünfzehn

      - 1697 -

      Aderito war erschöpft. Nach diesem schrecklichen Sturm hatte er sich nicht ausruhen können, wie es sein gequälter Körper verlangte, sondern musste sich sofort um den armen Piet kümmern. Schwerfällig ließ er sich auf die Pritsche fallen und fing an, sich der schweren, klatschnassen Stiefel zu entledigen. Endlich hatte er Zeit zum Nachdenken.

      Aderito konnte dem jungen Sean keine Vorwürfe machen. Er war in Panik gewesen und hatte nur helfen wollen. Aber aus medizinischer Sicht war es unverantwortlich, das Messer ohne die Beteiligung eines Fachkundigen herauszuziehen. Sean und besonders natürlich Piet hatten großes Glück, dass kein Gefäß getroffen war, sonst wäre der Verletzte innerhalb von Minuten verblutet. Piet war ein Kämpfer und Aderito überzeugt, dass er sich wieder erholen würde.