Claudia Mathis

Geschichten des Windes


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„Arthur…“

      „Ihr seid herzlich eingeladen.“

      „Wir würden uns sehr freuen. Der Ort scheint ausgebucht.“

      Lino nickte.

      „Ja, im Moment ist hier viel los, zu viele Schiffe sind in letzter Zeit angekommen. Na, dann zeige ich euch mal meinen Palast.“

      Lino zwinkerte den jungen Männern zu und ging zuerst durch die Tür, die nur angelehnt war. Als Sean in die Hütte trat, stach ihm ein muffiger Fischgeruch in die Nase. Er schluckte die Übelkeit herunter. Arthur war auch stehengeblieben. In dem Raum herrschte ein einziges Chaos. Der kleine Holztisch in der Mitte war voll mit allerlei Kram, darunter schmutziges Geschirr und dreckige Kleidung. In der Kochecke befand sich ein alter Ofen, auf dem ein dampfender Topf stand. Vier Stühle waren im Raum verteilt, auf denen sich undefinierbares Zeug stapelte. Ein relativ breites Bett mit zerwühlten, schäbigen Decken zeichnete sich in einer anderen Ecke ab. Und überall: Staub, viel Staub. Arthur musste niesen.

      „Gesundheit! Wirst du krank, Arthur?“, fragte Sean scherzhaft.

      „Nein, geht schon.“

      „Das ist mein bescheidenes Reich. Ich zeige euch euer Zimmer.“

      Widerwillig folgten ihm die Beiden die schmale, ächzende Treppe hinauf. Lino führte sie in den Raum, der das ganze obere Stockwerk ausfüllte. Hier war es etwas ordentlicher, aber genauso staubig. Arthur nieste wieder, aber diesmal reagierte niemand.

      Sean zeigte neugierig auf die beiden an der Wand stehenden Betten: „Wer wohnt hier?“

      „Wohnte. Meine Töchter Gabriella und Laurinda.“

      „Was ist mit ihnen passiert?“, wollte Arthur wissen.

      Lino sagte traurig: „Sie sind vor einem Jahr nach Brasilien ausgewandert. Portugiesische Händler haben sie mitgenommen, es war ihnen zu einsam hier. Seitdem bin ich allein und freue mich immer über Besuch. Habt ihr Hunger?“

      Sean war unsicher, ob er in dieser heruntergekommenen Hütte etwas essen wollte, aber Arthur sagte schon:

      „Ja gerne.“

      Sean verdrehte die Augen.

      Lino ging wieder hinunter und die beiden machten sich mit ihrem Schlafplatz bekannt. Nachdem sie die staubigen Decken begleitet durch Arthurs Husten ausgeschüttelt hatten, wagten sie es und legten sich auf die Strohsäcke. Es war bequemer, als sie gedacht hatten. Als sie vergnügter die Treppe herunterstiegen, als sie heraufgekommen waren, wurden sie von einem relativ aufgeräumten Zimmer überrascht. Der Tisch war frei geräumt und die Stühle standen auf ihrem Platz. Auf dem Tisch befanden sich nun der dampfende Topf, zwei Teller mit Löffeln und zwei Becher Wasser. Lino verteilte gerade die Suppe.

      „Ich hoffe, ihr mögt Kabeljau. Den habe ich heute frisch gefangen, gibt`s hier in rauen Mengen. Ich bin Fischer, müsst ihr wissen. Alle Männer aus meiner Familie waren Fischer. Wollt ihr Brot?“

      Sean, der plötzlich durch einen Stich im Magen bemerkte, wie hungrig er eigentlich war, sagte gierig: „Gerne. Ich bin am Verhungern.“

      Damit setzte er sich an den Tisch und kostete die Fischsuppe. Und wieder wurde er überrascht. Er löffelte beherzt.

      „Das schmeckt ja köstlich! Danke, Lino.“

      Arthur nickte nur. Er konnte nichts sagen, weil er so mit dem Essen beschäftigt war. Lino setzte sich zu ihnen.

      „Was hat euch hier auf die Azoren verschlagen?“

      Sean kaute kurz und schluckte dann.

      „Wir kommen von Lissabon und wollen nach New York, mit der Zeeland.“

      Linos Augen begannen zu leuchten. „Lissabon! Portugal! Die Heimat meiner Vorfahren! Ich war noch nie dort, aber es soll wunderschön sein.“

      „Es ist in Ordnung“, sagte Arthur schmatzend. „Schottland ist viel schöner. Kann ich noch mehr Suppe haben?“

      Etwas irritiert schöpfte ihm Lino noch einmal nach. Betretene Stille breitete sich aus. In Gedanken verfluchte Sean seinen Freund. Lino ließ schweigend die beiden Männer zu Ende essen. Als er den Tisch abräumte fragte schließlich Sean: „Kannst du uns etwas über die Insel erzählen?“

      Lino freute sich über das Interesse und fand zu seiner vorherigen guten Laune zurück.

      „Bevor die Portugiesen die Azoren Anfang des 15. Jahrhunderts in Besitz nahmen, waren die Inseln unbewohnt. Es kamen auch Flamen aus den Niederlanden her, daher gibt es an vielen Orten Windmühlen und auf unserer Insel heißt sogar ein Ort Flamengos.“

      „Oh, Windmühlen kennen wir von Amsterdam! Da müssen wir unbedingt hin, Arthur!“ Sean konnte gar nicht glauben, dass so weit weg von Europa Windmühlen stehen sollten.

      „Ja, die sind lustig anzuschauen. Es kamen immer mehr Siedler hierher und 1493 machte sogar Christoph Kolumbus auf dem Rückweg seiner ersten Atlantiküberquerung hier Halt. Später wurden die Azoren zum Ausgangspunkt für die europäischen Entdeckungsreisen nach Neufundland“, erzählte Lino.

      Sean wunderte sich, warum Lino so gut über die Geschichte der Inselgruppe Bescheid wusste. Bevor er fragen konnte, hörte er Arthur:

      „Neufundland? Da wollen wir auch hin, oder Sean?“ Arthur hatte die Reiseroute nicht so genau im Kopf wie Sean. Dieser nickte.

      „Oh, da habt ihr noch eine weite Reise vor euch.“

      Wieder nickte Sean. Er hatte sich mit Wilhelm die Karten angeschaut und wusste, dass sie noch nicht einmal die Hälfte bis dahin geschafft hatten. Er schob diesen Gedanken beiseite und fragte: „Wann sind deine Vorfahren hierhergekommen, Lino?“

      „Mein Vater meinte, unsere Ahnen wären vor 150 Jahren aus Portugal ausgewandert.“

      „Interessant. Lebt dein Vater noch?“, wollte Arthur wissen.

      „Nein. Er ist beim letzten Vulkanausbruch ums Leben gekommen.“

      „Das tut mir leid. Das muss schrecklich gewesen sein“, sagte Arthur unbehaglich. Er wollte eigentlich noch nach Linos Frau fragen, ließ es aber lieber bleiben.

      „Ja, 1672 war ein schlimmes Jahr.“

      Lino schaute traurig in die Ferne, erzählte aber nicht weiter. Betretene Stille erfüllte den Raum.

      „Ähm, was ist das für eine Ruine am Meer?“

      Sean wollte die Stimmung wieder aufheitern.

      „Das ist die verfallene Festung Santa Cruz. Sie wurde Ende des 16. Jahrhunderts zum Schutz der Stadt vor Piratenüberfällen erbaut.“ Lino war Sean aufgrund des Themawechsels sehr dankbar.

      „Also gab es hier tatsächlich auch Piraten! Diese Plage ist wohl überall.“ Arthur mochte Menschen nicht, die anderen etwas wegnahmen.

      „Ja, es war wirklich nicht einfach damals. Vor den Inseln ereigneten sich viele Seeschlachten und einige Schiffe sind gesunken. Aber die Überfälle haben zum Glück wieder nachgelassen.“

      „Lino?“

      „Ja, Sean?“

      „Warum kennst du dich so gut mit Geschichte aus?“

      Lino lachte. „Das habe ich alles von meinem Vater gelernt. Er war nicht nur ein guter Fischer, sondern interessierte sich für zahlreiche Themen, vor allem die Entdeckung und Besiedlung der Azoren. Er hat alles zu diesem Thema gesammelt, was er finden konnte“, entgegnete Lino stolz.

      Sean nickte anerkennend.

      Die drei Männer unterhielten sich noch eine Weile nett miteinander und bemerkten gar nicht, wie spät es geworden war.

      „Also ich gehe jetzt schlafen. Wir müssen morgen wieder arbeiten und die Vorräte auffüllen.“ Gähnend erhob sich Sean von seinem Stuhl.

      „Ich komme mit. Gute