Claudia Mathis

Geschichten des Windes


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der Suppe.

      „Wie geht es dir eigentlich?“

      Piet lächelte. „Es tut zwar noch höllisch weh, aber es wird besser. Ich kann mir immer noch nicht erklären, wie das eigentlich passiert ist. Wegen meiner Unvorsichtigkeit kriegt die ganze Mannschaft nichts Ordentliches zu essen.“ Piet schüttelte resigniert den Kopf.

      „Daran bist nicht nur du Schuld. Wir haben einfach nicht mehr viele Lebensmittel. Da könntest selbst du nichts Gescheites mehr zubereiten“, entgegnete Sean.

      „Da hast du Recht. Wenn wir nicht bald Land sehen, sieht es trübe aus.“

      Wie auf Stichwort hörten sie plötzlich laut jemanden rufen:

      „Land in Sicht! Land in Sicht!“

      Sean hielt kurz inne, dann sprintete er an Deck und vergaß dabei ganz den armen Piet, der sich unbeholfen aus seiner Koje schälte. Sean rannte keuchend zur Reling. Und tatsächlich! Ganz hinten am Horizont konnte er etwas Schwarzes erkennen und er bildete sich ein, dass es größer wurde. Sein Herz machte einen Sprung. Sean musste unbedingt Arthur Bescheid sagen!

      Siebzehn

      - 1697 -

      Keine fünf Minuten später hatten sich ohne Ausnahme alle 91 Seemänner an Deck der Zeeland versammelt. Piet wurde von einem Matrosen gestützt. Gespannte, erwartungsvolle Blicke wechselten immer wieder zwischen dem größer werdenden Land am Horizont und dem Kapitän. Dieser stand auf der Brücke und schaute erhaben auf seine Männer herab. Immer wieder ging seine Hand zum Bart und zwirbelte ihn hingebungsvoll. Als Wilhelm zum Sprechen ansetzte, verstummte die Menge ehrfurchtsvoll.

      „Meine Lieben!“, eröffnete der Kapitän seine Rede mit lauter, klarer Stimme. „Ich bin sehr stolz, euch verkünden zu dürfen, dass wir die erste große Etappe unseres Abenteuers überstanden haben.“

      Die Männer klatschten begeistert Beifall, der eine oder andere grölte oder pfiff dazu. Wilhelms Augen strahlten. Theatralisch streckte er beide Arme zur Seite und blickte auf seine Leute.

      „Es war eine schwierige und teilweise qualvolle Reise für uns, die für manche große Opfer forderte.“

      Unwillkürlich wanderte sein Blick zu Piet und dann zu Sean. Auch einige Matrosen drehten ihren Kopf zu den beiden. Sean wurde rot und schaute automatisch zu Boden. Zum Glück sprach der Kapitän schnell weiter.

      „Ich muss mich bei jedem Einzelnen für seinen Einsatz bedanken und natürlich uns als Mannschaft im Ganzen. Wir haben Großartiges geleistet.“

      Ein neuer Beifallsschwall wollte aufwogen, doch Wilhelm verlangte durch eine Geste nach Ruhe.

      „In einigen Stunden werden wir durch die Navigationskunst meinerseits und Rauls die Inselgruppe der Azoren erreichen.“

      Er machte eine bedeutsame Pause, doch als dieses Mal kein Beifall erklang, sprach er etwas irritiert weiter.

      „Ähm… Also… Wir werden an der Insel Santa Maria vorbeisegeln, die Bernard als Erste im Ausguck gesehen hat, und auch an São Miguel, der Hauptinsel und größten Insel der Azoren. Dann lassen wir Terceira steuerbord liegen und segeln zwischen São Jorge und Pico hindurch. Erst dann werden wir in Horta, dem Hauptort der Insel Faial, vor Anker gehen. Dort befindet sich der Hauptanlaufpunkt für Atlantiküberquerer auf den Azoren. Ihr müsst euch also noch etwas gedulden, bis ihr euren Fuß wieder auf Land setzen könnt. Auf Faial werden wir eine Woche unsere Lebensmittel- und Wasservorräte auffüllen, alles Nötige ausbessern sowie uns selbst ausruhen und für die Weiterfahrt vorbereiten. Ich wünsche uns allen eine großartige Zeit und frohes Schaffen auf dieser Insel.“

      Damit verließ Wilhelm mit einer Verbeugung die Brücke. Die Seeleute klatschten nochmals, redeten dann aufgeregt miteinander und gingen langsam wieder ihrer Arbeit nach.

      Sean spürte ein erhabenes, einzigartiges Gefühl, als sie an den Inseln vorbeisegelten. Gnädiger, lauwarmer Wind trieb sie vorwärts. Noch nie hatte eine Küste so großen Eindruck auf ihn gemacht wie jetzt. Die Inseln waren größtenteils durch sanfte, grüne Hügel geprägt, konnten aber auch einige hohe Berge aufweisen. Sean musste seine Vorfreude im Zaum halten, selbst auf Erkundungstour gehen zu können und freute sich, dass sie eine ganze Woche hier verbringen würden.

      Es wurde Abend, bis die Zeeland endlich die Insel Faial erreichte. Sean und seine Mitmatrosen standen am Bug des Schiffes und erfreuten sich an dem Anblick, der sich ihnen bot. Die grüne Insel mit den sanften Hügeln und dem Berg in der Mitte strahlte eine besondere Anziehung aus. Endlich Land! Dieser Gedanke drängte sich in allen Gehirnen in den Vordergrund.

      Das Schiff fuhr durch das Hafentor von Porto Pim in die nahezu kreisrunde Hafenbucht der Inselhauptstadt Horta. Es legte an, die Ankerkette wurde ins Meer versenkt und die Vorder- und Achterleinen am Pier vertäut.

      Sie waren angekommen.

      Beim Einfahren registrierte Sean etliche Schiffe verschiedenster Bauart, auf denen reges Treiben herrschte. Die Mannschaft der Zeeland hatte für diesen Abend frei bekommen und sollte erst am nächsten Morgen zur Einteilung der Arbeiten für die nächste Woche wieder an Bord kommen. Einige blieben auf dem Schiff, um weiterhin in ihrer Koje zu schlafen.

      „Komm, wir suchen uns eine Herberge“, forderte Sean seinen Freund auf.

      Arthur nickte.

      „Gute Idee. Ich bin hundemüde, und Hunger habe ich auch.“

      Die beiden holten ihre Habseligkeiten und gingen von Bord. Sie mussten vom fast letzten Ankerplatz aus die befestigte Kaimauer entlang in den Ort laufen.

      „Schau mal, die Steine der Häuser sind ja schwarz! Alle Steine sind hier schwarz! Das sieht irgendwie eigenartig aus“, bemerkte Sean.

      „Aber mit den bunten Tür- und Fensterrahmen sieht es eigentlich ganz schön aus, finde ich“, erwiderte Arthur.

      „Gewöhnungsbedürftig.“

      Sie gingen weiter durch den Ort und suchten nach Hinweisen auf eine Unterkunft.

      „Hier kann man übernachten!“, rief Arthur erfreut. Er stürmte in das schwarze Haus mit dem Schild in Form eines Bettes über dem roten Türrahmen und fragte nach einer Unterkunft. Sean wartete draußen mit ihren Säcken. Nach zwei Minuten schon kam sein Freund wieder heraus, allerdings mit enttäuschtem Gesicht.

      „Leider schon voll.“

      „Macht nichts, gehen wir weiter.“

      Nach einer Stunde hatten sie ein Dutzend Herbergen gefunden, die alle ausgebucht waren.

      „Die ganzen Seeleute von den Schiffen müssen ja irgendwo schlafen. Wir sind zu spät! Was machen wir denn jetzt? Ich will nicht auf dem Schiff schlafen“, jammerte Arthur.

      Sie liefen weiter in Richtung nordwestlichem Ortsrand. Die Häuser wurden immer ärmlicher und die Hoffnung der erschöpften Männer immer kleiner. Ganz hinten beim letzten Haus blieben sie verzweifelt stehen, um zu überlegen, was sie nun machen sollten.

      „He, braucht ihr ein Bett?“

      Erschrocken suchten die Freunde die Quelle dieser Stimme. Vor dem letzten Haus, was eher eine Hütte war, saß ein älterer Mann in seinem winzigen Gemüsegarten und schaute sie erwartungsvoll an. Sean schluckte seine Überraschung hinunter und rief: „Ja, wir brauchen ein Bett.“

      „Dann kommt her!“

      Der Mann konnte ganz gut Englisch, mit einem ähnlichen Akzent wie Aderito. Sean nickte Arthur zu und sie liefen zu dem Mann hinüber. Er hatte kurzes, schwarzgraues, strubbeliges Haar und ein faltiges Gesicht. Die Statur des Mannes war gebeugt, er wirkte wie ein Mensch, der vom Leben gezeichnet war. Aber als Sean seine tiefen, braunen Augen betrachtete, erkannte er etwas Verschmitztes, Fröhliches in ihnen. Der Mann wirkte dadurch ungewöhnlich agil.

      „Ich bin Lino.“

      Er reichte ihnen seine sehnige Hand und überraschte die beiden mit einem kräftigen Händedruck. Lino deutete mit einer