mich darauf zu konzentrieren, da ich Skylers Ungeduld in den Augen las. Allmählich ließ der Kopfdruck nach. Die Übelkeit blieb. Ich fühlte mich soweit wiederhergestellt, dass ich mich erheben konnte, ohne wie eine Betrunkene zu torkeln.
„Wollen wir?“, fragte ich ihn und erhielt ein Kopfschütteln zur Antwort. „Frauen.“
Da Mattwill bei seinem Eintreffen nicht davon sprach, wo Koray zu finden sei, sandte ich meine Sinne nach ihm aus. Ich spürte eine Mischung aus Chaos und Resignation. Schließlich lieferte uns die Ansammlung neugieriger Gaffer den Fundort.
„Zurück! Tretet zurück, verdammt! Lasst die Heilerinnen ihre Arbeit verrichten!“, fuhr Skyler die Schaulustigen an, die gerade soweit zurückwichen, dass wir uns zu dem am Boden liegenden hindurchzwängen konnten. Aber wir trafen zu spät ein. Jodee kniete neben Koray, der mit verrenkten Gliedern in einer Blutlache lag, sein Körper von zahlreichen Messerstichen durchbohrt.
„Wer tut so etwas?“, stammelte ich.
Skyler warf mir einen scharfen Blick zu, der mich zu Besonnenheit mahnen sollte. In einer schlichten Geste fuhr er über Korays starre Augen, um die Lider zu schließen.
„Ungeheuerlich, wenn man sich nicht mehr auf die Straße wagen kann!“
„… am helllichten Tag!“
„Wo soll das noch hinführen?“
Die Menge geriet in Aufruhr, bis Skylers donnernde Stimme sie übertönte.
„Hat jemand gesehen, wer das getan hat?“ Er sah in die Runde. Verhaltenes Murmeln, doch wusste niemand etwas. „Keiner von euch will etwas gesehen haben, am helllichten Tag? Dann seid ihr sicher alle zur Hilfe geeilt, um dem Sterbenden beizustehen?“ Betretenes Schweigen und ausweichende Blicke.
„Ich kam gerade aus meinem Haus, als ich Koray aus einem Seitenweg taumeln sah“, meldete sich Mattwill betroffen zu Wort. „Ich habe zwar ein paar dunkelgekleidete Gestalten in unterschiedliche Richtungen davonrennen sehen, aber ich könnte nicht beschwören, dass sie was damit zu tun hatten.“
Jodee richtete sich resigniert auf. Stattdessen kniete ich mich widerwillig zu der Leiche nieder.
„Nein! Berühr ihn nicht!“ Energisch hielt Skyler mich zurück.
„Keine Angst, das werde ich nicht.“
Ich schloss die Augen, fuhr mit meinen Händen über Korays sterbliche Hülle, ohne ihn anzufassen. Befangen spürte ich die entweichende Wärme seines leblosen Körpers. Konzentriert lauschte ich auf die schwindenden Botschaften, die wie das rasche Flattern zahlreicher Flügelschläge zu mir drangen, begleitet von einem penetranten Summen in einer Frequenz, dass ich glaubte, mir platze das Trommelfell.
„Strafe … Verräter … aber ich habe doch nichts … dafür bezahlen.“Ich schnappte nur Wortfetzen auf. Als sie endeten, fühlte ich mich so erschöpft, als hätte ich einen Lauf von einem Ende zum anderen der Stadt hinter mich gebracht. Langsam begann sich mein Blick zu klären. Erwartungsvoll half mir Skyler wieder auf die Beine. Die Menge wich widerwillig zurück, eine Gasse bildend, durch die wir Korays Leiche fortschaffen konnten. „Sollte sich doch noch jemand erinnern, egal an was, bitte ich dies dem Rat oder mir mitzuteilen!“ Skyler gab noch einige Anweisungen, woraufhin sich ein paar der Männer rasch entfernten, um kurz darauf mit Harken und Reisigbesen zurückzukehren. Sie bearbeiteten den vom Blut dunkel gefärbten Lehmboden, bis nichts mehr auf die schändliche Tat hindeutete. Dann winkte er Mattwill zu sich, raunte ihm etwas ins Ohr. Er nickte und eilte davon. Allmählich begann sich die Menge aufzulösen. Das Schauspiel war zu Ende. „Ich konnte nichts für ihn tun, Skyler.“ Nervös legte Jodee sich ihre sorgsam geflochtenen Zöpfe wie einen Schal um den Hals. „Ich weiß, du hast dein Bestes gegeben. Lasst uns gehen.“ Schweigend begaben wir uns auf den Heimweg. Der Schrecken saß tief. „Was hast du gehört?“, fragte Skyler mich, kaum dass wir unser Haus betraten. Ich schilderte ihm die wenigen Worte, aus meiner Vision. „Konntest du in Erfahrung bringen, wer gesprochen hat?“ „Drei unterschiedliche Stimmen, wobei ich eine Koray selbst zuordnen würde. Sicher bin ich mir nicht. Ich habe so etwas noch nie vorher getan, Skyler. Den Geist eines Verstorbenen befragt.“ Mir sträubten sich noch jetzt die Nackenhaare, wenn ich nur daran dachte. Bei den Javeérs lernte ich diese Fähigkeit, doch niemand bereitete mich darauf vor, wie es sein würde, die Stimme eines Toten zu hören. Ich wusste nur, dass es innerhalb weniger Minuten geschehen musste, bevor die Informationen für immer verloren gingen. Dennoch empfand ich es als großes Unrecht, dies zu tun. „Und was hast du in ihm lesen können, Jodee?“ Es war das erste Mal, dass Skyler Jodee in ihrer Funktion als Seherin in meiner Gegenwart befragte und nicht als Heilerin. Unwillkürlich sah ich zu dem tätowierten Auge auf ihrem Oberarm. Und als hätte Skylers Frage einen Hebel umgelegt, warf sie ihren Kopf in den Nacken. Die langen Rastalocken flogen klackend nach hinten. Die Augäpfel rollten nach oben, bis praktisch nur noch das Weiße darin zu sehen war. „Ich habe dich gewarnt“, sprach sie mit einer Stimme, die nicht die ihre war. Tief und bedrohlich, wie die eines Mannes, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Es mutete erschreckend an, die Worte aus ihrem Mund fließen zu hören, als bediene sich jemand anderes ihres Körpers. „Wer sich gegen mich stellt, stirbt.“ „Sagt wer?“, wandte Skyler sich an die Geisterstimme aus Jodees Mund. Ihr Kopf ruckte mit einem unangenehmen Knacken in seine Richtung. Ein boshaftes Lachen erklang, dann floss der Haarschopf wieder ihren Rücken hinab. „Finde es selbst heraus – wenn du noch lange genug lebst.“ Scheppernd stolperte ich gegen einen Stuhl. Jodee erwachte daraufhin aus ihrer Trance, massierte sich den Nacken, als sei er verspannt. Skyler wirkte ungehalten, da mein Missgeschick den gruseligen Wortwechsel vorzeitig beendete. „Wessen Stimme haben wir soeben gehört? Und wie hast du das angestellt, Jodee?“, sprudelte es aus mir hervor. Sie sah kurz zu Skyler auf, als müsse sie sich erst seine Erlaubnis holen. Er nickte kaum merklich und in dem Moment wurde ich gewahr, wie wenig ich von den beiden wusste. Von Jodee, meiner einzigen Freundin und Skyler, meinem Mann. Ich fühlte mich plötzlich ausgeschlossen. Angriffslustig reckte ich das Kinn nach vorn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Jodee, ich höre!“, forderte ich sie auf. „Nun, ähnlich wie du, vermag ich es, Dinge zu sehen. Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit.“ Sie fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die vollen Lippen. „Ich weiß nicht, woher ich diese Gabe besitze.“ Versonnen strich sie über ihr Tattoo, ein Auge, dass sie als Seherin auswies. „Mein Zugesprochener erkannte dieses Potential in mir. Und später war es Skyler. Niemand außer euch weiß davon.“ „Und so soll es auch bleiben.“ Er sah mich eindringlich an. „Wie du am eigenen Leibe erfahren hast, Avery, bedeuten solche Gaben oftmals einen Fluch für den, der sie besitzt. Wie der tragische Vorfall mit Koray zeigt, schrecken unsere Widersacher vor nichts zurück, um nach der Macht zu greifen.“ Wie ein Heerführer schritt er durchs Zimmer, verharrte einen Moment vor dem Fenster, als suche er die Antworten in der Ferne. Mit undurchdringlicher Miene wandte er sich wieder um. „Koray wird nicht das letzte Opfer im Kampf um die Herrschaft Kandalars bleiben. Vielen ist es ein Dorn im Auge, dass ich mich um das Amt des Eschs bewerbe. In den Augen der Stadtväter bin ich bloß ein Emporkömmling, ein Wilder, nicht würdig ein Land zu regieren. Bestenfalls gut genug, ihnen Pöbel und Unruhestifter vom Leib zu halten.“ Er trat energisch aus dem Schatten hervor. „Euch hingegen wissen sie nicht einzuschätzen, kennen euch nur als Heilerinnen und“, sein durchdringender Blick ruhte auf mir, „die Sage von dem Mädchen mit dem Flammenhaar scheint ihren Mythos verloren zu haben, jetzt, wo es die Herren von Kandalar nicht mehr gibt.“ Zärtlich strich er mir über die Wange. „Die Menschen vergessen schnell, wem sie ihr Leben verdanken, wenn es ihnen wieder besser geht. Nutzen wir also diesen Vorsprung, bevor sie beginnen, ihr Gehirn wieder einzusetzen. Sei also meinetwegen Heilerin, wenn du willst, Avery.“ Seine Kiefer mahlten aufeinander. „Ich interpretiere die letzten Gedanken, die ihr aus Korays schwindendem Geist eingefangen habt dahingehend, dass er getötet wurde, weil er sich auf meine Seite schlug. Da er aus Faronbendras stammte, könnte es sein, dass der oder die Auftragsmörder ebenfalls von dort kamen.“ „Was ist mit deinem Rivalen Woodrow oder jedem anderen aus den zehn wahlberechtigten Stadtbezirken Kandalars?“, gab ich zu bedenken. „Dann müssen wir Gullorway ebenfalls in Betracht ziehen.“ Spöttisch schnellte eine Augenbraue in die Höhe. Ich zuckte mit den Schultern. „Gut. Sehen wir zu, dass wir Koray wenigstens ein angemessenes Begräbnis verschaffen.“
Das