Gesichtszüge und dickes dunkelblondes Haar, das mich an Schafwolle erinnerte und faszinierenderweise an einer etwa walnussgroßen Stelle an seinem Hinterkopf in einem helleren Blondton wuchs. Am Anfang nahm ich noch gar nicht richtig wahr, wie gut Philipp Hansen aussah. Für mich war er nicht mehr als mein Chef und seine sicher einige Jahre ältere Frau, die in Teilzeit in dem Geschäft mitarbeitete, meine Chefin. Das feuerrot gefärbte, kurze Haar von Regina Hansen wirkte stets gewollt zerzaust, und oft trug sie um den Kopf ein buntes Haarband, vermutlich immer dann, wenn es an der Zeit gewesen wäre, den Ansatz nachzufärben. Noch mehr als das Haar leuchtete ihr roter Lippenstift, und auch der Rest ihres Gesichts war für meinen Geschmack etwas zu grell geschminkt.
In der ersten Zeit dachte ich wenig über Philipp und Regina Hansen nach. Ich war einfach überglücklich über die Möglichkeit, praktische Berufserfahrung zu sammeln, auch wenn meine Arbeit anfangs nur aus recht eintöniger Bürotätigkeit bestand, und viel zu sehr damit beschäftigt, all die neuen Informationen und Eindrücke, mit denen ich täglich konfrontiert war, zu verarbeiten. Hin und wieder hörte ich unter den Mitarbeitern geflüsterten Klatsch über das Ehepaar Hansen, das sich demnächst scheiden lassen werde, wenn es so weitergehe. Ich tat das als dummes Gerede ab und vermutete als Grund schlicht Neid.
Eingearbeitet wurde ich von der grauhaarigen, korpulenten Hannelore Blech, die als Auszubildende im Küchenstudio Hansen angefangen hatte und nun schon ihrem fünfunddreißigjährigen Dienstjubiläum entgegensah, wie sie mir gleich an meinem ersten Tag berichtete. Die Kleidung von Hannelore Blech – meistens Rock, Bluse und gegebenenfalls eine Strickweste – schien ihr immer mindestens eine Größe zu klein zu sein. Die Brille, die sie den ganzen Tag über trug, war zusätzlich durch eine an den Bügeln befestigte goldfarbene Kette um ihren Hals gesichert. Ihr sei bereits einmal eine Brille heruntergefallen und kaputtgegangen, und dies sei eine sehr schlimme Erfahrung gewesen, vertraute mir Hannelore Blech an. Ich konnte mir weitaus schlimmere Erfahrungen vorstellen und fand die Angst um die gewöhnlich aussehende Brille etwas übertrieben, behielt meine Meinung aber für mich. Abgesehen von dieser Marotte war Hannelore Blech eine sehr nette, ausgeglichene Frau und beantwortete all meine Fragen, auch wenn ich diese manchmal selbst für dämlich hielt, stets geduldig.
Hannelore Blech hielt anscheinend sehr viel von Philipp Hansen. Jedenfalls lobte sie ihn wiederholt in den höchsten Tönen und verglich ihn mit seinem netten, kompetenten und fleißigen Vater, den ich nicht kannte. Von ihrer Chefin hatte meine Kollegin wohl keine so hohe Meinung. Sie erwähnte sie kaum, hütete sich aber ebenfalls davor, schlecht über sie zu sprechen. Außerdem war mir aufgefallen, dass Hannelore Blech sich nicht am Büroklatsch beteiligte, was ich sehr sympathisch fand.
Ich war seit einigen Monaten im Küchenstudio beschäftigt, als sich mein bisher eher unauffälliger Eindruck vom Ehepaar Hansen schlagartig änderte. Hannelore Blech hatte mich gebeten, ausnahmsweise etwas länger zu bleiben, da sie an diesem Tag mehrere komplizierte Rechnungen zu schreiben hatte und mir an diversen Fallbeispielen einige Besonderheiten erklären wollte. Es war bereits kurz nach 18:00 Uhr, und wir saßen beide schon seit Stunden im fast dunklen Büro, das nur vom Schein einer Schreibtischlampe erhellt wurde, konzentriert über Angebotsunterlagen, während Hannelore Blech auf deren Grundlage nach und nach die Rechnungen auf einer elektrischen Schreibmaschine schrieb und mich dabei darauf hinwies, was dabei alles zu beachten sei. Der Raum befand sich, wie die anderen Büros, die Teeküche, ein Pausenraum und die Toiletten für die Mitarbeiter, im zweiten Stock des Gebäudes, während im Erdgeschoss und im ersten Stock die Küchen ausgestellt wurden. Die Kollegin aus der Verwaltung war bereits gegen 17:00 Uhr nach Hause gegangen, die firmeneigenen Handwerker schon um 16:00 Uhr, soweit Kücheneinbauten keine Überstunden erforderten, und auch die Küchenplaner machten sich nun auf den Heimweg. Philipp Hansen hatte sich am frühen Nachmittag mit den Worten verabschiedet, noch einen längeren Kundentermin wahrnehmen zu wollen und anschließend nicht ins Büro zurückzukehren. Seine Frau war an diesem Tag nicht im Geschäft gewesen. Manchmal blieb sie zu Hause, wenn eines der beiden Kinder krank war. Oder wenn es zwischen ihr und ihrem Mann „ordentlich gekracht“ hatte, wie unter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde. Hannelore Blech und ich waren an diesem Winterabend allein im Gebäude, was mir unheimlich gewesen wäre, hätte ich Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Stattdessen versuchte ich mit mittlerweile verkrampften Fingern, auf einem Block alles mitzuschreiben, was die ältere Kollegin mir erzählte, doch langsam nahm meine Konzentration ab, und ich wünschte mir einen baldigen Feierabend.
Plötzlich hörten wir Schritte die Treppe zum zweiten Stock hinaufeilen und hielten in unserer Beschäftigung inne. Hannelore Blech legte den Zeigefinger ihrer rechten Hand an ihre Lippen, erhob sich und wollte auf die hinter einer Schranktür verborgene Garderobe zugehen – vermutlich, um den Schlüssel für die Bürotür aus ihrer dort aufbewahrten Handtasche zu nehmen und die Tür von innen abzuschließen -, als die Tür bereits aufgerissen wurde. Im Türrahmen stand Regina Hansen in einem dunkelgrünen Wintermantel, der einen schönen Kontrast zu ihren roten Haaren und ihrem rot geschminkten Mund bildete. Ohne ein Wort zu sagen, betätigte sie den Lichtschalter, und die Neonröhren an der Decke des Büros flackerten auf und tauchten den Raum in ein grelles Licht. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie dunkel es vorher gewesen war. Und dass Regina Hansen anscheinend vor Wut kochte. „Wo ist mein Mann?“, fragte sie unfreundlich.
Hannelore Blech, die sich wieder auf ihren Schreibtischstuhl setzte, und ich sahen uns etwas ratlos an. Ich hielt es für besser, sie als die Ältere reden zu lassen, doch als ich merkte, dass sie kein Wort herausbrachte, erwiderte ich schließlich: „Herr Hansen ist schon vor ein paar Stunden zu einem Kundentermin aufgebrochen.“
„So so.“ Regina Hansen lachte bitter. „Diese Kundentermine kenne ich.“ Böse fügte sie hinzu: „Dieser verlogene Mistkerl.“ Sie zeigte auf Hannelore Blech. „Los!“, befahl sie. „Sie haben doch einen Zweitschlüssel für das Büro meines Mannes. Und wagen Sie nicht zu behaupten, Sie hätten den Schlüssel nicht. Ihnen vertraut er ja anscheinend weit mehr als mir.“
Hannelore Blech, die es offenbar für besser hielt, nichts darauf zu erwidern, erhob sich etwas schwerfällig und ging zur Garderobe. Sie nahm ein Schlüsselbund aus ihrer Handtasche.
„Her damit!“, forderte Regina Hansen, riss Hannelore Blech die Schlüssel aus der Hand und marschierte zurück in den Flur. Ich stand nun ebenfalls auf und sah neben Hannelore Blech stehend zu, wie Regina Hansen die Tür zum Büro ihres Mannes aufschloss, das Deckenlicht einschaltete und in dem Raum verschwand.
„Frau Blech!“, hörten wir sie kurz darauf schreien. „Frau Blech, kommen Sie her!“
Meine Kollegin kam der Bitte, oder vielmehr dem Befehl, nach, und da sie mir nicht untersagt hatte, ihr zu folgen, tat ich es. Ich blieb unauffällig in der Tür des Büros von Philipp Hansen stehen. Es war ein schönes Zimmer mit einer großen Fensterfront, einem massiv wirkenden dunklen Holzschreibtisch, einem edlen Lederschreibtischstuhl, einem Aktenschrank in der Farbe des Schreibtischs, mehreren großen Grünpflanzen und einer gemütlichen Ledersitzgruppe um einen niedrigen Tisch mit Marmorplatte für Gespräche mit wichtigen Kunden. Mein Vorstellungsgespräch hatte dort ebenfalls stattgefunden.
Regina Hansen stand über den Schreibtisch gebeugt und hielt ein aufgeschlagenes Notizbuch in der Hand. Sie drehte sich zu Hannelore Blech um, als diese etwas zaghaft den Raum betrat. „Kommen Sie her!“, forderte Regina Hansen und hielt Hannelore Blech das Buch hin. „Hier! Lesen Sie vor, was da auf der Seite mit dem heutigen Datum steht!“
Meine Kollegin nahm das Notizbuch entgegen. Es sah so aus, als zitterten ihre Hände leicht. Hatte sie etwa Angst vor Regina Hansen? Diese wirkte mit ihren vor Zorn zusammengezogenen Augenbrauen tatsächlich etwas furchteinflößend. „Vorlesen, habe ich gesagt!“, kommandierte sie.
„Also da steht: ‚15:00 Uhr Rabenweide 12‘ ... und eine Telefonnummer“, antwortete Hannelore Blech brav. „... Soll ich die auch vorlesen?“
Ohne darauf zu antworten, nahm Regina Hansen den Hörer des auf dem Schreibtisch befindlichen weinroten Telefons ab und hielt ihn Hannelore Blech entgegen. „Anrufen.“
Meine Kollegin zögerte. Dabei war es doch nicht misszuverstehen, was Regina Hansen von ihr wollte.
„Anrufen, habe ich gesagt!“,