Marie Wendland

Rapsblütenherz


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las sie die Nachricht von Evi, dann holte sie ihr Notizbuch und begann noch ziemlich schwach, aber entschlossen zu schreiben.

      Projekt: Neuanfang

      Sie musste an die pastellfarbenen Romane auf ihrem Nachtisch denken und an die gehässigen Gedanken, die sie diesbezüglich gehabt hatte. Ein Neuanfang ist was für Loser… Ja, vielleicht war sie wirklich einer, aber es war ihr egal. Sie konnte einfach nicht anders! Die Aussicht auf etwas Neues machte das Gefühl des Versagens zudem erträglicher.

      Als es an der Tür klingelte, war sie so ins Schreiben vertieft, dass sie es gar nicht wahrnahm. Erst beim dritten Klingeln erhob sie sich widerwillig, um den Türöffner zu betätigen. Okes schwere Schritte polterten das Treppenhaus hoch. „Alles ok, Hanna? Mensch, ich dachte schon, du wärst umgekippt!“

      „Ne, alles gut! Mir geht’s besser“, erklärte Johanna und ließ ihn herein. Sie hatten sich noch nicht mal gesetzt, da platzte sie heraus: „Ich hab‘ mich von Moritz getrennt und…ich werde kündigen.“ Oke musterte sie kritisch, dann lächelte er.

      „Endlich! Es war echt ätzend, dich so unglücklich zu sehen!“

      „Ich war nicht…“ begann Johanna, verstummte dann aber. Sie war tatsächlich unglücklich und hatte es nicht mal gemerkt. Oder hatte sie es nur nicht wahrhaben wollen?

      Sie plauderten eine Weile, dann meinte Johanna zögerlich: „Ich muss dir noch was sagen… Ich werde auch eine Weile weggehen.“ Sie hatte ihren (ehrlich gesagt noch sehr rudimentären) Plan noch nicht ganz erklärt, als Linea nach Hause kam. Also fing sie noch einmal von vorne an und beide hörten ihr mit großen Augen zu.

      „Das wird bestimmt gut!“ Oke zog sie in seine Arme und zerquetschte sie fast.

      Linea zögerte etwas länger, dann nickte auch sie: „Wenn du das machen willst, ist es das Richtige. Auch wenn ich dich fürchterlich vermisse werde!“

      „Ich dich doch auch! Und die Miete zahle ich natürlich erstmal noch weiter, ich hab‘ ein bisschen Geld gespart.“

      „Ach, da findet sich schon eine Lösung.“ Linea grinste schief und blinzelte die Tränen weg. „Komm‘ her, Süße!“

      Die beiden Frauen umarmten sich weinend, bis Oke diskret hüstelte: „Jetzt beruhigt euch, noch ist Hanna ja nicht weg!“

      Sie lachten und Johanna war trotz des beginnenden Abschiedsschmerzes erleichtert, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte. Jetzt musste sie es nur noch ihren Eltern sagen. Da Linea, die beste Freundin auf dieser Welt, ihr verbot, mit der U-Bahn zu fahren, rief Johanna ihre Mutter an, damit diese sie für den Abend abholte. Während sie wartete, überprüfte sie noch einmal die Liste, die sie zuvor geschrieben hatte:

       Mit Moritz Schluss machen – Erledigt!

       Linea und Oke informieren – Erledigt!

       Mama und Papa informieren

       Kündigen!

       Nachmieter für WG-Zimmer suchen

       Koffer kaufen

       Zeug verkaufen/einlagern

       Verbindung nach Augraben recherchieren

       Evi schreiben

      Zufrieden mit ihrer Vorbereitung klappte Johanna ihr Notizbuch zu. Eine Menge Arbeit lag vor ihr, aber auch wenn sie sich eben noch schlapp gefühlt hatte, sprühte sie jetzt vor Tatendrang. Bestimmt hatte sie auch noch einige Punkte vergessen (zum Beispiel so entscheidende wie „Wo genau werde ich wohnen?“ oder „Muss ich mich arbeitslos melden?“), aber sie wusste einfach, dass sie es schaffen würde.

      * * *

      „Und wie lange gedenkst du auf diesem Bauernhof zu bleiben?“ Man sah, wie es hinter Jens Herzogs Schläfen arbeitete. Johanna trank einen Schluck Wasser, um ihre Antwort hinauszögern.

      „Ein Freiwilliges Soziales Jahr oder so ist ja immer ein Jahr“, warf ihr Bruder da geistreich ein. Johanna aber nickte dankbar und murmelte, dass das durchaus vergleichbar wäre. Insgeheim wollte sie sich aber gar nicht festlegen, wollte zum ersten Mal in ihrem Leben keinen festen Plan haben. Das würde sich schon ergeben! Woher sie diese Gewissheit nahm, wusste sie selbst nicht.

      „Vielleicht ist ein bisschen Erholung gar nicht schlecht nach der ganzen Studiererei und dem anstrengenden Job“, meinte ihre Mutter und strich Johanna über die Schulter. „Wie dünn du geworden bist!“

      „Von Erholung kann sie sich aber nichts kaufen, Jutta“, widersprach ihr Vater. „Ich bin nicht sicher, was zukünftige Arbeitgeber zu einem Jahr Bauernhof sagen werden.“ Seine Tonlage verriet jedoch, dass er sich durchaus sicher war, dass niemand etwas Positives daran finden würde. Johanna waren ihre noch nebulösen, kommenden Arbeitgeber gerade herzlich egal, trotzdem hatte sie eine Argumentation vorbereitet, die sogar gar nicht so weit hergeholt war:

      „Sabbaticals werden immer verbreiteter und viele Arbeitgeber schätzen es inzwischen, wenn man auch mal über den Tellerrand guckt. Außerdem ist so ein Gestüt auch ein komplexer Betrieb, da kann ich meine Kenntnisse aus der Unternehmensberatung bestimmt einbringen.“ Das Wort „Gestüt“ betonte sie dabei absichtlich, denn das war natürlich etwas ganz anderes als ein Bauernhof.

      Ihr Vater schien zu merken, dass er seiner Tochter die Idee nicht ausreden konnte, also überlegte er angestrengt, wie er die Sache vor sich und der Welt rechtfertigen konnte. Irgendwann nickte er grimmig und sagte: „Ja, das ist wahr. Das Gestüt kann nur von deinem Aufenthalt profitieren!“

      Letzte Male können sehr schön oder sehr schrecklich sein. Auf jeden Fall sind sie seltsam und manchmal auch alles zusammen.

      Ein letztes Mal überquerte Johanna mit der S-Bahn die Lombardsbrücke, um am Bahnhof Dammtor auszusteigen. Ein letztes Mal kaufte sie dort einen Karamell-Macchiato und ein Franzbrötchen für Nana. Kurz überlegte sie, ein zweites für Mareck mitzunehmen, konnte sich dann aber nicht dazu überwinden. Seit sie ihn so beschimpft hatte, waren sie sich nicht mehr begegnet, und sie war sicher, dass es so auch besser war.

      Nachdem sie ein letztes Mal durch die Drehtür eingetreten war, stand sie nervös auf dem Flur vor Stegmann & Partner. Wenn sie wieder herauskam, würde sie keine Mitarbeiterin mehr sein. Ihre Kündigungsfrist war kurz, der Jahresurlaub noch nicht angetastet, deswegen würde sie keinen Tag mehr arbeiten müssen. Das war ein Segen, denn sie hätte es nicht ertragen, Mareck auch nur noch eine Minute gegenüberzusitzen. Entschlossen trat sie ein und schob Nana gleichzeitig die Tüte mit dem Franzbrötchen und ihre Kündigung über den Tresen. Während diese ungläubig las, tupfte Johanna ein letztes Mal Brötchenkrümel von der glänzenden Oberfläche. Traurig sah Nana sie an, sagte aber nur: „Du machst das Richtige!“ Warum wussten das alle, nur Johanna selbst hatte es so lange nicht bemerkt?

      „Danke!“ Sie lächelte ihre Fast-nicht-mehr-Kollegin an. „Dann geh‘ ich jetzt zu Hajo.“ Ohne anzuhalten ging sie an den Schreibtischen vorbei Richtung Glaskasten. Sie registrierte nur, dass die zweite Nische auf der linken Seite leer war. Obwohl sie gehofft hatte, Mareck nicht treffen zu müssen, war sie irgendwie enttäuscht. Hajo sah sie abwartend an, als sie eintrat. Unbeholfen erklärte sie ihr Anliegen und legte dabei ihr Schreiben auf den Tisch. Hajo betrachtete die Kündigung, dann wieder Johanna, dann bleckte er die Zähne zu seinem typischen Haifisch-Lächeln. „Ich wünsche dir alles Gute. Die Schlüssel kannst du gleich hier lassen!“ Das war’s. Wie oft hatte sie sich diesen Moment in schillernden Farben ausgemalt und jetzt war das alles! Das Gefühl des Triumphs, von dem sie geträumt hatte, blieb aus.

      „Tschüss“, murmelte Johanna, der nichts Besseres einfiel, und machte sich auf den Rückweg durch den langen Gang. Dieses Mal sah sie in jede Nische, um jeden der Menschen, die ihr so ans Herz gewachsen waren, ein letztes Mal zu sehen - Merit, Dirk, Paul und all die anderen. Kein Mareck. Bei der großen Glastür drehte sie sich noch einmal um. Alle Augen waren auf sie gerichtet und sie wollte so viel sagen. Aber das ging nicht, denn Napoleon lauerte in seinem Aquarium. „Ihr seid die besten Kollegen“, erklärte sie deswegen nur