Marie Wendland

Rapsblütenherz


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einen Tee machen?“, erkundigte sich Moritz, als hätte er ihre Gedanken erraten. Johanna nickte und als er wenig später mit der dampfenden Tasse zurückkam, legte er ihr fürsorglich eine Decke um die Schultern. „Wollen wir heute irgendwas mit Liebe gucken?“, fragte er und griff zur Fernbedienung. Das war ziemlich süß von ihm, denn er hasste romantische Komödien. Überhaupt war er im Moment einfach nur lieb und verständnisvoll. Trotzdem empfand sie erstaunlich wenig, als er sie jetzt küsste. Was war nur mit ihr los?

      Leer

      Johanna starrte auf die makellos weiße Seite, auf die sie gerade ein einzelnes Wort geschrieben hatte. Das einzige Wort, das ihr einfiel. Es schwoll in ihrem Kopf an, betäubte ihre herumwirbelnden Gedanken und hinterließ nur ein dumpfes Dröhnen. Sie fühlte sich genauso wie dieses Blatt Papier. Leer. Eingezwängt zwischen neunundneunzig weiteren Seiten in einem Notizbuch. Kurz erschreckte sie diese Erkenntnis, aber dann gewann die Leere wieder die Oberhand, was nicht unangenehm war.

      Vor dem Fenster zog die Schwärze des U-Bahn-Tunnels vorbei, unterbrochen von den immer gleichen U-Bahn-Stationen. „Nächster Halt: Burgstraße“, verkündete eine mechanische Frauenstimme. Johanna griff nach ihrer Tasche, aber sie stand nicht auf. Die Wagons kamen zum Stehen und die Türen öffneten sich. Dann schlossen sie sich wieder (nervtötendes Piepen) und die U-Bahn fuhr wieder an. Johanna saß immer noch auf ihrem Sitz und wartete darauf, wieder in die Dunkelheit einzutauchen. Viele Meter über ihr wurde es wohl gerade Frühling, aber irgendetwas in ihr war noch eingefroren.

      Wahrscheinlich war es ihr Herz.

      Kapitel 6

      Krokusse

      Kleine Pfützen. Reste von Streusand. Ein bisschen Schlamm mit einem aufgeweichten Papiertaschentuch.

      Den Blick starr auf den Bürgersteig gerichtet eilte Johanna Richtung Büro. Das bewahrte sie davor, mit den hochhackigen Stiefeletten zu stolpern und den Karamell-Macchiato auf dem neuen, korallfarbenen Mantel zu verteilen. Außerdem war die Beschaffenheit des Fußwegs ein guter Indikator für das Wetter in der Großstadt. Letzte Woche war sie noch über hartnäckiges Glatteis geschlittert, jetzt lagen die Temperaturen aber schon seit einigen Tagen über dem Gefrierpunkt. Johanna wich einem Fahrradkurier aus, um einem tragischen Unfall im Straßenverkehr zu entgehen, und landete dabei in der schmutzigen Erde, die man wohl Grünstreifen nennen sollte. Sie fluchte leise, während sie sich bückte, um sich den Matsch von den Schuhen zu wischen.

      Da sah sie ihn. Zwischen zwei Gehwegplatten hatte sich ein einzelner Krokus ans Tageslicht geschoben. Es war nur ein Krokus. Ein ganz gewöhnlicher Krokus. Aber Johanna hatte ihn gesehen. Nein, sie hatte ihn nicht nur gesehen, sie hatte ihn wahrgenommen. Hatte die schmalen grünen Blätter, noch nass vom letzten Regen, die Blüte in sattem Violett und das leuchtend gelbe Innere mit den Augen aufgesogen. Wann war ihr das zum letzten Mal passiert?

      Natürlich gab es in Hamburg nicht nur diesen einen Krokus. Tatsächlich war die Stadt sogar erstaunlich grün und Johanna hatte bestimmt schon Jahre ihres Lebens in Parks und am Elbstrand verbracht. Im Laufe der letzten Monate musste sie das aber vergessen haben. Die Sonne kroch jetzt langsam über die Häuser und Johanna fühlte sich plötzlich wieder ein kleines bisschen lebendiger. Mit einem Mal war jede Straße voller Krokusse und in jedem Baum zwitscherten Vögel.

      „Guten Morgen!“ Beschwingt betrat sie wenig später das Büro und überließ Nana, ohne mit der Wimper zu zucken, ihr ganzes Franzbrötchen. Es störte sie noch nicht einmal, dass ihre Tasche vom Schreibtisch glitt und sich der gesamte Inhalt auf den Boden ergoss. Sorgfältig verstaute sie Lippenstift, Handy, Haarbürste, Taschentücher, Portemonnaie und den übrigen undefinierbaren Kleinkram wieder. Als sie zu ihrem treuen Begleiter, dem Notizbuch, griff, zog sie spontan die Visitenkarte heraus, die Evi ihr beim Springderby gegeben hatte. Johanna hatte die letzten zehn Monate gewusst, dass sie dort war, hatte sie aber nie angesehen. Warum auch?

      Lewat-Hof

      Inh. Evelyn und Justus Matthey

      Kirchweg 7

      21483 Augraben

      [email protected]

      Evelyn… Für Johanna wollte das nicht so recht zu der Frau passen, die sie so unverhofft kennen gelernt hatte. Aber was wusste sie schon? Sie hatten sich schließlich nur kurz getroffen. Sie las die Adresse noch einmal. Anhand der Postleitzahl erkannte sie, dass der Lewat-Hof nicht weit entfernt sein konnte, auch wenn ihr der Ort nichts sagte. Da es für eingefleischte Hamburger aber auch nur Hamburg, lange Zeit nichts und dann den Rest der Welt gab, war das nicht weiter verwunderlich. Auf jeden Fall klang Augraben sympathisch. Unwillkürlich musste sie an das Auenland mit seinen grünen Hügeln denken. Oder war es die Wiese aus ihrem Traum? Lächelnd schob sie die Visitenkarte wieder in ihr Notizbuch.

      * * *

      Ihre Hochstimmung hielt immer noch an, als sie sich nach Feierabend für ein Treffen mit Moritz‘ Familie fertig machte (obwohl das in der Vergangenheit selten ein Grund zu ungetrübter Freude gewesen war). Passend zum inneren sowie äußeren Frühlingsausbruch wählte sie zum ersten Mal in diesem Jahr wieder ihr Lieblingskleid in strahlendem Royalblau und freute sich, dass es viel lockerer saß als noch im letzten Herbst. Natürlich war der Kontrast zu dem korallfarbenen Mantel, den sie Moritz natürlich auch vorführen wollte, ziemlich heftig. Aber da beide Kleidungsstücke schlicht geschnitten waren, wirkte das Ensemble zusammen mit einer schwarzen Strumpfhose und den hohen, schwarzen Stiefeletten richtig edel und modern. Johanna war mit ihrem Erscheinungsbild mehr als zufrieden, als sie wenig später aus dem Haus trat. Moritz lehnte bereits an seinem Auto und spielte mit seinem Smartphone. „Na endlich!“, begrüßte er sie. „Beeil‘ dich, sonst kommen wir noch zu spät.“

      „Ich freu‘ mich auch dich zu sehen“, entgegnete Johanna und verdrehte die Augen. Das Risiko, zu spät zu kommen, lag nämlich eher darin begründet, dass Moritz darauf bestanden hatte, mit dem Auto zu fahren. Sie würden garantiert ewig im Verkehr feststecken, denn sie mussten einmal quer durch die Stadt. Johanna hatte deswegen ihren guten Freund den öffentlichen Nahverkehr vorgeschlagen, aber Moritz hatte nichts davon wissen wollen.

      „Ist der neu?“ Moritz deutete mit dem Kinn auf ihren Mantel und Johanna freute sich, dass es ihm aufgefallen war.

      „Ja!“ Sie machte eine Drehung auf dem Bürgersteig, sodass sich ihr Kleid zu einem Teller auffächerte. „Gefällt’s dir?“

      „Erinnert mich mit dem Kleid irgendwie an einen Nymphensittich“, erwiderte Moritz. Johanna wollte seinen gequälten Blick nicht bemerken und lachte, als wäre die Bemerkung ein Scherz gewesen.

      „Hast du schon mal einen blauen Nymphensittich gesehen?“, fragte sie ungewohnt frech und fügte hinzu: „Außerdem ist das modern…Color Blocking! Fahren wir?“ Im Auto lehnte sie sich entspannt zurück, während Moritz erwartungsgemäß schon an der zweiten Kreuzung mit hektischem Blick zur Uhr zu fluchen begann. Im Gegensatz zu ihm hatte sie es nicht sonderlich eilig anzukommen.

      Als sie - natürlich mit einer deutlichen Verspätung - auf der kiesbestreuten Einfahrt vor Moritz‘ Elternhaus hielten, unterdrückte sie ein Seufzen. Es war nicht so, dass sie die Eltern ihres Freundes nicht mochte. Auch seine ältere Schwester und ihr Mann waren durchaus nett. Johanna fehlte aber bei jedem Besuch die Vertrautheit und Herzlichkeit, die für sie das Zusammensein mit der Familie ausmachten. Bei den Ulrichs hatte es bestimmt noch nie einen verschlafenen Sohn mit ungekämmten Haaren beim Frühstück gegeben…

      Moritz öffnete die Haustür mit seinem Schlüssel und sie traten in einen großzügigen Vorflur, den man fast schon als Eingangshalle bezeichnen konnte. Er hielt Johanna an der Schulter zurück und wies zur Garderobe hinüber. „Lass‘ den Mantel doch lieber gleich hier!“ Sie kannte ihren Freund gut genug, um das übersetzen zu können: Ich möchte nicht, dass meine Eltern dich in dieser Aufmachung sehen! Am liebsten wäre Johanna sofort wieder gegangen, über den knirschenden Kies, zur nächsten Bushaltestelle und von dort aus auf direktem Weg nach Hause unter die Bettdecke. Aber das war natürlich keine Option. Also nickte sie und hängte den Stein des Anstoßes wortlos auf einen Bügel. Auf dem Weg ins Esszimmer (das Moritz‘ Mutter nur „Salon“ nannte) war sie sich dann